MALTE WOYDT

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Vorfahren

“Ich begebe mich unter Tote, ich muß leise sprechen. Einige dieser Toten sind tot für mich, andere leben in meinen Handbewegungen, meiner Kopfform, wie ich Zigaretten rauche und Liebe mache, gleichsam in ihrem Auftrag esse ich bestimmte Speisen. Sie sind viele. Der Mensch fühlt sich lange allein unter den Menschen; eines Tages gelangt er in die Gesellschaft seiner Toten und bemerkt ihre ständige, taktvolle Gegenwart. Sie trüben kaum ein Wässerchen. Ich fing spät an, mit der Familie meiner Mutter in Verwandtschaft zu leben; eines Tages hörte ich ihre Stimme, als ich sprach, sah ich ihre Gesten, als ich grüßte, das Glas hob. Die ‘Individualität‘, das wenige was der Mensch als Neues seinem Selbst hinzufügt, ist verschwindend gering neben dem Erbe, das uns die Toten hinterlassen. Menschen, die ich nie gesehen habe, leben und schöpfen, erregen, sehnen und fürchten sich in mir weiter. Mein Gesicht ist das Abbild meines Großvaters mütterlicherseits, meine Hände habe ich von Vaters Familie, mein Temperament aus Mutters Verwandtschaft geerbt. In bestimmten Augenblicken, wenn ich beleidigt werde oder rasch entscheiden muß, denke und sage ich wahrscheinlich wortwörtlich, was mein Großvater in der mährischen Mühle vor siebzig Jahren dachte und sagte.

… [Das Portrait meines Großvaters] hängt in meinem Zimmer an der Wand, ich sehe ihm verblüffend ähnlich. Auch mein Gesicht wirkt genießerisch, weich und fleischig, die Lippen meines sinnlichen Mundes hängen, und ließe ich mir einen Vollbart wachsen, wäre ich ein Double des Fremden, der mich vom Foto anstarrt. Von ihm habe ich die Wanderlust geerbt, meine Sensibilität, meine slawische Ruhelosigkeit und meine Zweifel. Dieser fremde Mensch lebt kraftvoll in mir weiter. Wahrscheinlich erbt man von seinen Vorfahren nicht nur die Statur; wie ich seinen Mund, seine Stirn, seine Augen und seine Kopfform trage, so leben in mir auch seine Bewegungen, sein Lachen, seine lüsternen Neigungen, eine gewisse Laxheit und Hochnäsigkeit. Auch ich trage die Buchhaltung meines Lebens und meiner Angelegenheiten mit Vorliebe in den Taschen herum. Aber es lebt in mir noch ein anderer Großvater, der strenger, finsterer und pedantischer ist, er ist ebenfalls früh gestorben, ich habe ihn nie gekannt. Diese Fremden, mit denen ich leben muß, lassen mich – denjenigen, den ich tastend und mit Mühe aus mir gedrechselt habe – selten zu Wort kommen…”

aus: Sándor Márai: Bekenntnisse eines Bürgers 1, Berlin/St. Petersburg: Oberbaum 2000 (leicht gekürzte Fassung; ungarische Originalausg. 1934).

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11/12/2011 (1:02) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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