Malte Woydt
Streitbare Demokratie zwischen Legitimität und Legalität
2. Soziale Normen
3. Legitimität
4. Legalität
5. Konflikte zwischen Legitimität und Legalität
6. Demokratie
7. Der demokratische Gesetzgebungsstaat
8. Die Bundesrepublik Deutschland
9. "Streitbare Demokratie"
10. Staatsschutz im Rechtsstaat
11. Staatsschutz in der Demokratie
Nun durchdenkt der Mensch nicht in jedem Moment jede mögliche Verhaltensalternative bis in ihre letzte Folge. Zur Entscheidung zieht er Verhaltensregeln heran, von denen er annimmt, daß sie die Zielerreichung gewährleisten.
Das Zusammenleben in einer Gruppe von Menschen kann nur von Dauer sein, wenn individuelles Verhalten nicht kollektive Ziele gefährdet. Da es auch der Gruppe unmöglich ist, jede Handlung auf ihre Folgen für die Zielerreichung hin zu untersuchen, werden soziale Normen aufgestellt, Verhaltensregeln, deren Nichtbeachtung von der Gruppe geahndet wird.
Daneben gibt es auch Verhaltensregeln, die zwar von einer überwiegenden Zahl der Gruppenmitglieder anerkannt werden, deren Einhaltung aber freiwillig und ohne jede äußere Sanktion geschieht: Sitten und Bräuche sind keine Normen.
Normen müssen nicht objektiv der Zielerreichung dienen. Sie stellen nur das dar, was Menschen für nötig halten. Wenn sich - z.B. beim Übergang einer Gesellschaft von der Diktatur zur Demokratie - auch die Ziele der Gruppe ändern, bleiben doch alte Normen weiterbestehen, da ihre Gebundenheit an überholte Ziele nicht bewußt wird, oder auch der Wandel nicht von allen Mitgliedern gutgeheißen wird.
Legitimität und Legalität sind Kriterien,
die dazu dienen, Handeln nach seiner Übereinstimmung mit sozialen Normen
zu bewerten.
Nur unter Bezugnahme auf eine soziale Gemeinschaft machen Legitimitätsvorstellungen Sinn; alleine auf der Welt müßte man sein Handeln vor niemanden rechtfertigen. Legitim soll sein, was auf die Ziele der Gemeinschaft hinwirkt. Handeln, das mit den sozialen Normen übereinstimmt, gilt darum als legitim, anderes als illegitim.
Da jeder Mensch eigene Vorstellungen von den geltenden Normen haben kann, hat er auch seine eigene Vorstellung von Legitimität. Er kann deshalb auch dann durch sein Handeln mit den Legitimitäts-vorstellungen von Personen in seiner Umgebung (bewußt oder unbewußt) in Konflikt geraten, wenn er es als legitim ansieht.
Uns interessiert hier politische Legitimität, also Legitimitätsvorstellungen, die zur Bewertung von politischem Handeln und politischen Institutionen herangezogen werden. In der Literatur finden sich hierzu zwei verschiedene Begriffe von Legitimität:
1) Argumentiert jemand normativ, so erklärt er seine eigenen Wertvorstellungen für absolut, für ihn ist alles legitim, was mit seinen Werten übereinstimmt.
2) Die empirisch orientierte Politische Soziologie benutzt Legitimität als relativen Begriff. Eine höhere Legitimität hat demnach, was von einer größeren Anzahl von Bürgern als legitim erachtet wird.
Der zweite Begriff läßt sich aus
dem ersten ableiten, wenn er sich auch heute verselbstständigt zu haben
scheint. Ulrich Matz z.B. sieht keinen Zusammenhang zwischen den beiden Begriffen.
Die Vorstellung von einem Souverän, einem legitimen Herrscher, ist ein Beispiel für einen normativen Legitimitätsbegriff. Hier wird ein Wert für absolut gültig befunden: "XY ist berechtigt, seine Vorstellungen durchzusetzen." Das Gottesgnadentum absolutistischer Souveräne ist Ausfluß einer derartigen Legitimitätsvorstellung.
