MALTE WOYDT

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Totalitarismen 1

“Gemeinschaft, ein Führer und verklärende Romantik der Sprache einerseits, die Partei, die Hoffnung auf das Paradies auf Erden und die Aura des Religiösen andererseits – das waren die Versuchungen der Unfreiheit im 20. Jahrhundert. Bindung, Führung und Verklärung waren die Merkmale des Faschismus; Bindung, Hoffnung und Verklärung die des Kommunismus. …

Faschismus und Kommunismus sind zwei in mancher Hinsicht durchaus unterschiedliche Versionen totaler Herrschaft. Beide indes haben dies gemeinsam, dass sie nicht dauern können. … Der Nationalsozialismus war von vorneherein eine auf Untergang gestellte Herrschaftsform. Der Krieg war – viele haben das früh erkannt – in das Regime als notwendige Kulmination von Anfang an eingebaut. Da es sich zudem um einen Krieg ohne Ordnungsidee handelte, steckte auch die totale Niederlage schon in seiner Konstruktion. Der unentbehrliche Bezug auf einen einzigen Führer verstärkte noch die selbstmörderische Tendenz des Regimes. …

Im Fall des Kommunismus ist das systemimmanente Scheitern nicht so leicht zu erkennen. Stärker noch als der Faschismus ist der Bolschewismus ein Phänomen der verspäteten Modernisierung, eben “Elektrizität plus Sowjetmacht” in der von Lenin gerne verwendeten Formulierung. Erst unter Stalin nahm der sowjetische Kommunismus wirklich totalitäre Züge an. Auch Stalin brauchte (wie später Mao) innere und oft künstliche Krisen zur Totalisierung seiner Herrschaft. In gewisser Weise brauchte auch er den Krieg. Immerhin waren da Elemente einer Ordnungsidee, selbst wenn diese bei ihrer Übertragung auf die höher entwickelten Osteuropäischen Staaten keine Wurzeln schlug. Das von Stalin beherrschte System überlebte den Tod des Diktators, weil es sich imstande zeigte, totalitäre Mobilisierung bis zu einem gewissen Grade durch autoritäre Herrschaft zu ersetzen oder doch zu ergänzen.

Autoritär – zum Unterschied von totalitär – ist ein Regime, in dem eine wohlorganisierte politische Führungsgruppe ihre Herrschaft auf das Schweigen der Mehrheit gründet. Die … nomenklatura … braucht die ständige Mobilisierung aller nicht, solange die Vielen stillhalten … Tun sie das allerdings nicht, dann werden sie verfolgt, zum Schweigen gebracht …”

“Fundamentalistische Versuchungen finden sich in allen Religionen und in zahlreichen Pseudoreligionen auch.” “Bei alledem handelt es sich um die Suche nach … einer Art von Gemeinschaft, die den Menschen die Qual der Wahl abnimmt. Menschen, die dank der aufklärerischen Geschichte der letzten Jahrhunderte ihre individuelle Identität gefunden haben, wollen diese nun wieder aufgeben. Sie haben Angst vor der Freiheit.” … “Es bliebe … zu zeigen, dass der islamische Fundamentalismus ein alternatives Bild der Zukunft anzubieten hat, das … eine Alternative zur liberalen Ordnung liefert. Solange das nicht geschieht, bleibt das Projekt jihad eine lästige Episode, nicht eine Gefährdung der Freiheit.”

aus: Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. München: Beck 2006, S. 39, 203, 204, 213, 215. Letzter Absatz von mir anders zusammengestellt als im Original.

11/06

09/10/2007 (9:47) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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