MALTE WOYDT

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013) Geschichte?

Wozu Geschichte?

05/01/1999 (22:38) Schlagworte: DE,Fragen ::

5 Responses to “013) Geschichte?”

  1. malte Says:

    Es bieten sich verschiedene Herangehensweisen an:

    * Empirisch: Jeder argumentiert historisch. Schauen wir uns doch einmal einige Beispiele genauer an. Was wollen die Menschen mit Geschichte?
    * Sprachgenetisch: Das Wort “Geschichte” an sich ist noch gar nicht so alt. Aus welchen Gründen wurde es geprägt?
    * Moralisch: Wozu sollte Geschichte dienen?

  2. malte Says:

    Was wollen die Menschen mit Geschichte?

    Viele Menschen argumentieren historisch, auch wenn sie sich dessen vielleicht gar nicht bewußt sind.

    * Neulich beklagte sich eine Bekannte im Gespräch darüber, daß wir doch alle von dem angeblichen Fortschritt nichts hätten. Es ginge uns doch heute allen viel schlechter als früher. Sie argumentiert historisch, um ihrem Argument, daß es uns heute schlecht geht und es uns besser gehen könnte, mehr Gewicht zu verleihen. Eine Situation, die schon einmal da war kann so utopisch doch nicht sein?
    * Und wie häufig hört man in den Medien, daß etwas das größte/schnellste/erste etc. sei. Derartige Begriffe zu benutzen, heißt immer, geschichtlich zu argumentieren. “Die größte Demo, die Hamburg je gesehen hat” soll ausdrücken, daß von einem außergewöhnlichen Ereignis die Rede ist. Genaugenommen behauptet der Sprecher hier eine umfassende Kenntnis der Hamburgischen Geschichte. Wie sonst könnte er sonst einen Satz sagen, der besagt, daß es seit Hamburg im 9. Jahrhundert gegründet wurde, dort nie eine so große Demo gegeben hat. Leeres Imponiergehabe? Insbesondere in diesem Fall, indem 1991 nicht nur die Debatten um Wiederbewaffnung und Notstandsgesetze aus den 50er und 60er Jahren, sondern auch die Friedensdemonstration vom Herbst 1983 vergessen werden?
    * Und wie häufig im Moment mit dem “nächsten Jahrtausend” argumentiert wird. Das ist ganz schön ambitiös. Damit sagt man ja nicht, man rede über die ersten Jahre nach 2000, sondern über das ganze Jahrtausend. Wenn wir zurückblicken und uns fragen, was aus der Welt von 1000 n.Chr. heute noch Bestand hat, können wir vielleicht eine Antwort darauf finden, was von unseren Jahrtausendwendeideen im Jahre 3000 n.Chr. noch Bestand haben wird. Eigentlich ist das Jahrhundert schon eine ausreichend gewagte Kategorie, was hat aus der Welt um 1900 heute noch Bestand?
    * Die meisten ethnischen Konflikte werden mit historischen Argumenten gefochten. Heutige Ansprüche aus der Vergangenheit abgeleitet. Was wäre wenn alle so argumentieren würden wie die Griechen im Falle Mazedoniens: Griechenland in den Grenzen von Alexander dem Großen? Deutschland in den Grenzen der Staufer? Italien in den Grenzen von Augustus? Die Türkei in den Grenzen der Belagerung von Wien? Und was ist mit Mazedonien in den Grenzen Alexanders des Großen? Für die offizielle polnische Geschichtsschreibung war die Inbesitznahme der “früheren deutschen Ostgebiete” eine Korrektur der deutschen Ostsiedlung im Spätmittelalter.

  3. malte Says:

    Zu welch niederen Beweggründen Geschichte auch immer in der Realität benutzt wird – hier stellt sich die moralische Frage: Wozu sollte sie dienen?

    * Beliebt ist diese Frage in Schullehrplänen…

    Ziele des Geschichtsunterrichts

    Die Quintessenz der Zielsetzungen eines im Internet auffindbaren Lehrplanes Geschichte (Gymnasium Interlaken) lautet:

    Geschichtsunterricht soll die Schülerinnen und Schüler verstehen lehren:

    * Gegenwart
    * Vielfalt menschlicher Lebensformen
    * Veränderbarkeit, Wandel und historische Bedingtheit von Kulturen

    und sie zu verantwortlichen Bürgerinnen und Bürgern erziehen.

    Man könnte es noch weiter zusammenfassen: Historische und räumliche Bedingtheit der eigenen Situation.

    * eine berühmte Antwort hat Nietzsche gegeben

  4. malte Says:

    Exkurs: Der Lehrplan im Detail

    Gymnasium Interlaken:
    Lehrplan Geschichte

    Bei der Internetsuche stieß ich auf den Lehrplan Geschichte eines schweizer Gymnasiums, die hier aufgeführten “Leitideen und Zielsetzungen” könnten ähnlich auch andernorts formuliert werden, ich gebe ihn hier stark zusammengefaßt wieder, gestrichen habe ich insbesondere allgemein staatsbürgerliche Ziele.

