MALTE WOYDT

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Wohlstand 2022

“Richtig kritisch dürfte es nur für Unternehmen werden, die sehr viel Energie brauchen, zugleich stark unter [außereuropäischem] Konkurrenzdruck stehen – und keine hohen Gewinne haben … Und siehe da: So unglücklich sieht es … nur in wenigen Zweigen der Industrie aus.

Die Hersteller von Getränken etwa verbrauchen zwar viel Energie, haben aber hohe Margen – und stehen kaum in Wettbewerb mit Konkurrenten aus Übersee. … Umgekehrt konkurrieren etwa Hersteller von elektrischen Ausrüstungen zwar stark mit außereuropäischen Anbietern – brauchen dafür aber wenig Energie und Gas. Dazwischen liegen Branchen wie die Bekleidungsindustrie, bei denen zwar der Anteil von Gas hoch ist, aber die Energiekosten insgesamt nicht so ins Gewicht fallen. Zudem sind die Margen derzeit stattlich …

Nimmt man all diese Fälle aus … bleiben nur wenige sehr energieintensive Branchen übrig, die tatsächlich akut in Gefahr sind …: vor allem Firmen, die Glas, Keramik und Textilien, sowie mit Abstrichen jene, die Metalle herstellen.

Nun eine Kernschmelze der kompletten Industrie zu beschwören, ist nur absurd. Zumal es im Rest der Wirtschaft seit Jahren schon den Trend gibt, mit immer weniger Energie auszukommen … In Studien sei bislang kein systematischer Zusammenhang zwischen Energiepreisen und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft festgestellt worden. Historische Beispiele von großen Energiekostenschocks wie etwa in Japan nach Fukushima ließen nicht befürchten, dass dadurch eine Deindustrialisierung ausgelöst wird.

Wenn energieintensive Industrien in einem Land schwinden, dessen erklärtes Ziel es ist, nicht mehr energieintensiv zu sein, um das Klima zu retten, dann ist es [übrigens] ziemlich widersinnig, darüber zu klagen …

Umso absurder wirkt das Gejammer, dass wir gerade jäh unseren Wohlstand verlieren. … Der Export liegt auf Rekordniveau. Die Deutschen bekommen … [schon] gerade spürbar weniger für ihr Geld … Entscheidend [aber] ist, ob das so bleibt. Inzwischen schwinden die Lieferengpässe, was manche Preise schon wieder sinken lässt. Ähnliches gilt für Energie. …

Selbst eine so schnelle Korrektur der zuletzt exzessiv gestiegenen Energiepreise wird nicht reichen, um die Verteuerung der Lebenshaltungskosten aus dem vergangenen Jahr völlig wettzumachen. … [Aber] es wäre [andererseits auch] nicht das erste Mal, dass nach einer spekulationsgetriebenen Preisexplosion die Rohstoffkurse kollabieren. …”

aus: Thomas Fricke: Wohlstand am Ende? Deutschlands irre Lust am eigenen Untergang. Spiuegel Online, 18.11.2022, im Internet.

11/22

19/11/2022 (19:25) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ökologischer Fußabdruck 2

“… Im Jahr 2004 fliegt Wackernagel nach New York. Er weiß noch, wie er die Treppen zur Metro hinabsteigt und ihn plötzlich von allen Wänden ein Satz anschaut: What on Earth is a carbon footprint? …

Der Mineralölkonzern BP hat in diesen Tagen seine große Kampagne veröffentlicht …: Wie groß ist Ihr Fußabdruck? … Reduzieren Sie Ihren Fußabdruck. Aber finden Sie erst heraus, was das ist. Wenig später veröffentlicht BP auf seiner Website den ersten Rechner, mit dem jeder Mensch seinen eigenen Fußabdruck kalkulieren kann.

