MALTE WOYDT

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Jahreszeiten

Die Gesellschaft teilt sich in jahreszeitenlose Menschen und Menschen, die die Jahreszeiten erleben.

Als Student habe ich Sommer erlebt, in denen die Temperatur in der Stadt wochenlang nicht unter 30 Grad sank. Selbst mitten in der Nacht liefen wir in T-Shirt, kurzer Hose und Sandalen herum. Wenn ich dann in einem solchen Sommer in den IC nach Hamburg einstieg, hatte ich das Gefühl, in einen Kühlschrank zu steigen, so stark war der Zug hinuntergekühlt. Um mich herum schien niemand darunter zu leiden, die Menschen waren wärmer angezogen als ich.
Als Stadtführer bin ich es gewohnt, mich im Winter warm anzuziehen, richtig warm, um in drei oder vier Stunden zu Fuß in der Stadt nicht zu frieren. Betrete ich ein Geschäft, beginne ich unmittelbar, gottserbärmlich zu schwitzen. Um mich herum scheint niemand darunter zu leiden, die Menschen sind weniger warm angezogen als ich. Andererseits habe ich oft Kunden, die während der Stadtführung am Bibbern sind, weil sie nicht warm genug angezogen sind. Viele Jugendliche scheinen gar nicht mehr zu wissen, wie man sich warm anzieht.

Genau genommen, sind die Menschen in den Geschäften genauso warm angezogen wie die Menschen im Zug damals: Das sind Leute, die aus ihrer großen, temperaturstabilen Wohnung in die Tiefgarage fahren, dort ihr klimatisiertes Auto besteigen, mit dem sie in die Tiefgarage ihres klimatisierten Büros oder Einkaufszentrums fahren.

Die Großraumwagen im Zug sind auf die Bedürfnisse dieser Menschen temperiert, die Läden auch. Aber nicht auf die meinen. Und ich denke nicht allein zu sein: Jedem, der im Freien arbeitet, dürfte es so ergehen wie mir. Auch jedem, der in kleinen schlechtisolierten Wohnungen wohnt, deren Temperatur mit der Außentemperatur mitgeht.

Haben wir es da nicht mit einem schönen Beispiel für die Klassengesellschaft zu tun? Die jahreszeitenlose Klasse der stabilen Temperatur und die Klasse der schwankenden Temperaturen, der Jahreszeiten? Früher konnte man im Zug die Temperatur Abteil für Abteil individuell einstellen, das war die Zeit, in der Individuen solche Entscheidungen noch zugemutet wurden. Heute gehen die Bahnkonzepteure davon aus, daß alle wichtigen Kunden dieselbe Temperatur haben möchten. Wir anderen wurden vergessen.

Die Welt ist noch viel mehr auf Autofahrer zugeschnitten, als wir gemeinhin denken. Wie soll man Menschen dazu bringen, zu Fuß zu gehen oder Fahrrad zu fahren, die Temperaturschwankungen nicht mehr gewöhnt sind? :-)

Malte Woydt

12/07

08/12/2007 (1:37) Schlagworte: DE,Notizbuch ::

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