MALTE WOYDT

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Scheindissidententum

Corona hat Menschen darin bestärkt, Scheindissidententum als Geschäftsmodell zu betreiben … Neu ist dabei nicht, was sich Einzelne davon versprechen (im Zweifel Aufmerksamkeit und schnellen Ruhm als ‘unbequeme Stimme’ in einem falsch balancierten Diskurs). Neu ist eher das Wissen, dass man wenig zu befürchten hat, wenn man willkürlich Unsinn erzählt. …

Die permanent veränderten Sachstände … helfen bei der Tarnung der eigenen Inkompetenz und Skrupellosigkeit. … [Es] lässt sich irgendwann nicht mehr nachvollziehen, vor dem Hintergrund welches Kenntnisstands etwas gesagt wurde und ob es zu diesem Zeitpunkt sinnvoll war. Letztlich kann jeder die Entwicklung bis genau zu dem Punkt zurückerzählen, der ihm gerade nützlich erscheint. Das sind traumhafte Lehr- und Wanderjahre für die Demagogen von morgen. …

Entscheidend ist der für alle Seiten erkennbar gewordene Nachteil, den Menschen mit intellektuellen und argumentativen Restskrupeln in dynamischen gesellschaftlichen Lagen haben. Während sie an einer Stelle noch zu vermitteln versuchen, haben andere an anderer Stelle schon bestmöglich neu polarisiert und werden damit zu Taktgebern des Gesprächs. …

Zu den Eigenschaften eines sehr dynamischen Geschehens gehört auch, dass es kaum noch jemand richtig überblickt. … Die Pandemie hat auch gezeigt, wie öffentliche Kommunikatoren sich das zunutze machen können: Framing ist umso mehr jene Zaubertechnik, mit der Fakten und Sachstände je nach Belieben aus- und eingeblendet werden, tatsächliche Widersprüche übermalt und scheinbare herausgestellt werden können. …

In den brutalisierten Debattenverhältnissen erweist sich immer deutlicher: Wer Schwäche zeigt, ist verloren. Wer Fehler zugibt, Unsicherheiten eingesteht und Dinge neu bewertet, der kann sich des Triumphgeheuls seiner Gegner sicher sein. …

[Es] braucht … eine neue Messgröße der Menschenverachtung, um destruktive Gespräche begründet zurückweisen zu können. In der ausgehenden Corona-Pandemie lässt sich die Grenze vielleicht dort ziehen, wo über Todesopfer argumentativ hinweggegangen wird, als handele es sich dabei um ein vernachlässigbares Vorzeichen. Das gebietet die Moral, wo sie noch ist: Wer für ein Prinzip maximaler individueller Freiheit argumentiert, ohne anzuerkennen, dass jeweiliges Handeln oder Nichthandeln Leid für andere Menschen bedeutet, ist nicht satisfaktionsfähig. Punkt. …”

aus: Johannes Schneider: Die Deutungsschlacht hat erst begonnen. Zeit Online, 29.1.22, im Internet.

01/22

30/01/2022 (22:58) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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