    Leitideen und Richtziele

    Geschichte befasst sich mit menschlichen Lebensformen und deren Wandel in Zeit und Raum. Der Geschichtsunterricht eröffnet den Schülerinnen und Schülern

    * ein erweitertes Menschenbild,
    * das Verständnis für Kulturen und Lebensformen, die ihnen primär fremd sind,
    * den Zugang zu den Begriffen Macht, Machtkontrolle und Partizipation der Bürger an der Macht,
    * Einsichten in die Problematik der Konflikte und der Konfliktlösung,
    * die Einsicht in ökonomische und soziale Mechanismen und deren Veränderbarkeit,
    * die Grenzen von Handlungsspielräumen zu erkennen.

    Grundhaltungen

    * Die Vielfalt der Möglichkeiten menschlicher Existenzbewältigung einsehen
    * Offen sein für verschiedene Kulturen und Mentalitäten, Wertsysteme und Lebenshaltungen, eigene ethische Wertvorstellungen festigen
    * Den in der Geschichte sich offenbarenden Wandel der Kulturen wahrnehmen
    * Verankert sein in den Traditionslinien seiner eigenen Kultur, sich deren historischer Bedingtheit bewusst sein
    * Motiviert sein, die Gegenwart besser zu verstehen; offen und realistisch in die Zukunft schauen und aktiv an ihrer Bewältigung mitwirken

    Grundkenntnisse

    Der Unterricht in Geschichte soll ein solides und durchdachtes Grundwissen in der neueren und neuesten
    Welt und Schweizergeschichte sowie in politischer Bildung vermitteln. Die Schülerinnen und Schüler erwerben Kenntnisse und Einsichten in den folgenden Bereichen:

    * politische Strukturen und ihre Veränderungen
    * soziale und ökonomische Grundlagen
    * kulturelle Signaturen (Kunst, Religion, Wissenschaft)
    * Mentalitäten und Lebensformen
    * Regionalgeschichtliche und lokalgeschichtliche Themen

    Grundfertigkeiten

    * …
    * Historische Quellen und Literatur kritisch verarbeiten und in ihrem Kontext verstehen
    * Historische und aktuelle Phänomene adäquat in Worte fassen und miteinander verknüpfen
    * Die Veränderbarkeit von Strukturen über längere Zeit hinweg erfassen

    Quelle: http://www.kl.unibe.ch/sec2/gymint/lpGeSoz.htm#gescAG

  5. malte Says:

    Unter dem Begriff “Geschichtsbewußtsein” verstehe ich, daß jemand eine Vorstellung von dem hat, was vor seiner Zeit passiert ist und sich bewußt ist, daß Vergangenes Auswirkungen auf die Gegenwart hat. Wie stark sind sich die Menschen der (ihrer) Vergangenheit bewußt?

    Viele Menschen argumentieren historisch auch wenn sie sich dessen vielleicht gar nicht bewußt sind. Neulich beklagte sich eine Bekannte im Gespräch darüber, daß wir doch alle von dem angeblichen Fortschritt nichts hätten. Es ginge uns doch heute allen viel schlechter als früher. Der Kapitalismus mache die Menschen kaputt, die Arbeitslosigkeit usw. Welches “früher” ist hier gemeint? Wann gab es mal keine Arbeitslosigkeit? Gerade einmal in den 1960er Jahren.

    Bewußtsein von Geschichtlichkeit bezieht sich auf das heutige Handeln. Wie relativieren sich die Kämpfe von heute vor dem Hintergrund der Jahrtausende der Weltgeschichte?

    Und wie häufig hört man in den Medien, daß etwas das größte/schnellste/erste etc. sei. Derartige Begriffe zu benutzen, heißt immer, geschichtlich zu argumentieren. “Die größte Demo, die Hamburg je gesehen hat” will heißen, seit Hamburg im 9. Jahrhundert gegründet wurde, soll es nie eine so große Demo gegeben haben.

    Und wie häufig im Moment mit dem “nächsten Jahrtausend” argumentiert wird. Das ist ganz schön ambitiös. Damit sagt man ja nicht, man rede über die ersten Jahre nach 2000, sondern über das ganze Jahrtausend. Wenn wir zurückblicken und uns fragen, was aus der Welt von 1000 n.Chr. heute noch Bestand hat, können wir vielleicht eine Antwort darauf finden, was von unseren Jahrtausendwendeideen im Jahre 3000 n.Chr. noch Bestand haben wird. Eigentlich ist das Jahrhundert schon eine ausreichend gewagte Kategorie, was hat aus der Welt um 1900 heute noch Bestand?

    Die meisten ethnischen Konflikte werden mit historischen Argumenten gefochten. Heutige Ansprüche aus der Vergangenheit abgeleitet. Was wäre wenn alle so argumentieren würden wie die Griechen im Falle Mazedoniens: Griechenland in den Grenzen von Alexander dem Großen? Deutschland in den Grenzen der Staufer? Italien in den Grenzen von Augustus? Die Türkei in den Grenzen der Belagerung von Wien? Und was ist mit Mazedonien in den Grenzen Alexanders des Großen? Für die offizielle polnische Geschichtsschreibung war die Inbesitznahme der “früheren deutschen Ostgebiete” eine Korrektur der deutschen Ostsiedlung im Spätmittelalter.

    Welche Ereignisse der Vergangenheit wirken stärker nach als andere?

    [um fortgesetzt zu werden…]