MALTE WOYDT

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Ich 1

“… Doch ich hatte vergessen, mich auf das Wichtigste vorzubereiten: auf die Studenten. Ich glaubte, sie seien so ähnlich wie ‘wir’. … Ich merkte: Es gab nicht einmal eine brauchbare Hypothese zu den Zweit- und Drittsemestern, die da im Frühjahr 2000 vor mir saßen. Nirgends stand geschrieben, dass sie sich weniger um die Belüftung des politischen Prozesses als um den Flüssigkeitshaushalt ihres Körpers sorgen würden. …

Politisches nehmen die jungen Erwachsenen, die einen erweiterten Politikbegriff einklagen, nur dann wahr, wenn es an ihr Gefühl appelliert und nicht an ihre Pflicht. … Vielleicht fing alles damit an, dass im Wetterbericht … die Meteo-Moderatoren begannen, von gefühlter Temperatur zu faseln. Die nächste Stufe ist das gefühlte Wahlergebnis. …

Diese Altersgruppe will nicht die Macht verstehen, sie will sie auch nicht unbedingt erobern, sie will sich verstanden fühlen. Nur das Persönliche ist politisch. …

Was lässt die Studenten so schonend mit ihren Rederessourcen umgehen? Sicherlich ihr Sinn für Effizienz, aber auch ihre Verletzlichkeit. … Als ich auf der Meinungsseite der ZEIT im Mai 2012 über meine Erfahrungen nach gut zehn Jahren an der Uni geschrieben habe … reagierten auffallend viele studentische Leser nicht argumentativ, sondern schrieben in Mails und Kommentaren ‘Der Text hat mich verletzt‘. Das Lob für den Artikel fiel ähnlich gefühlsbeladen aus. …

Das ‘Ich’ war früher in Zeitungsartikeln tabu … Heute gilt das Ich mit Recht als Voraussetzung dafür, dass ein Artikel überhaupt wahrgenommen wird. … Das Ich betont die Einzigartigkeit und macht doch alle gleich. Jeder ist mit Jedem auf Augenhöhe. … Dass schon vor unserer Zeit kluge Menschen diesen Planeten bevölkert haben, dass Studieren einen davon entlastet, alles aus dem eigenen Selbst zu schöpfen, wirkt wie eine unbrauchbare Botschaft von gestern. Originaltexte stehen im Verdacht, Originalitätsbremsen für die Genies von heute zu sein. … Das Standardwerk zur Regierungslehre, das noch nicht geschrieben ist, müsste heißen: ‘Ich. Und das Regierungssystem der Bundesrepublik‘. …

Die Erwartungen der Studenten sind einerseits pragmatisch-bescheiden, andererseits unerfüllbar groß. Erwartet wird nicht weniger als Anleitung zum sinnvollen Sein. … Sinn und Nutzen sind deckungsgleich geworden, und gerade deshalb klafft eine Bildungslücke. Studenten erwarten, dass Wissen sofort verwertbar ist. …

Ich hatte die Studenten zu Akteuren erklärt, obwohl sie sich als Opfer empfinden. Als unsere Opfer. Sie tun brav das, was wir Dozenten von ihnen erwarten und müssen sich nun auch noch in einem bildungsbürgerlichen Blatt für ihre Anpassungsleistung kritisieren lassen. …

Das Gros der Studenten arbeitet Referate und Hausarbeiten ab wie einen Bestellauftrag des Dozenten. Verve gilt als Relikt unbelehrbarer Revolte-Romantiker. Doch wissenschaftliche Leidenschaft meint nichts anderes als das Ringen um einen eigenen Standpunkt, eine Überzeugung. Das Ziel ist Individualität und nicht Ich-Hätschelei. …

Als Bürger kommen sich junge Erwachsene oft ohnmächtig vor, als Konsumenten fühlen sie sich mächtig. … Junge Erwachsene vertrauen Waren mehr als Ideen. … ‘Wohlstand für alle’ war Ludwig Erhards Slogan, ‘Wohlbefinden für dich’ müsste der aktuelle lauten.”

aus: Christiane Florin: Warum unsere Studenten so angepasst sind. Reinbek: Rowohlt 2014, S. 14-75

02/16

23/02/2016 (12:52) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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