Der empirische Legitimitätsbegriff resultiert aus dem Konzept der Volkssouveränität. Souverän ist hier das Volk, es ist berechtigt, seine Legitimitätsvorstellungen durchzusetzen. Sieht man den volonté generale, den einheitlichen Volkswillen, nicht als existent an, erachtet man als legitim, was von einer qualifizierten Mehrheit des Volkes für legitim angesehen wird. Aus dieser Sicht argumentieren die Empiriker durchaus normativ, empirisch ist nur noch die Methode, festzustellen, was das Volk will.
Wie hier bereits angedeutet, liegt der Kern
jedes Legitimitätsbegriffes in der Bestimmung einer Instanz (hier des Souveräns),
die berechtigt sein soll, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Diese Instanz nenne
ich im folgenden Legitimitätsquelle, da sie Ursprung, Quell jeder Legitimität
sein soll.
Heute geschieht die Festlegung von Normen meist schriftlich. Einem Verein dienen hierzu Satzung und Beschlüsse seiner Gremien, den christlichen Kirchen das Kirchenrecht. Im Gesetzgebungsstaat erfüllen Verfassung und Gesetze diese Funktion.
Derartige für eine längere Dauer bestimmte fixierte Normen bringen Rechtssicherheit für den Einzelnen. Er soll nicht für Handlungen verfolgt werden, deren Unrechtmäßigkeit ihm nicht bekannt sein konnte.
Nach Carl Schmitt ist ein Gesetzgebungsstaat
"ein von unpersönlichen, daher generellen, und vorbestimmten, daher für
die Dauer gedachten Normierungen meß- und bestimmbaren Inhalts beherrschtes
Staatswesen..."
Diese Normierungen werden Gesetze genannt.
Das durch Verfassung und Gesetze beschriebene Bewertungskonzept des Gesetzgebungsstaates heißt Legalität. Handlungen, die den Gesetzen widersprechen, gelten als illegal, alle anderen als legal. Der Staat ahndet nicht alle von irgendwem für illegitim gehaltene Handlungen, sondern nur gesetzlich bestimmte illegale Handlungen (Rechtsstaatsprinzip). Legalität ist somit - dem Anspruch nach - justiziabel gemachte Legitimität.
Mit Carl Schmitt: "Legalität hat hier [im
Gesetzgebungsstaat] gerade den Sinn und die Aufgabe, sowohl die Legitimität
(des Monarchen wie des plebiszitären Volkswillens) als auch jede auf sich
selbst beruhende oder höhere Autorität und Obrigkeit überflüssig
zu machen."
Schon Carl Schmitt deutete an, daß diese
Sichtweise nicht unwidersprochen blieb: "Der Sprachgebrauch ist allerdings heute
schon so weit, daß er das Legale als etwas "nur Formales" und das in der
Sache Legitime als Gegensätze empfindet."
Gegensätze müssen sie nicht sein, zu unterschiedlichen Bewertungen können Legitimität und Legalität aus zwei Gründen aber sehr wohl führen:
1) Fehlende Identität von Gesetzgeber und Legitimitätsquelle. Bsp.: Im Sinne der Volkssouveränität stehen die Vorstellungen des Volkes für "Legitimität", dennoch entscheidet ein Parlament durch Gesetzgebung über "Legalität". Wird ein derartiger Konflikt für unerträglich empfunden, wird der Ruf nach Verfassungsrevision oder Revolution laut.
2) Fehlende Jeweiligkeit:
Gesetze spiegeln die Legitimitätsvorstellungen der Zeiten wider, in denen
sie beschlossen wurden. Da sie längerfristige Rechtssicherheit gewähren
sollen, können sie an sich ändernde jeweilige Legitimitätsvorstellungen
nicht automatisch angepaßt werden. Es kann also geschehen, daß ein
altes Gesetz Handlungen für illegal erklärt, die inzwischen für
legitim gehalten werden, oder umgekehrt. Wird dieser Konflikt unerträglich,
besteht Gesetzgebungsbedarf.
Betrachtet man die z.T. völlig unterschiedlichen Ansätze, "Demokratie" zu definieren, findet sich eine verblüffende Gemeinsamkeit: Für viele erscheint "Demokratie" als Inbegriff der legitimen Ordnung.
Demokratie und Legitimität sind offenbar deutlich enger miteinander verbunden, als Spekulationen über Legitimität im Absolutismus ahnen lassen.
