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Malte Woydt:
Hahn und Löwe im Streit
Eric Vanneufville über Flamen und Wallonen

...... Eric Vanneufville aus Lille in Französisch-Flandern hat eine Geschichte Belgiens geschrieben ("Le coq et le lion"), die sich völlig auf das Lieblingsthema belgischer Politiker konzentriert: Der Konflikt zwischen Flamen und Frankophonen.
...... Er holt weit aus. Nach der Römerzeit standen Norden und Osten des heutigen Belgien unter friesischem und angelsächsischen Einfluß und sprach germanische Dialekte, Süden und Westen unter fränkischem, sprich: sich rasch romanisierendem Einfluß. Die �Sprachgrenze" der Merowingerzeit befand sich allerdings viel weiter südlich als heute.
...... Später unterstanden Westen und Süden der französischen Krone, Norden und Osten dem Heiligen Römischen Reich. Das mußte die breite Bevölkerung aber noch nicht  weiter stören. In spanischer Zeit wurde das Land gleich mehrfach gespalten. Die unbarmherzige Inquisition unter Philipp II ließ keinen Platz für Protestanten und bewirkte die dauerhafte religiöse Spaltung, die Abspaltung der heutigen Niederlande.
...... Zur religiösen Spaltung kam die wirtschaftliche. Die Niederländer sperrten für Jahrhunderte die Scheldemündung und Antwerpen verkam zur Provinzstadt, just zu dem Moment als die Niederlande ihre goldene Periode hatten. Als wäre das nicht genug, verbot Österreich den Belgiern später ausdrücklich, in den Indienhandel einzusteigen.
...... Die Französisierung der Brüsseler Oberschicht ist teils eine Folge der Gegenreformation, teils der Ausstrahlung des französischen Hofes (wie überall sonst in Europa). Richelieu wollte die ganzen frankophonen Niederlande Frankreich einverleiben, er mußte es bei der Region um Lille belassen. In den napoleonischen Kriegen kämpften Belgier dann bereits auf beiden Seiten, die meisten Wallonen für Napoleon, die meisten Flamen für die Alliierten. Waterloo ist somit sehr wohl zwiespältig belegt.
...... Nur weil der Wiener Kongreß Belgien ins (protestantische) niederländische Königreich eingegliedert hatte, konnte sich der katholische Klerus für die Unabhängigkeitsbewegung des liberalen, antikirchlich eingestellten Bürgertums gewinnen lassen. Der neue Staat war komplett frankophon konzipiert, erst 1883 wurde zum ersten Mal eine Parlamentsrede auf niederländisch gehalten. Die rattachistische Bewegung, die für den Anschluß an Frankreich eintrat, hatte 1830 noch viele Anhänger gehabt, die sich aber zerstreuten, als sich zeigte, daß die Frankophonen den neuen Staat im Griff haben sollten.
...... Anfang des 20. Jahrhunderts konnte die junge flämische Bewegung auf den niederen Klerus und die katholische Partei bauen, die ihre Wählerbasis überwiegend in Flandern hatte. Währenddessen hielt der hohe Klerus am Französischen fest, schon um den elitären Charakter der höheren Schulen zu erhalten.
...... Mit der "Frontisten"-Bewegung von flämischen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, kam Bewegung in die Sache. Sie wollten sich nicht damit abfinden, daß viele von ihnen nur deshalb starben, weil sie die Befehle der ausnahmslos frankophonen Offiziere nicht verstanden. Diese Bewegung hatte zwei nachhaltige Wirkungen: Viele Frankophone assoziierten von da an Flämische Bewegung mit frontistischen Deserteuren, für viele Flamen hörte Belgien auf, Bezugspunkt ihrer nationalen Identität zu sein. Im Zweiten Weltkrieg wiederholte sich dieses Muster in weitaus schärferer Form, unter dem Einfluß der deutschen Versuche, sich die flämische Nationalbewegung zunutze zu machen.