… Ein Text wird eingeblendet, dass BP nun saubereres Benzin verkaufe. Dann kommt das Logo von BP mit der Sonnenblume. ‘It’s a start.’ …

20 Jahre nach Beginn der Kampagne ist das Unternehmen immer noch ein fossiler Konzern. Laut einer Studie ist BP allein für 1,5 Prozent der weltweiten Emissionen zwischen 1988 und 2015 verantwortlich. …

Nicht die Konzerne, nicht die Politik müssten sich ändern, sondern nur der Konsum des Einzelnen. … Wis­sen­schaft­le­r:in­nen am MIT haben einmal ausgerechnet, dass selbst ein obdachloser US-Amerikaner ohne Auto einen Fußabdruck von über 8 Tonnen Kohlendioxid im Jahr hätte. In einer fossilen Gesellschaft kann niemand seinen Fußabdruck auf einen Wert senken, der die Welt nachhaltig machen würde.”

aus: Kersten Augustin: Wir haben uns verrechnet. Ökologischer Fußabdruck und Klimakrise, taz online, 15.11.22, im Internet.

Abb.: BP campaigm 2004, The Guardian, im Internet.

11/22

16/11/2022 (0:38) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Linksliberalismus

“War schon die Verbindung von links und liberal eine spannende Angelegenheit, so ist der Linksneoliberalismus, in dem sich offenkundig ganze Szenen und Schichten eingerichtet haben, nur in einer Blase zu ertragen, in der sich politische Ohnmacht, ökonomische Korruption und kulturelle Privilegien mit einer beständigen Performance der eigenen moralischen Überlegenheit verbinden lässt.

In dieser Blase scheint man vordringlich damit beschäftigt, die Werte des neuen und alten Liberalismus in Sprach- und Zeichennormen zu verwandeln. …

Das ‘links’ hatte einst die Gefahr einer Leninisierung mit sich gebracht, … und nun zeigt das ‘liberal’ in linksliberal die Gefahr einer Calvinisierung: Die Gemeinde wird zu einem Instrument der wechselseitigen Überwachung und Maßregelung. …

Das ist keineswegs auf … Gendern, Canceln und dergleichen beschränkt … Die Calvinisierung der postlinksliberalen Milieus geht tiefer. Sie bringt das gegenseitige Misstrauen, die Furcht vor intellektueller ‘Ausgelassenheit’ und ein unangenehmes Eiferertum hervor.

Wo man sich zuvor über die gemeinsamen Werte freute, fühlt man sich nun von den Normen unterdrückt. … Mit einer Norm kann man keinen Wert erzeugen. Nur die Entscheidung zwischen Unterwerfung und Trotz. … Das linksliberale Milieu, unser Milieu, braucht dringend frische Luft.”

aus: Georg Seeslen: Korrumpierte Linksliberale: Frische linke Luft braucht’s, taz online, 10.11.22, im Internet.

11/22

10/11/2022 (2:40) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Autos

“Sie sind bunt, im Schnitt 4,60 mal 1,90 Meter groß und stehen 23 Stunden täglich am selben Platz.”

aus: Diese Berliner Kieze bestehen am meisten aus Parkplätzen , Tagesspiegel Online, 31.10.22, im Internet Externer link-symbol

Abb.: César: Compression Voiture Venise 1995, im Internet Externer link-symbol

11/22

01/11/2022 (11:22) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Deutscher Geist

“Die deutsche Revolution wird darum nicht milder und sanfter ausfallen, weil die Kantesche Kritik, der Fichtesche Transzendentalidealismus und gar die Naturphilosophie derselben vorausging. …

Es werden Kantianer zum Vorschein kommen, die auch in der Erscheinungswelt von keiner Pietät etwas wissen wollen, und erbarmungslos, mit Schwert und Beil, den Boden unseres europäischen Lebens durchwühlen, um auch die letzten Wurzeln der Vergangenheit auszurotten.