Unterschiedliche Demokratievorstellungen teilen sich wie von selbst an der Linie, wo unterschiedliche Legitimitätsvorstellungen sich scheiden:
1) Nach normativer Auffassung ist Demokratie gleichbedeutend mit einem Wertekanon. Eine Ordnung, ein Staat erscheint als "demokratisch", wenn in ihm diese Werte verwirklicht sind.
2) Es macht wenig Sinn, von einem "empirischen
Demokratiebegriff" zu reden,
da Empirie eine wissenschaftliche Methode ist. Dem "empirischen" Legitimitätsbegriff
an die Seite zu stellen wäre ein "funktionaler" Demokratiebegriff. Eine
Ordnung erscheint dann als demokratisch, wenn die Entscheidungsprozesse bestimmten
Regeln folgen, unabhängig von den beschlossenen Inhalten.
Analog zu oben läßt sich auch hier
wieder eine Brücke zwischen den beiden Begriffen schlagen, nimmt man als
einzigen zu verwirklichenden Wert nach Demokratiedefinition 1) die Volkssouveränität,
die Selbstbestimmung des Volkes, hat man eine Organisationsform, die auch nach
Kriterium 2) demokratisch ist.
Eine demokratische Organisation nach der normativen Definition verwirklicht bestimmte "demokratische" Werte, eine demokratische Organisation im Sinne der funktionalistischen Definition beachtet sie bestimmte "demokratische" Verfahren.
Eine demokratische Organisation im Sinne der Volkssouveränität verwirklicht den Willen ihrer Mitglieder. Diese ermittelt sie mit festgelegten Verfahren.
Die Idee von einer "freiheitlichen demokratischen
Grundordnung", deren Elemente den Verfahren zur Willensermittlung entzogen sind,
ist typisch für ein normatives Demokratieverständnis. Hier ist eben
nicht die Volkssouveränität der höchste oder gar einzige Wert.
Zu der Feststellung des Grundgesetzes, "Alle
Staatsgewalt geht vom Volke aus.",
wonach das Volk Quelle der Legitimität ist (mithin von der Volkssouveränität
ausgegangen wird), sind mehrere Einschränkungen zu machen:
1) Das Volk kann seine Legitimitätsvorstellungen
schon nach dem Grundgesetz nur sehr mittelbar zur Geltung bringen: "Sie [die
Staatsgewalt] wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere
Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt."
2) Steht hinter den staatlichen Organen in der
Praxis tatsächlich "das Volk"? In Worten von Narr/Offe: "Ein Erklärungsmodell,
das ... politische Herrschaft jedenfalls mittelbar auf den Volkswillen zurückführt,
ist ideologisch ..., weil es die restriktiven und selektiven Mechanismen, die
dem politischen Institutionensystem selbst anhaften, systematisch außer
acht läßt."
3) Beschränken wir uns in diesem Sinne auf die Feststellung, daß die Legitimitätsvorstellungen der Bundestagsabgeordneten entscheidend für die Gewinnung von Legalität sind.
4) Man ist allerdings gezwungen, die Bundestagsmehrheit
als Gesamtheit zu betrachten. Die dem Bundestag vorliegenden Gesetzesentwürfe
sind zu zahlreich und zu kompliziert, als daß sich die einzelnen Abgeordneten
bei jeder Abstimmung an ihren eigenen Legitimitätsvorstellungen ausrichten
könnten.
Die Formulierung der Gesetze liegt in den Händen weniger Abgeordneter,
der Regierung und ihrer Ministerialbürokratie.
Allerdings kann selbst die Bundestagsmehrheit Legalität nicht uneingeschränkt definieren:
1) Bestimmte Gesetze bedürfen der Zustimmung des Bundesrates, hier beansprucht das Veto des Bundesrates eine höhere Legitimität als ein Beschluß des Bundestages.
2) Verfassungsartikel beanspruchen eine höhere Legitimität als von der einfachen Mehrheit der Parlamentarier ausgeht, sie können nur mit Zweidrittelmehrheit geändert werden, ihre Einhaltung wird vom Bundesverfassungsgericht überwacht.
3) Die mit der Ewigkeitsgarantie versehenen Artikel der Verfassung sollen den Wesenskern der freiheitlich-demokratischen Grundordnung beschreiben. Sie beanspruchen eine höhere Legitimität als die Vorstellungen eines beliebig großen Teils des Volkes oder des Bundestages. Auch hier hat in der Praxis das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort (und die Interpretationsmacht).
