MALTE WOYDT

HOME:    PRIVATHOME:    LESE- UND NOTIZBUCH

ANGE
BOTE
BEL
GIEN
ÜBER
MICH
FRA
GEN
LESE
BUCH
GALE
RIE
PAM
PHLETE
SCHAER
BEEK
GENEA
LOGIE

Provinz

“Der Wiener … hat den bösartigsten Witz über das Schicksal des Provinzlers erfunden: ein aus der Metropole nach Linz verschlagener Beamter schildert … einem Freund die eigene Entwicklung wie folgt: ‘Im ersten Jahr – da maanst du stirbst. Im zweiten Jahr – na da wirst allmählich a bisserl deppert. Und im dritten – im dritten, da bist eben a Linzer.’

Der Provinzler ist eine Zwischenform … Ihm fehlt die aus der Begrenzung erwachsende Selbstsicherheit des Dörflers ebenso wie die aus der Unverschämtheit erwachsende des Großstädters. …

das erste wichtige Phänomen [der Provinz-Existenz ist] die Verspätung der kulturellen Signale. Sie gehen von der Großstadt aus; und kein Journal, kein Wort- und Bilderstrom über Presse und Ätherwellen vermag dieses Schicksal zu ändern.

Während der Dörfler … auf die Marotten der Großstadt pfeift und oft genug die Gaudi erlebt, daß der Großstädter wie Antäus zur Scholle zurückflüchtet, fühlt die Provinz den gar nicht so dunklen, aber immer starken Drang, up-to-date zu sein; und immer wieder sieht sie dieses Ziel entschwinden. …

Wohlbemerkt: das hat nichts mit Bildung zu tun – jedenfalls nicht im akademischen Sinn. … der Provinzler legt mehr Wert auf Bildung als der Großstädter. …

Dem Provinzler fehlt das Element. … Der Großstädter gewinnt ja seine vielberufene Freiheit aus der Tatsache, daß er wieder zum Jäger geworden ist; Mensch, Mitmensch ist für ihn das Mitglied seines Clans, oder mehrere, durch die Pluralität seiner Interessen gebildeter Clans. Mit ihnen, seinen Clangefährten, jagt er im Dschungel aus Steinen, Asphalt, Autos und Individuen, die er nicht kennt und die ihn nichts angehen. Der Dörfler andererseits ist nach wie vor auf den universalen nachbarlichen Zusammenhalt angewiesen, der zwar Feindschaften, Todfeindschaften, aber keine rigorose Kastenbildung erlaubt.

Der Provinzler ist nicht so frei wie der Großstädter, seine kongenialen Jagdgefährten zu wählen – aber auch mit der universalen Nachbarschaft ist es bei ihm vorbei. Er ist gezwungen … die Gruppe herauszufinden, in der er funktionieren kann. Meist wird hier freilich gar keine Wahl vollzogen, sondern die Gruppe wählt ihn, determiniert ihn, legt ihn fest. … [Hier ist] eine der tiefsten Wurzeln provinzieller Malaise zu finden … und aus ihr wachsen allzurasch und allzuleicht zwei unausrottbare provinzielle Überzeugungen: erstens die Überzeugung, daß der größte Teil der sozialen Umgebung schicksalhaft ist … und zweitens das speziell provinzlerische Subjekt-Objekt-Gefühl gegenüber dem Nächsten. …

Die Mehrheit der sozialen Kontakte in der Provinz … ist aufgezwungen, vom gesellschaftlichen Pflichtbewußtsein diktiert. Relativ wenig gefühlt wird das in der breiten Basis der sozialen Pyramide, unter Arbeitern und kleinen Gewerbetreibenden – aber das Problem verschärft sich, je weiter oben auf der Pyramide der Provinzler zuhause ist. …

Der Provinzler lebt genau so moralisch bzw. unmoralisch wie der Großstädter … Die moralische Schnellstraße, die das Auto dem Menschen eröffnet hat, kennt der Provinzler mindestens genausogut wie der Großstädter. Nein, die Konventionen der Provinz sind sozialer Art: sie haben dafür zu sorgen, daß die Kontinuität der unentrinnbaren Gruppe gewahrt bleibt. Der Großstädter, der Jäger im kleinen Clan, tut sich leicht: er kann jede beliebige soziale Katastrophe zurücklassen und morgen einen neuen Haufen finden – oder eine neue Einsamkeit, je nachdem. …

Das erklärt die Notwendigkeit der kulturellen Signal-Verspätung. Kulturelle Signale können erst dann aufgenommen werden, wenn sie konventionsfähig werden. … Wer [in der Provinz] wirklich unkonventionell sein will (und es auch fertigbringt), der wird notwendig zum Einsiedler … [Man] findet … überall in der Provinz diese Eremiten. Sie sind kulturell unfruchtbar. …[Meist] sind sie Käuze, Erfinder von längst Erfundenem, Denker von längst Gedachtem, Querköpfe, Querflieger und Querschießer. …

Nun hat natürlich dieser Zustand der Konvention seine positive Seite: … Der Provinzler ist, aufs Ganze gesehen, politisch und sozial leistungsfähiger als der Großstädter. … Auch wo die Interessen regieren (und wo regieren die nicht?), sind sie nirgends anonym, sondern leicht mit Personen zu identifizieren. … Auf diesem Feld trainiert die Provinz eine große Schar von Politikern und entsendet sie auf weitere Felder der Aktion.”

aus: Carl Amery: Der Provinzler und sein Schicksal. In: ders. (Hg.): Die Provinz. Kritik einer Lebensform. München: Nymphenburger 1964, S.5-12.

08/10/2007 (21:49) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

3 Responses to “Provinz”

  1. malte Says:

    Ermöglicht das Internet dem unkonventionellen Provinzler herauszukommen aus dem Eremitendasein? Im Gegensatz zu den traditionellen Medien gibt es hier mehr Interaktivität, reicht das zur Teilhabe am Leben der Metropolen?

  2. mike Says:

    Hallo malte,
    ich denke nicht: Du kannst dich dank der Medien auch in der Provinz besser bilden, aber kaum den Zwängen der Konvention entziehen. Wenn du dein Dasein in der Provinz fristen, Geschäfte machen, deinen Lebensunterhalt verdienen willst, (gesellschaftliche) Anerkennung erfahren willst, gibt es kaum Nischen, um sich den sozialen Zwängen zu entziehen.
    Die lockerere und kritischere Art der sozialen Beziehungen triffst du eher in Großstädten unter den Intellektuellen. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass es solche intellektuellen Nischen auch in der Provinz gibt, z.B. im Umfeld von Universitäten oder “innovativen Milieus”

  3. malte Says:

    Hallo,
    Danke schön! Das war jetzt der erste Diskussionsbeitrag, seit ich in den letzten Wochen meine Seiten in einen Blog hinüberkopiert habe :-)
    Wenn ich Deine Webseiten richtig interpretiere, bist Du hauptberuflich Provinzforscher? Bei uns in der Großstadt Brüssel bleiben zwei Drittel aller Schüler mindestens einmal sitzen, schaffen viele noch nicht einmal ihren Hauptschulabschluß und sind 40% aller Jugendlichen arbeitslos. Stimmt die These, daß in der Provinz weniger Jugendliche aus dem Bildungssystem herausfallen, weil dort weniger Ablenkung sei?