MALTE WOYDT

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Erfahrung 2

“Wird … Erfahrung auf ihr Resultat hin betrachtet, so wird damit der eigentliche Prozeß der Erfahrung übersprungen …

Wir [sprechen] in doppeltem Sinne von Erfahrung …, einmal von Erfahrungen, die sich unserer Erwartung einordnen und sie bestätigen, sodann aber von der Erfahrung, die man ‘macht’. Diese, die eigentliche Erfahrung, ist immer eine negative. Wenn wir an einem Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, daß wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser wissen, wie es damit steht. Die Negativität der Erfahrung hat also einen eigentümlich produktiven Sinn. …

Die Erfahrung, die einer macht, [verändert] sein ganzes Wesen … Strenggenommen kann man dieselbe Erfahrung nicht zweimal ‘machen’. Zwar gehört zur Erfahrung, daß sie sich selbst immer wieder bestätigt. Erst durch Wiederholung wird sie gleichsam erworben. Aber als die wiederholte und bestätigte Erfahrung wird sie nicht mehr neu ‘gemacht’. Wenn man eine Erfahrung gemacht hat, so heißt das, man besitzt sie. Man sieht von nun an das ehedem Unerwartete voraus. … Der Erfahrende ist sich seiner Erfahrung bewußt geworden – er ist ein Erfahrener. …

Derjenige, den man erfahren nennt, [ist] nicht nur durch Erfahrungen zu einem solchen geworden, sondern auch für Erfahrungen offen. Die Vollendung seiner Erfahrung … besteht nicht darin, daß einer schon alles kennt und alles schon besser weiß. Vielmehr zeigt sich der Erfahrene im Gegenteil als der radikal Undogmatische, der, weil er so viele Erfahrungen gemacht und aus Erfahrungen gelernt hat, gerade besonders befähigt ist, auf neue Erfahrungen zu machen und aus Erfahrungen zu lernen. …

Das ist jene Erfahrung, die stets selber erworben sein muß und niemanden erspart werden kann. … Erfahrung … setzt … notwendig mannigfache Enttäuschung von Erwartungen voraus und nur dadurch wird Erfahrung erworben. … Jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, durchkreuzt eine Erwartung. …

Erfahrung ist … Erfahrung der menschlichen Endlichkeit. Erfahren im eigentlichen Sinne ist, wer ihrer inne ist, wer weiß, daß er der Zeit und der Zukunft nicht Herr ist. Der Erfahrene nämlich kennt die Grenze alles Voraussehens und die Unsicherheit aller Pläne.”

aus: Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Bd.1, Tübingen: Mohr 1990 (1960), S.358-363.

06/22

16/06/2022 (0:02) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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