Die Verfassung definiert als von Menschen niedergelegtes
Normensystem genauso Legalität wie Gesetze. Ulrich K. Preuß schreibt
daher in Anlehnung an Otto Kirchheimer und Carl Schmitt von "zweistufiger Legalität",
der "Legalität" durch den Gesetzgeber sei die "Superlegalität" durch
die Verfassung übergeordnet. Diese "Superlegalität" wird dann von
Carl Schmitt wieder als Legitimität bezeichnet. Ich halte diese Begriffswahl
für irreführend und differenziere stattdessen weiter zwischen verschiedenen
Legitimitätsquellen.
In der Bundesrepublik stehen also verschiedene
Legitimitätsquellen neben- bzw. übereinander (womit sie vom klassischen
Modell einer liberalen bürgerlichen Demokratie abweicht). Das dem Grundgesetz
zugrundeliegende Demokratieverständnis ist normativ. Die Volkssouveränität
wird zum untergeordneten Wert unter anderen. Solange das "Volk" bzw. seine "Vertreter"
den durch diese Normen gesetzten Rahmen nicht verletzen, darf es "souverän"
Gesetzgebung betreiben. Um die herausgehobenen Stellung der Legitimitätsquelle
Verfassung zu betonen, spricht man vom demokratischen Verfassungsstaat BRD.
Der Kerngedanke der "militanten" oder "streitbaren" Demokratie besteht darin, daß demokratische Mittel nicht dazu angewandt werden dürften, die Demokratie abzuschaffen. Wobei "Demokratie" hier für "demokratischen Staat" steht.
Funktionalistisch ausgedrückt: Es soll verhindert werden, daß einmal für legitim gehalten wird, für die Zukunft die Umwandlung dann herrschender Legitimitätsvorstellungen in Legalität nicht mehr zu garantieren. Das Ermächtigungsgesetz vom März 1933 ist ein solches Beispiel.
Bei anderen demokratischen Organisationen als dem Staat werden die Funktionen der Streitbaren Demokratie von außen wahrgenommen. So durch das Vereinsgesetz und das Parteiengesetz. Vorstellungen von der UNO als "Weltpolizei" lassen eine ähnliche Idee für Staaten anklingen.
Die durch die Ewigkeitsklausel garantierten Bestimmugen der Verfassung sollen garantieren, daß die jeweiligen Legitimitätsvorstellungen in Legalität umgewandelt werden können. Die Ewigkeitsklausel und mit ihr die Streitbare Demokratie ist demnach ein Versuch, Konflikte zwischen Legalität und Legitimität, die durch fehlende "Jeweiligkeit" entstehen, nicht unerträglich anwachsen zu lassen, eben zu garantieren, daß sie durch Demokratie einander angenähert werden.
Backes/Jesse gehen bei ihrer Definition der
Streitbaren Demokratie
von einer normativen Demokratievorstellung aus. Streitbare Demokratie besteht
für sie auf drei Prinzipien (hier umgebrochen auf das behandelte Begriffspaar):
1) Wertgebundenheit: Die Werte der "freiheitlich demokratischen Grundordnung" sollen durch die Gesetzgebungsorgane nicht abgeschafft werden dürfen. Sie dürfen also u.a. keine Gesetze verabschieden, die für die Zukunft die Umwandlung von dann "jeweiliger" Legitimität in Legalität verhindern.
2) Abwehrbereitschaft: Der Anspruch der "FDGO" auf höchste Legitimität muß auch durchgesetzt werden.
3) Vorverlagerung: Es soll nicht gewartet werden, bis jemand es unternimmt, die "FDGO" anzugreifen, da dann vermutlich keiner mehr die Macht hat, es zu verhindern. Vorsorglich werden Ziele und Gesinnungen, die (noch?) nicht zu illegalem Handeln führ(t)en, als illegitim betrachtet.
Zunächst einmal fällt auf, daß diese Prinzipien nichts originär demokratisches an sich haben. Die "freiheitliche demokratische Grundordnung" läßt sich problemlos durch andere Begriffe, wie z.B. den "absolutistischen Staat", ersetzen. Definiert ist hier nichts mehr und nichts weniger als klassischer Staatsschutz. Bismarck hat auch nichts anderes gemacht.
