MALTE WOYDT

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Winnetou

“Was ist das für ein Land, in dem man nicht einmal mehr sagen darf, dass man als Kind gerne Indianerhäuptling geworden wäre? …

Sind die Karl-May-Indianer nicht primär eine Fantasieschöpfung, an der ihre Erschaffer ebenso viel (oder ebenso wenig) Eigentumsrechte besitzen wie die indigenen Bewohner Nordamerikas, die sich ja nicht umsonst in den Apachen und Komantschen aus den Winnetou-Romanen nicht wiedererkennen? … Gerade Fantasiebilder können  [allerdings] in ihrer Erschaffung und Fixierung von Stereotypen einen rassistischen oder sonst wie diskriminierenden Charakter besitzen. …

Natürlich zeigt sich im ‘Wunsch, Indianer zu werden’ zunächst auch der Wunsch danach, einer Kultur anzugehören, die ursprünglicher, naturverbundener, authentischer scheint als die eigene. In der Karl-May-Version der Winnetou-Figur kommt dieser Wunsch überdeutlich zum Ausdruck. …

Zugleich ist es kein Zufall, dass sich die Begeisterung der deutschen Gesellschaft für … Winnetou … gerade in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltet hat. … Dass die Deutschen sich … [damals] so intensiv mit der Figur des Indianers identifizieren, liegt … auch daran, dass jenes Volk, das gerade erst selber einen Genozid an den europäischen Juden vollzogen hat, aus der Rolle der Täter in die der Opfer hinüberzuwechseln versucht.  Wobei die guten Cowboys … bei Karl May ja immer Deutsche im Ausland sind, die hier nun als strahlende Helden den bedrängten Indianern beistehen, als ‘white saviours’, wie man heute sagen würde. … Man befindet sich … auf der richtigen Seite der Geschichte. …

[Doch] in dieser ‘ethnischen Appropriation‘ … ist … noch etwas anderes versteckt, … was die Faszination mit den Indianern eigentlich erst interessant macht. … In der westdeutschen Provinz der 1970er Jahre war es völlig selbstverständlich, dass Jungen kurze und Mädchen lange Haare trugen, dass Mädchen sich – manchmal – schminken, Jungen hingegen nie. Wer als Junge lieber lange Haare trug und sich eventuell sogar einmal mit dem Nagellack seiner Schwester die Fingernägel lackierte, befand sich sofort in der Position des verspotteten Außenseiters – es sei denn, er rechtfertigte diese Praxis dadurch, dass er eben in ein Indianerkostüm schlüpfte. … Indianerkostüme … [waren] Kostüme der geschlechtlichen Transgression. …

Nicht nur die Karl-May-Freunde … kostümierten sich als ‘Indianer’, sondern auch die Hippies in aller Welt. … Die antiimperialistische Linke identifizierte sich bevorzugt mit den Befreiungskämpfen ‘einfacher’, unentfremdeter Völker aus den Regenwäldern und Wüsten der ‘Dritten Welt’. Das beliebteste Fashion item in dieser Zeit war das sogenannte Arafat-Tuch. … Arafat [war] der Winnetou der linken Alternativkultur. …”

aus: Jens Balzer: Ethik der Appropriation. Berlin: Matthes & Seitz 2022, S. 11, 15, 60-63, 78

Abb.: August Macke: Indianer auf Pferden, 1911, Lenbachhaus, hier Wikimedia, im Internet.

09/22

15/09/2022 (23:26) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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