...... 1947 gab es eine Sprachenvolkszählung, bei der sich viele Flamen aus Angst vor der Gleichsetzung von Flamen und Kollaborateuren als Frankophone deklariert haben. Diese Volkszählung wurde zu ihrem Pech dann zur Grundlage einer Grenzverschiebung. Einige flämische Kommunen wechselten zur Wallonie, einige Umlandgemeinden (so u.a. Woluwe-St.Lambert und Woluwe-St.Pierre) zu Brüssel.
...... Der nächste Lernschritt vollzog sich auf wallonischer Seite. In der großen Streikbewegung gegen Sparpläne der Regierung Eyskens, die 1960/61 am stärksten das wallonische Revier betrafen, mußten die wallonischen Gewerkschaften zusehen, wie ihre flämischen Kollegen den Schulterschluß der bürgerlichen Regierung suchten und die Nationalregierung flämische Mehrheitsinteressen vor die Probleme der Wallonie stellte. Das war der Ursprung der "Wallonischen Volksbewegung".
...... In den folgenden Verhandlungen zwischen Flamen und Frankophonen war zunächst ein großer "Faszilitäten-Ring" um Brüssel vorgesehen, er wurde dann auf einige wenige Gemeinden beschränkt. Insgesamt zeigte die Debatte um den Föderalisierungsschritt von 1962/63 daß die Flamen ohne großes Murren - zum letzten Mal - dem Verlust einiger Kommunen an die Wallonie zusahen, während sich der frankophone Widerstand gegen den Wechsel der Fourons an Flandern und die geographische Beschränkung der Faszilitäten nicht legen wollte.
...... In der Geschichte der Föderalisierung wollten die Flamen immer einen Föderalismus zu zweit, französische und flämische Gemeinschaft, die frankophonen Brüsseler einen zu dritt, Wallonie, Flandern und Brüssel, die Wallonen einzig mehr Autonomie für die Wallonie, der Rest war ihnen egal... Man machte dann alles gleichzeitig.
...... Als 1965 der wallonische Generalsekretär der Katholischen Universität Löwen Woitrin öffentlich verkündete, Löwen sei eines der drei akademischen Fundamente eines zukünftigen Groß-Brüssels, löste er damit einen Studierendenstreik in ganz Flandern aus. Zwei Monate später war entschieden, den frankophonen Teil der Universität in die Wallonie zu verlegen. In der Folge bildeten sich die beiden radikal frankophonen Parteien RW und FDF, und auf flämischer Seite zog man die Lehre, die in der Wallonie seit jeher geltende Einsprachigkeit nun auch in Flandern konsequent umzusetzen. Nicht nur Flamen, die in die Wallonie zogen, sollten Französisch lernen müssen, auch Frankophone in Flandern sollten Flämisch lernen.
...... 1970 war es dann soweit, daß die frankophonen Minderheitenrechte in der Verfassung verankert werden mußten, die Flamen bekamen im Gegenzug die Zusicherung, daß Brüssel nur mit "Spezialmehrheit" (2/3-Mehrheit und Mehrheit in beiden Sprachgruppen) um weitere Gemeinden vergrößert werden darf.
...... 1971 gab es einen "belgischen Kompromiß" zu Brüssel, des Inhalts, daß es niederländischsprachigen Vätern auch erlaubt sein solle, ihre Kinder in frankophone Schulen zu schicken, im Gegenzug die Umlandgemeinden zu fünf Großgemeinden zusammengefaßt wurden, in denen nach Möglichkeit Flamen in der Mehrheit blieben.
...... Heute ist Flandern deutlich reicher als die Wallonie (144% des EU-Durchschnitts-BSP gegenüber 91% (1996)), 75% der Flamen arbeiten im Dienstleistungssektor gegenüber nur 60% der Wallonen. Aber auch das flämische Modell hat seine Schwächen: Die wichtigsten flämischen Unternehmen werden aus dem Ausland gesteuert und die Arbeitskosten sind sehr hoch, es gibt bereits eine Abwanderung von Betrieben nach Nordfrankreich.