Interessant ist hierbei, daß eben dieser "klassische Staatsschutz" auf einen demokratischen Staat aus zwei Gründen eigentlich nicht passen mag:
1) Die "Vorverlagerung" scheint dem Rechtsstaatsprinzip Hohn zu sprechen, nach dem nur eine begangene Tat bestraft werden kann (auch "Versuch" und "Vorbereitung" sind "Taten", die Vorverlagerung liegt noch weiter "vorne").
2) "Klassischer Staatsschutz" scheint grundsätzlichen Demokratievorstellungen zu widersprechen. In der Demokratie sollte der Staat doch Ausdruck des Bürgerwillens sein; wie sollte er dann durch seine Bürger gefährdet sein können?
Diese beiden Punkte diskutiere ich in den folgenden beiden Abschnitten. Hier soll noch kurz auf die Mittel der Streitbaren Demokratie eingegangen werden.
Die Streitbare Demokratie richtet sich nicht gegen gewaltsame Umstürze von innen oder außen, es geht darum, daß die staatlichen Institutionen nicht gegen den Staat eingesetzt werden können sollen.
Nicht zur Streitbaren Demokratie im engeren Sinne gehören folgende institutionellen Schutzmechanismen: Gewaltenteilung soll verhindern, daß eine der Gewalten alle Macht an sich reißt. Das konstruktive Mißtrauensvotum soll die Blockade des politischen Systems durch negative Mehrheiten verhindern.
Die institutionalisierte Streitbare Demokratie der Bundesrepublik beeinflußt die Beamtenauswahl ("Radikalenerlaß"), und betreibt eine Vorauswahl unter den zur Wahl in die Parlamente stehenden Parteien und Kandidaten (Parteiverbote, Entzug der Bürgerrechte).
Deutlich größeren Raum nimmt die Behinderung von Einzelpersonen und Vereinigungen bestimmter politischer Richtungen, deren Ziele als mit der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" unvereinbar angesehen werden, in ihrem Einfluß auf die öffentliche Meinungsbildung behindert (Beobachtung und Stigmatisierung durch den Verfassungschutz; Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung).
Interessant ist hierbei, daß die Definition
der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" durch das Bundesverfassungsgericht
nicht deckungsgleich ist mit den durch die Ewigkeitsklausel geschützten
Artikeln des Grundgesetzes, was an dieser Stelle jedoch nicht näher behandelt
werden soll.
Wenn Jesse also als Kennzeichen der streitbaren
Demokratie anführt, hier gälten "bereits Vorgehensweisen als illegitim,
die sich innerhalb der Legalität" vollzögen,
ist das nicht ganz richtig.
Die Verfassung definiert mit ihren Regelungen z.B. zu Parteiverboten Legalität. Solange der Staat sich - wie in den Fünfziger Jahren - bei der Verfolgung staatsfeindlicher Bestrebungen strikt an den Text des Grundgesetzes zu halten wähnte (Legalitätsprinzip), trat der geschilderte Konflikt zwischen Legitimität und Legalität nicht auf.
Erst der Einzug pragmatischer Gesichtspunkte, nämlich die Zurückstellung der Strafverfolgung, wo staatsfeindliche Haltungen nicht sicherheitsrelevant erschienen (Opportunitätsprinzip), führte zu dem geschilderten Konflikt. Seit Ende der sechziger Jahre wird zumeist auf gerichtliche oder administrative Abwehrmaßnahmen zugunsten einer öffentlichen Stigmatisierung durch den Verfassungsschutz verzichtet. Die Beobachtung durch den Verfassungschutz hatte ursprünglich das Ziel, gerichtsverwertbare Informationen zusammenzutragen, die dann in Verfahren münden sollten. Heute ist die Publikation von Ergebnissen der Informationssammlung das Ziel. Nur in Fällen, wo von verfassungsfeindlichen Bestrebungen eine akute Gefährdung ausgeht, soll zum Organisationsverbot geschritten werden.
