MALTE WOYDT

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Rassismus 4

Rassismus ist kein Betriebsunfall, sondern ein System, das aufrechterhalten wird, um Ungleichheit zu installieren und zu manifestieren. … Rassismus ist auch der Kern dieser Gesellschaft, wie es der Kern fast aller europäischen Gesellschaften ist. …

Rassismus ist ein Denken, das sich in Deutschland in vielfältigen Handlungen äußert und zeigt. Gewalttaten sind eine sichtbare Form neben anderen. Rassismus ist ein mehrstufiges System, in dem hierarchisiert, stigmatisiert und segregiert wird. Weshalb der Kampf gegen Rassismus nicht damit zu gewinnen ist, indem man gegen … Symptome kämpft. Und schon gar nicht kann es der Kampf der ‘Betroffenen’ sein. …

Es ergibt keinen Sinn, immer und immer wieder in der Mehrheitsgesellschaft um Respekt und Anerkennung zu bitten. Rassistische Gesellschaften laben sich an den Beleidigungen und Bedrohungen, die sie zunehmend gegenüber den Minderheiten ausüben. …

Die Strukturen werden sich erst ändern, wenn Gewaltakte, begangen aus rassistischen Motiven, zu empfindlichen strafrechtlichen Konsequenzen für die Täter führen. …

Rassismus erfüllt eine politische und ökonomische Funktion. Solange die Bürger Angst vor Schwarzen, Muslimen, Juden, Roma und Sinti haben, sie dämonisieren und für jede Misere verantwortlich machen dürfen, haben sie keine Veranlassung, sich einen Überblick über Konzerne und Lobbyisten zu verschaffen. …

Rassismus ist wie ein Kreislauf, der die Dinge in Bewegung hält und mit allen Mitteln versucht, die Ungleichheit um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Bei Rassismus geht es immer darum, dass nicht alle Menschen gleich sein dürfen, nicht das gleiche Maß an Rechten und Schutz bekommen sollen. Rassismus, also die Abwertung von ganzen Menschengruppen in Denken, Sprechen und Handeln, ist ein System, das nur deshalb existiert, damit Macht ungleich verteilt ist.”

aus: Mely Kiyak: Ein Verbrechen, das jeden Menschen angeht, Zeit Online, 3.6.20, im Internet

Abb.: Norman Rockwell: The Problem We All Live With, 1963.

06/20

03/06/2020 (15:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

One Response to “Rassismus 4”

  1. malte Says:

    Schade, bisher war ich fast immer einverstanden, mit dem, was Sie schrieben … Hier wird es aber Quatsch, man könnte es auch Geraune nennen. Unpolitisches Geraune. Unpolitisch, weil Roß und Reiter nicht genannt werden. WER soll denn das “System” Rassismus aufrecht halten? Was soll das heißen, Rassismus sei DER “Kern” unserer Gesellschaft? Alle anderen Elemente, die eine Gesellschaft ausmachen, werden so zu Nebensächlichkeiten erklärt. Und wie soll man sich Rassismus als “Kreislauf” vorstellen? Wo sitzt der Motor? Wer bewegt?

    Diese Art “raunender”, weil eben Roß und Reiter nicht nennender, nicht nennen könnender (!) Theorien führt zu mehreren Problemen:

    1. Wer gesellschaftliche Phänomene nicht als Ergebnis menschlichen Handelns sieht, sondern als Ausdruck anonymer “Systeme”, nimmt sich selbst jegliche Einflußmöglichkeit.
    2. Die ganz praktische – und gerechtfertigte – Forderung nach härter durchgreifender Justiz paßt nicht zum Rest der Argumentation: Wie soll ausgerechnet die Justiz einer Gesellschaft, deren Kern Rassismus IST, diesen Kern bekämpfen können?
    3. Diese Art von Argumentation verwischt alle Schattierungen. Es kann nach dieser Definition keinen Unterschied geben zwischen Deutschland und den USA, zwischen Freiberg in Sachsen und Brüssel.
    4. Und wo es keine Unterschiede gibt, gibt es auch keine Handlungsperspektive. Unterschiede zeigen Handlungsmöglichkeiten auf.
    5. Eine Theorie ist erst dann “politisch”, wenn sie zum einen Akteure und Handlungen benennen, zum anderen Perspektiven aufzeigt, wie die Dinge verändert werden können.
    6. Wer von einer falschen Analyse ausgeht, wird nur mit unglaublichem Glück und Zufall Dinge in die gewünschte Richtung verändern können.

    Nur weil man mit System rassistisch handeln kann, nur weil Rassismus institutionalisiert sein kann, ist Rassismus selber noch kein System, und schon gar nicht DER (= einzige, alles definierende) “Kern” irgendwelcher Gesellschaften.

    Denkweisen und Handlungen können rassistisch sein, beide können auch in Regeln eingebacken institutionalisiert sein.

    Man wird Rassismus nicht los, indem man ihn zum alles bestimmenden System oder Kern der Gesellschaft erklärt. Man wird Rassismus los, indem man ihn hinunterbricht auf alle vorkommenden kleinen rassistischen Denkweisen, Handlungen und Regeln, und sich für jede dieser Denkweisen, Handlungen und Regeln anschaut, welche Alternativen es dazu gibt, durch Vergleich beispielsweise zwischen Städten, zwischen Ländern, zwischen Menschen, zwischen Firmen usw. Und dann muß man versuchen, jedes einzelne dieser Elemente zu verändern.

    Lassen Sie mich praktisch werden. Ich lebe schon seit 25 Jahren nicht mehr in Deutschland, kann zu Ihrem Land also nicht mehr viel sagen. Für meine Wahlheimat, das Bundesland Brüssel, kann ich sagen, daß wir weiterhin viele Probleme mit Rassismus haben, aber in vielen Punkten weiter stehen, als vor 25 Jahren. Die Polizei von Brüssel-Nord etwa sucht und fördert aktiv Polizeianwärter mit Migrationshintergrund. Fernsehen und Zeitungen suchen gezielt MitarbeiterInnen und InterviewpartnerInnen mit diversem Hintergrund, so ist es inzwischen normal, im Fernsehen eine Frau mit Kopftuch danach gefragt zu sehen, wie es ihr und ihren Kindern am ersten Schultag nach den Coronaschließungen geht. Meine Brüsseler Stadt Schaerbeek (134.000 Einwohner) hatte 25 Jahre lang einen rechtsextremen Bürgermeister, der mit Begeisterung “Razzien” in Ausländerviertel dirigierte, das ist jetzt 25 Jahre her. Natürlich gibt es weiterhin jeden Tag rassistische Vorfälle, die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt ist enorm, das Schulsystem ist viel zu segregierend. Aber auch da gibt es Fortschritte. Das höchstangesehene französischsprachige Gymnasium vor Ort hat einen afrikanischstämmigen Vizedirektor, einen Italobelgier als Direktor, LehrerInnen unterschiedlichster Herkunft. Im Bundesland Brüssel (1,2 Mio. Einwohner) sind wir 72% der Bevölkerung ausländischstämmiger Herkunft. Friedliches und emanzipationsfreundliches Zusammenleben muß jeden Tag neu ausgehandelt und ausgedacht werden und wird von unzähligen Akteuren mit Kreativität vorangebracht. Theorien über systemischen Rassismus helfen da keinen Schritt weiter.

    Kommen Sie gerne nach Corona mal in Brüssel vorbei, ich führe Sie gerne herum. Ich mache von Beruf alternative Stadtführungen in allen möglichen und unmöglichen Stadtteilen von Brüssel, vom Europaviertel bis nach Alt-Molenbeek.