Lesen 2
“Ich las einmal eine Geschichte, die … mir viel Eindruck gemacht hat. … Sie schildert wie eine Reihe von Chinesen durch Erschießen hingerichtet werden soll. … Unter den Wartenden befand sich auch ein alter Mann mit einem langen weißen Bart, der im Stehen, an eine Mauer gelehnt, ein Buch las und sich durch die Schußsalven und das Näherrücken seines eigenen letzten Minütleins durchaus nicht im Lesen stören ließ. …
Er betete nicht und war in keine Sterbesakramente, Litaneien, Trostsprüche vertieft, sondern in eine Lektüre schlechthin. Er laß ein Buch, dessen Inhalt ihn mehr interessierte als das herannahende Ende, und es wurde in der Geschichte auch berichtet, daß er dann und wann vor sich hinlächelte. Nur einmal, während er eine Seite umschlug, warf er einen ganz kurzen und gleichgültigen Blick in die Runde. … Er beeilte sich nicht beim Lesen, sondern kostete bedächtig und versunken die Worte und Sätze des Dichters aus, die er da las. …
Wenn er die Gewehrläufe schon auf sich gerichtet sieht und da erst das Buch aus der Hand legt, als gäbe es nur eine kurze Pause vorm nächsten Kapitel, und sich sinnend durch den Bart fährt, dann hat er eine sehr hohe Stufe der Existenz erreicht: sein Leben hat sich gelohnt, und seine Lektüre auch.”
aus: Martin Reheim-Schwarzbach: Von den Büchern. Hamburg: Hans Dulk, 1952, S.53-61.
09/25
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