Der Verfassungsschutz operiert auf der Grundlage des Verfassungsschutzgesetzes. Dieses ermächtigt ihn, Organisationen und Personen zu beobachten, die im Verdacht stehen, in Programmatik oder Handlungsweise gegen die "freiheitliche demokratische Grundordnung" zu operieren. Da diese Beobachtung mit nachrichtendienstlichen Mitteln durchgeführt wird und ihre Ergebnisse Einfluß auf die Einstellung im Öffentlichen Dienst haben können, stellt sie eine Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte der Beobachteten dar.
Gegen diese Behördenhandlung kann der Betroffene nicht wie gewöhnlich Klage erheben. Der "Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen" ist nicht beweisbar. Auch eine Klage gegen die Nennung im Verfassungsschutzbericht ist nicht zulässig. Der Betroffene würde dadurch quasi gegen sich selbst ein Verfahren im Sinne des "Legalitätsprinzips" einleiten. Zur Legalität gehört die gerichtliche Überprüfbarkeit. Insofern stellt die aktuelle Praxis der Streitbaren Demokratie einen Bruch des Rechtsstaatsprinzips dar, wenn auch abgemildert durch die teilweise Kontrolle des Verfassungsschutzes durch die Parlamentarische Kontrollkommission.
Wo oben mögliche Konflikte zwischen Legitimität und Legalität aufgezeigt wurden, wurde davon ausgegangen, daß das Rechtsstaatsprinzip eingehalten werde. Betrachtet wurde nur die Gesetzgebung. Die streitbare Demokratie in ihrer aktuellen Form produziert einen neuen Konflikt, da hier, wo der Staat auf vorhandene Legalitätssetzungen aus pragmatischen Gründen nicht zurückgreifen mag, Legitimitätsvorstellungen für staatliches Handeln herhalten müssen: "Vorgehensweisen, die sich innerhalb der Legalität vollziehen, firmieren als illegitim".
Die sich hier stellende Frage, ob eine derartige
Aufweichung des Legalitätsprinzips gerechtfertigt ist, und ob nicht der
Opportunitäts-Maßstab "akute Gefährdung" schon für den
Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel gelten sollte, kann an dieser Stelle
nicht diskutiert werden.
Was geschieht aber mit einem Staat, der auf einer derartigen Demokratiekonzeption aufbaut, wenn handlungsfähige Teile der Bevölkerung diese Legitimitätsgrundlage nicht anerkennen? In der Sprache der Politischen Soziologie verliert ein solcher Staat an Legitimität. Ein Staat, der als höchste Legitimitätsquelle den Volkswillen ansieht, könnte sein System verändern (V. französische Republik), ein Staat, der die inkriminierten Institutionen als unveränderliche Werte festgeschrieben hat, kann dies nicht.
Seit zwanzig Jahren wird ein Phänomen diskutiert, das "Politikverdrossenheit" oder auch "Legitimitätskrise" genannt wird. Ihm liegt der empirische Legitimitätsbegriff zugunde, den ich in diesem Abschnitt durchgängig benutze. Da die BürgerInnen dem politischen System der Bundesrepublik zunehmend kritisch gegenüberstünden, verlören die politischen Institutionen an Legitimität. Symptome der Legitimitätskrise seien hohe Wahlenthaltung, eine geringe Überzeugung, daß das politische System die eigenen Erwartungen erfüllen werde, große Zustimmung für systemfeindliche Positionen und Organisationen.
Hier greift die Streitbare Demokratie ein. Die etablierten politischen Kräfte bekämpfen im Namen der Streitbaren Demokratie die Symptome der Legitimitätskrise. Sie verfolgen Ziele als "illegitim", die von einem großen Teil der Bevölkerung als legitim angesehen werden. Und das, wo doch diese Haltung der Bevölkerung Folge der geringen Legitimität gerade der handelnden politischen Kräfte ist.
Mittels "Streitbarer Demokratie" wird versucht, durch Stigmatisierung die Legitimität extremistischer Kräften niedriger zu halten, als die der etablierten Kräfte. Vermutlich ist aber gerade diese Praxis Ursache für wachsende Wahlenthaltung.
Ziel jeden Staatsschutzes muß die Stabilität
der politischen Ordnung sein. James D. Wright meint, daß nicht das Maß
aktiver Zuwendung, sondern das aktiver Abwendung von Bedeutung für die
Stabilität sei.
Dem ist entgegenzuhalten, daß die von ihm gepriesene Indifferenz auch
ein Zwischenstadium zur aktiven Abwendung sein kann.