Es werden bewaffnete Fichteaner auf den Schauplatz treten, die in ihrem Willensfanatismus, weder durch Furcht noch durch Eigennutz zu bändigen sind; denn sie leben im Geiste, sie trotzen der Materie …

Doch noch schrecklicher als alles wären Naturphilosophen, die … sich mit dem Zerstörungswerk selbst identifizieren würden. Denn wenn die Hand des Kantianers stark und sicher zuschlägt, weil sein Herz von keiner traditionellen Ehrfurcht bewegt wird; wenn der Fichteaner mutvoll jeder Gefahr trotzt, weil sie für ihn in der Realität gar nicht existiert: so wird der Naturphilosoph dadurch furchtbar sein, daß … er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann, und daß alsdann in ihm jene Kampflust erwacht, … die nicht kämpft um zu vernichten, noch um zu siegen, sondern bloß um zu kämpfen. …

Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. …

Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte. …

Ihr habt von dem befreiten Deutschland mehr zu fürchten, als von der ganzen heiligen Allianz mitsamt allen Kroaten und Kosaken. … Wir … vergessen nichts. … wenn wir mal Lust bekommen mit Euch anzubinden, so wird es uns nicht an triftigen Gründen fehlen.”

aus: Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1835), hier in: Heines Werke in fünf Bänden, Weimar: Volksverlag 1962, Bd.5, S.139-142, auch im Internet Externer link-symbol

Abb.: Wilhelm Busch: Max und  Moritz, im Internet.

10/22

21/10/2022 (12:12) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Reformation

“Der Priester wird Mensch und nimmt ein Weib und zeugt Kinder, wie Gott es verlangt. Dagegen Gott selbst wird wieder ein himmlischer Hagestolz ohne Familie; die Legitimität seines Sohnes wird bestritten; die Heiligen werden abgedankt; den Engeln werden die Flügel beschnitten; die Mutter Gottes verliert alle ihre Ansprüche an die himmlische Krone, und es wird ihr untersagt, Wunder zu tun.”

aus: Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1835), hier in: Heines Werke in fünf Bänden, Weimar: Volksverlag 1962, Bd.5, S.40, auch im Internet Externer link-symbol

Abb.: Katarzyna Gorna: Madonny, 1997, detail, Atelier 340.

10/22

19/10/2022 (0:12) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Smartphone 1

“Der materielle und energetische Aufwand zur Erzeugung … [von] Smartphone und Kühlschrank ist etwas gleich groß; das Smartphone konsumiert in der Anwendung aber mehr Energie und wird häufiger gegen ein neues ausgetauscht.”

aus: Harald Welzer: Die smarte Diktatur, der Angriff auf unsere Freiheit. Frankfurt(Main): S.Fischer 2016, S.65.

Abb.: Ganzeer: Planet capitalist, 2010, im Internet.

10/22

15/10/2022 (22:50) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Leistung

“Angeblich ist die FDP die Partei, bei der es so sehr auf die eigene Leistung ankommt, dann frage ich mich, warum wir immer noch ein Bildungssystem haben, bei dem es auf alles Mögliche ankommt, Wohnort, Studienabschluss der Eltern, Zugang zu Lehrern, nur nicht auf Leistung. Das ist schon Arbeitsverweigerung.”

aus: Sabine Rennefanz: FDP – die Partei der Verantwortungslosen, Eine Koalition wie eine WhatsApp-Gruppe, Spiegel Online, 13.10.22, im Internet Externer link-symbol

10/22

13/10/2022 (23:11) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Faschismus

“Faschismus ist im Kern ein Regelwerk für den Kampf. Jeder ideologische Quadratzentimeter des Faschismus, die Helden- und Führerverehrung, die Anbetung der Stärke, der damit einhergehende Hass auf alles Schwache, die Übervereinfachung der Welt, der oft antiintellektuelle Irrationalismus, die Ablehnung der Vielfalt, Meinungspluralität und -freiheit, der Nationalismus, der Traditionenkult und so fort: Faschismus verwandelt eine Gesellschaft in eine Kampfmaschine. …

Der Kampf des heutigen, modernen Faschismus gilt einem vermeintlichen Feind im Innern, nämlich der freien, vielfältigen und offenen Gesellschaft. Also dem präzisen Gegenteil des rassistischen, antisemitischen Patriarchats. Dessen Wiedererrichtung ist das Ziel der heutigen faschistischen Bewegungen. …

Italien war in Europa sehr früh und heftig von der Coronapandemie betroffen, … [weshalb] zeitweise sehr harte Coronamaßnahmen ergriffen wurden, unter denen wiederum die Gesellschaft sehr litt. …

