MALTE WOYDT

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Resozismus

“Es war nicht die westeuropäische oder die nordamerikanische Arbeiterklasse, die nach der Macht gegriffen hat; es waren winzige Kaderparteien in rückständigen Gesellschaften, die durch Putsch und Bürgerkrieg ans Ruder kamen, und die sich behaupten konnten, weil sie es verstanden, die Masse der Bauern für sich zu gewinnen, weil sie als Organisatoren nationaler Befreiungskämpfe auftraten, oder weil sie von einer starken Besatzungsmacht militärisch gestützt wurden. Der ‘siegreiche Sozialismus‘ wäre mithin ein direktes oder indirektes Produkt der Unterentwicklung. …

Fünfundsechzig Jahre nach der Oktoberrevolution hat eine solche Deutung viel von ihrer Plausibilität verloren, und es scheint mir an der Zeit, eine andere, und zwar die umgekehrte Hypothese zu prüfen: Vielleicht ist es nicht nur so, daß unterentwickelte Gesellschaften sozialistische Regimes hervorbringen; vielleicht bringen umgekehrt sozialistische Regimes unterentwickelte Gesellschaftsformen hervor. … Meine Hypothese lautet: Der Reale Sozialismus ist das höchste Stadium der Unterentwicklung. …

1. Der Resozismus hat sich nicht die Unterentwiklung schlechthin zum Ziel gesetzt; er strebt vielmehr an, sie zu ihrer höchsten Blüte zu bringen. Die Menschen sollen nicht, wie in Mali oder Bangla Desh, verhungern. Alle sollen ernährt, aber schlecht ernährt; erzogen, aber schlecht erzogen; behaust, aber schlecht behaust werden. … Der Mehrwert, der über diese Grenze hinaus erwirtschaftet werden kann, fließt entweder in die Taschen der privilegierten Klasse (‘Nomenklatura’), oder er kommt der äußeren und inneren Rüstung zugute, die als einziger Sektor jedem Vergleich mit ihrem Widerpart in den kapitalistischen Ländern standhalten kann.

2. Wer ein Land unterentwickeln will, muß die alte, vorindustrielle Gesellschaftsform, die er vorfindet zertrümmern und ausschlachten. Von ihrem ‘rückständigen’ Momenten wird er sich dabei alles aneignen, was den Übergang von der alten zur neuen Misere begünstigt. Zum Fundus des Schlechten Alten gehören besonders die einheimischen Formen der Unterdrückung. Deshalb greift der Resozismus, ebenso wie das klassische Kolonialsystem, wo immer er kann, auf traditionelle Herrschaftsmethoden zurück: auf den Zarismus in Rußland, auf das preußische Erbe in der DDR, auf das Caudillo- und Kazikenregime in Lateinamerika und auf die asiatische Despotie im Fernen Osten.

3. Im klassischen Imperialismus herrschte die einfache Logik der Ausbeutung: je elender es den Kolonien ging, desto reicher wurden die Metropolen. … Dagegen kann das resozistische Lager auf keine blühende Metropole außerhalb seiner Grenzen verweisen, Die Sowjetunion erzeugt und reproduziert ihre Unterentwicklung selbst, gewissermaßen aus eigener Kraft …

4. Wo der Resozismus bei seinem ‘Sieg’ bereits eine entwickelte Industriegesellschaft vorfindet, ergeben sich endlose Scherereien … das System kann nur durch einen Putsch oder durch militärische Macht oktroyiert werden. Aber auch, wo das gelungen ist, steht die eigentliche Aufgabe den Siegern erst bevor: die forcierte Rückentwicklung auf das sowjetische Niveau. …

Theorien der Unterentwicklung gibt es viele. fast alle suchen die ihre Begründung in materiellen Tatsachen, in der Analyse wirtschaftlicher Prozesse. Nun zeichnen sich resozistische Regimes zwar durch einen hohen Theoriebedarf aus; sie lehnen es aber ab, irgendeine dieser Theorien auf sich selber anzuwenden. … Am allerwenigsten dazu geeignet scheint ihnen zu diesem Zweck ihre eigene Theorie, die sich dialektischer Materialismus nennt. … Unter diesen Umständen erhebt sich natürlich die Frage, wer oder was für ihre Pleiten haftbar zu machen ist. Die Antwort steht seit einem guten halben Jahrhundert fest. Schuld ist a) der Feind, b) die Vergangenheit und c) die Fehlbarkeit des Menschen

Der Resozismus als höchstes Stadium der Unterentwicklung hat heroische Anstrengungen gemacht, um das Gefühl zu verdrängen, daß er den unterworfenen Völkern nur Unglück brachte. … In seiner Selbstdarstellung hat er das Potemkische Dorf zum Prinzip erhoben. … Die Unterentwicklung gebiert den Wahn. Der Resozismus erhebt ihn zum System. … massenhafte Vernichtung menschlicher Wünsche, menschlicher Phantasie, menschlicher Produktivität: wer Unterentwicklung durch Gewalt für einen Ausweg hält, der sucht sein Heil im Wahn.”

aus: Hans Magnus Enzensberger: Das höchste Stadium der Unterentwicklung. In: ders.: Politische Brosamen, Frankfurt (Main: Suhrkamp: 1985, S.53-73.

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26/03/2010 (13:08) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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