Nichtwählerstimmen können vor allem Parteien gewinnen, die entweder zu jung sind, um schon diskreditiert zu sein, oder bei denen die Stigmatisierungsversuche der etablierten Institutionen nicht mehr ziehen, weil sie Angst vor Konkurrenz zu entspringen scheinen. Die "Partei der Nichtwähler" ist heute mancherorts bereits mehrheitsfähig. Gelänge es einer politischen Partei, die wegen wenig aussagekräftiger Programmatik oder aufgrund des Opportunitätsprinzips vor der Wahl nicht verboten war, überraschend Mehrheiten zu mobilisieren, hätte die Streitbare Demokratie versagt; als Rettungsnetz für die Grundordnung bliebe nur die Gewaltenteilung.
Eine gewählte Partei nachträglich für verfassungswidrig zu erklären, mag keine Akzeptanzprobleme in der Bevölkerung zur Folge haben, wenn sie klein ist (wie es die KPD war). Der Schaden, der jedoch (nach algerischem Vorbild) durch die De-facto-Annullierung eines Wahlergebnisses aufgrund hoher Stimmanteile einer verfassungsfeindlichen Partei für die Legitimität des herkömmlichen politischen Systems entstünde, wäre unermeßlich.
In Worten von Bettina Westle: "In der Demokratie
(auch in der sog. 'wehrhaften') besteht diese Möglichkeit [zu ihrer Aufrechterhaltung
Zwang anzuwenden] nur in äußerst geringem Maß. Vielmehr hat
sich die Demokratie normativ und institutionell in unmittelbare Abhängigkeit
von der freiwilligen Zustimmung der Beherrschten begeben."
Ich möchte daher Karl Jaspers zustimmen,
wenn er 1965 meinte: "Daß 1933 kam, so war die herrschende Meinung, lag
an den Institutionen. ... Das Grundgesetz hat daher Mängel ... durch den
Sicherheitswillen, der durch Gesetze verhindern möchte, was in der Politik
im Entscheidenden nur Menschen verhindern können."
Selbst Rudolf Wassermann sieht die Mittel der
Streitbaren Demokratie nicht für ausreichend an, wenn er schreibt: "Rechtliche
Vorkehrungen und institutioneller Verfassungsschutz sind notwendig. Entscheidend
aber ist die Schaffung eines festen demokratischen Verfassungsbewußtseins."
Ist letzteres nicht vorhanden, erscheint "Demokratie" als inhaltsleere Ideologie zur Legitimierung einer Herrschaftsform, Streitbare Demokratie als Ideologie zur Legitimierung der Repressionen, die Staatsorganen zu ihrer Selbsterhaltung notwendig erscheint.
Die institutionalisierte Streitbare Demokratie ist nicht geeignet, um Krisensituationen zu meistern. Der Verfassungsschutz kann vielleicht manche Menschen davon abhalten, aus Unkenntnis verfassungsfeindliche Parteien zu wählen, wo aber die Legitimität verfassungsfeindlicher Positionen hoch oder die Glaubwürdigkeit des Verfassungsschutzes niedrig ist, hilft er nicht.
Die etablierten politischen Kräfte dürfen
sich - wenn die Warnungen vor einer Legitimitätskrise zutreffen - nicht
auf die Streitbare Demokratie verlassen, sie müssen das Vertrauen der Bürger
zurückzugewinnen trachten, mithin ihre eigene Legitimität wieder zu
erhöhen suchen. In den Gründungsjahren der Bundesrepublik garantierten
die Besatzungsmächte, daß die niedrige Legitimität des politischen
Systems keine negativen Auswirkungen hatten. Die Legitimität stieg mit
wachsendem Wohlstand.
Die Frage stellt sich, ob sie nicht in Deutschland zu stark an diesen gebunden
ist, insbesondere vor dem Hintergrund des schleichenden "Aufschwung Ost".
Problematisch wird dies dann, wenn große
Teile des Volkes die Legitimität dieser Werte nicht mehr anerkennen. Ziel
der Streitbaren Demokratie müßte die Stabilität der Demokratie
sein. Wenn die nach ihren Maximen zu verfolgende Gruppe zu groß wird,
stellt sich irgendwann nicht mehr die Rechts- sondern nur noch die Machtfrage.
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