MALTE WOYDT

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Merkel-Wir

“… Denn wer ist das Wir im Merkel-Satz wie in den Parolen der AfD?

Das Wir bei Merkel ist die Zivilgesellschaft, die mit großem Einsatz den überforderten staatlichen Strukturen hilft. Dieses Wir ist eine Spende der Millionen Helfer an die Staatskasse … Denn hätten alle diese Helfer auch nur den Mindestlohn erhalten, hätte es ein gigantisches Jobprogramm gegeben und eben auch hohe Staatsausgaben bedeutet. Aber die sind, das weiß inzwischen jedes Kind, im Neoliberalismus nicht mehr vorgesehen. Darum ist das ‘Wir schaffen das’ eine besonders perfide Variante der Umverteilung. Die Hilfsbereitschaft wird dafür instrumentalisiert, die falsche Austeritätspolitik voranzubringen.

Denkt man über die ersten Monate der Begrüßungseuphorie hinaus, offenbart die Frage nach dem Wir erst den wahren politischen Gehalt. Denn dann wird aus dem Wir eine klar benennbare Klasse in unserer Gesellschaft: die Geringverdiener und diejenigen, die schon jetzt am unteren Rand leben. Hier entbrennt der Konkurrenzkampf um die weniger qualifizierten Jobs, bezahlbaren Wohnraum und die letzten öffentlichen Orte, an denen man sich ohne Geld aufhalten darf. Der moralische Anspruch kommt endlich dort an, wo er die ganze Zeit hinwollte: bei den Verlierern. Die Kosten der Moral werden an die Ränder verteilt, wo es den Gewinnern nicht wehtut und sie weiterhin im Wohlgefühl ihres eigenen Gutseins leben können. …

Worin besteht nun der politische Schachzug, der es der Regierung Merkel bis jetzt erlaubt, all diese Folgen auszublenden und weiterhin als einzige humanitäre Instanz dazustehen? Die moralische Wertung ist mit der politischen Aufforderung so fest verklebt, dass jede Kritik an den Folgen der Willkommenskultur automatisch unmoralisch wirkt … Wenn es nicht mehr möglich ist, eine andere Meinung als die Kanzlerin zu haben, ohne als rechtsradikal zu gelten, dann wird der eine oder andere eben rechtsradikal. Die Folgen der Alternativlosigkeit, die bisher nur bei den europäischen Nachbarn zu beobachten waren, sind nun auch bei uns angekommen. Das Erstarken radikaler Kräfte aufgrund der Merkelschen Austeritätspolitik schlägt auf Deutschland zurück. …

Wenn man als Akademiker in einer Eigentumswohnung lebt, ist es sehr gratismutig, eine Willkommenskultur zu fordern und die Nase über diejenigen zu rümpfen, die gegen ein Flüchtlingsheim protestieren, das in ihrem Wohngetto gebaut wird. Dass sich hinter der Propaganda der Weltoffenheit auch die Abschaffung aller sozialen Regeln, die den Kapitalismus ein wenig gezähmt haben, verbirgt, kann nur noch um den Preis, als ein Gestriger zu gelten, formuliert werden, oder wie im Falle der Willkommenskultur um den Preis, ein Rechter zu sein. …

In einem politischen System, in dem alle etablierten Parteien, mit Ausnahme der Linkspartei, auf derselben Basis von Ideologie argumentieren, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich eine Gegenkraft bildet, die den Konsens aufkündigt. Dass diese Radikalopposition sich in unserer Gegenwart aus den Quellen von Ressentiment und Populismus speist, zeigt, wie verkümmert das politische Denken und Argumentieren der linken Parteien heute ist. Sie vermochten es schon in der Weltfinanzkrise von 2008 nicht, Alternativen für die Wirtschaft zu formulieren, und sie vermögen es heute nicht, die neoliberale Ideologie der Merkelschen Politik von ihrem moralischen Schleier zu befreien. …”

aus: Bernd Stegemann: Die andere Hälfte der Wahrheit, Zeit Online 3.4.16 [im Internet].

04/16

03/04/2016 (21:38) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

One Response to “Merkel-Wir”

  1. admin Says:

    Ein sehr interessantes Argument mit sicher mehr als einem Körnchen Wahrheit. Aber nach meinem Dafürhalten auch wieder nur eine halbe Wahrheit.

    Ja, vermutlich tragen die Ehrenamtlichen und die Armen den größten Teil der Kosten einer offenen Flüchtlingspolitik. Aber nein, die deutsche (und die belgische) Regierung weigern sich nicht, für die Aufnahme der Flüchtlinge die Staatsausgaben zu erhöhen, darin ist das Argument faktisch falsch.

    Und ob sich die Unternehmer durchsetzen werden, die jetzt “zur besseren Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt” ein weiteres Aufweichen von Arbeitnehmerschutz verlagen, halte ich noch für offen.

    Es erscheint mir auch ein Denkfehler, die AfD als eine Art antikapitalistische Revolte zu interpretieren. Die AfD ist in ihrem Programm noch wirtschaftsliberaler als SPD, CDU, FDP und Grüne. Der Autor unterläßt zu erklären, warum die Proteste nicht zu einem Stimmenzuwachs für die Linke führen, was doch wohl der Fall sein müßte, wenn seine Analyse vollkommen aufginge, oder?