...... Der frühere Vlams-Blok-Sekretär Jaak Peeters hatte schon mal eine "Koalition der Minderheiten" anvisiert, Flamen und Marokkaner gemeinsam gegen die Frankophonen. Er ist dann schnell an seinen Kollegen gescheitert, die mit Marokkanern noch weniger zu tun haben wollen als mit Wallonen... Aber auch andere Flamen hatten ähnliche Ideen. Die Subventionen für flämische Kultur- und Sozialeinrichtungen in Brüssel sind aus politischen Gründen sehr hoch. Man möchte möglichst viele Brüsseler ins eigene Lager ziehen. Die FDF argwöhnte schon, hier werde eine Koalition aus Randgruppen zusammengekauft, Benachteiligte, Ausländer, junge Familien, arme Alte, Jugendliche, Gewaltopfer, Resozialisierungsfälle... Aber keine Angst, solche Strategien scheitern schon daran, daß den Flamen der großzügige Griff in die Geldbörse eher fremd ist, wie schon Louix XIV anmerkte...
...... Was passiert mit Brüssel im Falle der Aufteilung Belgiens? Die Brüsseler wollten diese Teilung nicht, wie sollten die Flamen, von denen 300.000 jeden Tag in die Stadt zur Arbeit fahren, aber hier nicht leben wollen, Brüssel erobern können? Vaneufville fordert von ihnen mehr Realismus, wie er vom FDF aber auch ein Ende expansionistischer Vorstellungen von Groß-Brüssel fordert.
...... Wie steht es mit dem "Rattachisme" - der Anschlußbewegung an Frankreich? An der Basis sieht der Autor in der Wallonie wachsenden Zuspruch zu dieser Idee, die politische Klasse wäre aber bestimmt nicht froh über die Unterordnung unter den französischen Zentralismus und Frankreich hätte an einer Einverleibung der armen Wallonie nur dann ein Interesse, wenn sie Brüssel einschließe... (Vielleicht könnte dann auch der Straßburg-Tourismus des Europaparlamentes aufhören...?).
...... Der französische Einschlag kommt zum Ende des Buches immer stärker zu tragen. Für die Flamen sei es höchste Zeit, über einen Anschluß an die Niederlande nachzudenken, nur dort fänden sie den nötigen Rückhalt, um sich der Anglisierung von Welt und EU zur Wehr zu setzen. Den Wallonen biete Paris dagegen genug Schutz. Die Brüsseler klammerten sich daran, daß die Flamen sie nie freigeben würden und es deshalb nie zur Trennung kommen könnte. Aber wer sagt denn, daß den Flamen diese in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung stetig abnehmende Stadt auf Dauer wichtig ist? Auf jeden Fall sei es für die Wallonen viel einfacher, rational mit den Flamen über eine Trennung zu verhandeln, wenn die Brüsseler Frankophonie nicht mit am Tisch sitzt.
...... Das Buch ist flüssig lesbar, konzentriert sich schön auf das Wesentliche, der Autor schließt sich in der Beurteilung verschiedener historischer Begebnisse mal der flämischen, mal der frankophonen Argumentation an. Sein Ausblick auf die zukünftige Entwicklung, der stark von französischen Ideen geprägt ist, erscheint allerdings seltsam lückenhaft. Zum Verständnis der historischen Ursprünge des heutigen Konfliktes trägt das Buch hervorragend bei, die Zukunftsperspektiven sind aber doch etwas komplexer und vielfältiger, als in dem Werk behauptet.

...... Eric Vanneufville: Le coq et le lion, la Belgique à la croisée des chemins.. Paris: France-Empire 1998.
...... Brüssel-Rundschau, ??.??.98
...... (c) Malte Woydt & Brüssel-Rundschau 1998

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