MALTE WOYDT

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Hotel Lux

“In den sogenannten Parteiversammlungen der Mitarbeiter des EKKI-Apparats, im Gebäude der Komintern, in den Korridoren des Hotel Lux breiteten sich damals ein panischer Schrecken, eine hysterische Angst vor einer ungreifbaren und doch so gut wie unentrinnbaren Gefahr aus. Wenn im Büro einer der Mitarbeiter nicht zur Arbeit erschienen war, nahmen seine Kollegen an, er sei in der Nacht durch die ‘Organe des NKWD’ verhaftet worden. Sofort ergaben sich für jeden Einzelnen zahllose Fragen: Wie wird das Verhältnis des Verhafteten zu mir vom NKWD ausgelegt werden? fragte sich wahrscheinlich jeder im Stillen. Äußerlich aber war jeder bestrebt, entweder unberührt zu erscheinen oder zu zeigen, daß er diese Verhaftung seit langem erwartet habe. Niemand wollte engere persönliche Beziehungen zu einem Verhafteten gehabt haben. Und weil in den sogenannten Parteiversammlungen der Abteilungen und des gesamten Apparats die persönlichen Verhältnisse und Beziehungen jedes Einzelnen schonungslos und schamlos ausgebreitet, nachträglich bewertet und zu Gegenständen wochenlanger Diskussionen gemacht wurden, waren alle bestrebt ihre persönlichen Beziehungen zu anderen auf das notwendige Minimum zu beschränken. … Hinter Besuchen witterte man die Absicht des Besuchers, etwas Spezielles in Erfahrung bringen zu wollen. Fast alle verleugneten frühere Freunde, zitterten vor der Möglichkeit, einer ihrer Verwandten könnte beschuldigt oder verhaftet werden, wodurch sie selbst automatisch zum Gegenstand von Untersuchungen und Beschuldigungen würden. Jeder suchte im Stillen nach entlastenden Erklärungen für frühere Freundschaften, Zusammentreffen und Ereignisse, aus denen ihm nun Gefahren erwachsen könnten. In den sogenannten Parteiversammlungen aber waren fast alle einig in der Forderung nach schonungsloser Ausrottung der Volksfeinde, während sie in zunehmendem Maße einander mangelnder Wachsamkeit, unzulässigen Liberalismus und der früheren Zugehörigkeit zu dieser oder jener Gruppierung bezichtigten. …

Gerichtliche Urteile oder Urteilsbegründungen wurden niemals veröffentlicht oder mitgeteilt. Es blieb den ‘Parteiversammlungen’ überlassen, nachträglich und rückwirkend herauszufinden, beziehungsweise zu erfinden, welche Momente aus dem Leben und der Tätigkeit des Verschwundenen Anlaß zur Verhaftung oder ‘Liquidierung’ gegeben haben konnten. Dabei galt als Axiom, daß NKWD sich niemals irre, und daß Verhaftungen nur durchgeführt würden, wenn NKWD das erdrückende Beweismaterial in Händen hätte. …

Daß man mit sogenannten Volksfeinden nicht sprechen durfte, daß die Frauen von angeblichen Volksfeinden nach der Verhaftung ihres Mannes automatisch Wohnung und Arbeitsplatz verloren und – falls sie der Partei angehörten – aus der Partei ausgeschlossen wurden, war zur allgemeinen Regel geworden. Im Hinterhofe des Lux war ein verfallenes Gebäude zum Wohnhaus für die Angehörigen verhafteter Luxbewohner eingerichtet worden. Ihre Personalausweise berechtigten sie nicht mehr zum Betreten des Lux selbst. … Einige dieser Frauen hatten versucht, Unterstützung durch die Rote Hilfe zu erhalten, um überhaupt vegetieren zu können. Sie waren unter kränkenden Worten hinausgewiesen worden. …

Die Deutschen, die bei der ‘Deutschen Zentralzeitung‘ beschäftigt waren, wurden fast ausnahmslos verhaftet. … Aus Leningrad und besonders aus dem Wolgagebiete kamen Nachrichten, die über die Verhaftung vieler deutscher Parteimitglieder berichteten. … In ähnlichem Umfange in dem die deutschen Parteimitglieder von den Verhaftungen betroffen wurden, wurden Ungarn und Balkankommunisten in Mitleidenschaft gezogen. Gleichzeitig mit den Verhaftungen wurden zahlreiche Ausweisungen vollzogen. Irgendein System habe ich bei den sich überstürzenden und überschneidenden Maßnahmen nicht erkennen können. Alles machte den Eindruck des blindwütigen Wütens eines unpersönlichen Apparats. …

Im Jahre 1940 ersuchte mich Ulbricht, mit einem von der NKWD aus der Haft entlassenen Arzt zu sprechen, der darauf bestanden hatte, mit einem deutschen Funktionär zu sprechen. … Man hatte ihm zugemutet, nachzudenken und Angaben darüber zu machen, ob nicht Wilhelm Pieck, der doch auch mitunter zu seinem Vater gekommen war, Liebknecht und Luxemburg verraten und den weißen Offizieren ausgeliefert hätte. Er erklärte, daß er mit allem fertig sei. Obwohl Jude, sei er im Begriff, nach Deutschland zurückzukehren, wenn ihm dort auch Konzentrationslager oder Schlimmeres sicher sei. Er habe nichts mehr; seine Zeugnisse seien verschwunden, seine Anzüge und sonstigen Besitztümer ebenfalls. Als er nach seiner Entlassung nach diesen Dingen gefragt habe, sei ihm gesagt worden, ob er damit sagen wolle, daß NKWD solche Sachen veruntreue. …

Ende 1939 und während des Jahres 1940 schickten oder zwangen Organe des NKWD deutsche Flüchtlinge, die Asyl in der Sowjetunion gesucht hatten, zum deutschen Konsulat. … Nach Andeutungen Ulbrichts ging in jener Zeit … eine umfangreiche, nicht an die Öffentlichkeit gelangende, Abschiebung von Gefangenen und Nichtgefangenen vor sich. …

Sie sei eine Mutter, der man ihre Kinder genommen habe, und die nirgendwo Recht bekommen könnte. Wir haben unser ganzes Leben lang für Gerechtigkeit gekämpft, wir verlangten auch für uns nur Gerechtigkeit! rief sie. Hier stehe ich, sagt mir doch, was mit meinen Kindern geschehen ist! Wenn die Arbeiter in Berlin wüßten, was man mit uns macht!”

Herbert Wehner: Zeugnis. Persönliche Notizen 1929-1942. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1990 (Köln Kiepenheuer und Witsch 1982), S.189-225

08/10/2007 (11:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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