Viele Maßnahmen-Gegner taumelten … zwischen Coronaleugnung, Impfgegnerschaft und Verschwörungstheorie umher. Dann tat sich ein für manche verlockendes Angebot auf, das direkt auf dem faschistischen Hass auf Schwache basierte. Die Abschaffung aller Maßnahmen hätte schließlich ‘nur’ die Schwachen getroffen. Plötzlich entstand eine Coronaquerfront aus Bürgerlichen und Faschisten, die … sich darin trafen, dass sie für die Wiederherstellung ihres eigenen, normalen Alltags das Leben von Schwächeren zu opfern bereit waren. Die ‘Stärkung’ des ‘Volkes’ durch ‘Entfernung’ der Schwachen  …”

aus: Sascha Lobo: Das Land ist hoffnungsvoll verloren, Spiegel online, 28.9.22, im Internet Externer link-symbol

09/22

29/09/2022 (17:25) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Winnetou

“Was ist das für ein Land, in dem man nicht einmal mehr sagen darf, dass man als Kind gerne Indianerhäuptling geworden wäre? …

Sind die Karl-May-Indianer nicht primär eine Fantasieschöpfung, an der ihre Erschaffer ebenso viel (oder ebenso wenig) Eigentumsrechte besitzen wie die indigenen Bewohner Nordamerikas, die sich ja nicht umsonst in den Apachen und Komantschen aus den Winnetou-Romanen nicht wiedererkennen? … Gerade Fantasiebilder können  [allerdings] in ihrer Erschaffung und Fixierung von Stereotypen einen rassistischen oder sonst wie diskriminierenden Charakter besitzen. …

Natürlich zeigt sich im ‘Wunsch, Indianer zu werden’ zunächst auch der Wunsch danach, einer Kultur anzugehören, die ursprünglicher, naturverbundener, authentischer scheint als die eigene. In der Karl-May-Version der Winnetou-Figur kommt dieser Wunsch überdeutlich zum Ausdruck. …

Zugleich ist es kein Zufall, dass sich die Begeisterung der deutschen Gesellschaft für … Winnetou … gerade in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltet hat. … Dass die Deutschen sich … [damals] so intensiv mit der Figur des Indianers identifizieren, liegt … auch daran, dass jenes Volk, das gerade erst selber einen Genozid an den europäischen Juden vollzogen hat, aus der Rolle der Täter in die der Opfer hinüberzuwechseln versucht.  Wobei die guten Cowboys … bei Karl May ja immer Deutsche im Ausland sind, die hier nun als strahlende Helden den bedrängten Indianern beistehen, als ‘white saviours’, wie man heute sagen würde. … Man befindet sich … auf der richtigen Seite der Geschichte. …

[Doch] in dieser ‘ethnischen Appropriation‘ … ist … noch etwas anderes versteckt, … was die Faszination mit den Indianern eigentlich erst interessant macht. … In der westdeutschen Provinz der 1970er Jahre war es völlig selbstverständlich, dass Jungen kurze und Mädchen lange Haare trugen, dass Mädchen sich – manchmal – schminken, Jungen hingegen nie. Wer als Junge lieber lange Haare trug und sich eventuell sogar einmal mit dem Nagellack seiner Schwester die Fingernägel lackierte, befand sich sofort in der Position des verspotteten Außenseiters – es sei denn, er rechtfertigte diese Praxis dadurch, dass er eben in ein Indianerkostüm schlüpfte. … Indianerkostüme … [waren] Kostüme der geschlechtlichen Transgression. …

Nicht nur die Karl-May-Freunde … kostümierten sich als ‘Indianer’, sondern auch die Hippies in aller Welt. … Die antiimperialistische Linke identifizierte sich bevorzugt mit den Befreiungskämpfen ‘einfacher’, unentfremdeter Völker aus den Regenwäldern und Wüsten der ‘Dritten Welt’. Das beliebteste Fashion item in dieser Zeit war das sogenannte Arafat-Tuch. … Arafat [war] der Winnetou der linken Alternativkultur. …”

aus: Jens Balzer: Ethik der Appropriation. Berlin: Matthes & Seitz 2022, S. 11, 15, 60-63, 78

Abb.: Malte Woydt …

09/22

15/09/2022 (23:26) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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