MALTE WOYDT

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Wendehälse

“Es sollten nicht Meinungen übertragen, sondern erarbeitet, das Denken und die Verantwortung für die Entscheidung sollte keinem abgenommen werden, damit er immer aus eigener kritischer Sicht Entscheidungen fällen könnte.

1935 hatte ich im KZ Oranienburg Gelegenheit, diese Diskussion fortzusetzen. Ich war dort mit vielen mittleren Funktionären der SPD und KPD zusammen. Man war besonders betroffen über die vielen ‘Verräter’ aus ihren Verbänden. Bestürzt waren wir alle über den reibungslosen Übergang vieler Mitglieder des Rot-Front-Kämpferbundes zur SA. Ich versuchte zu erklären, wie leicht Meinungen zu verändern sind, wenn es nicht gelingt, sie fest im Menschen zu verankern, und dies kann nur geschehen, wenn sie vorher die freie und selbst gesuchte Entscheidung gehabt haben und gewohnt sind, auch diese immer kritisch weiterzuentwickeln. …

Das soziale Verhalten muß zuerst ein Lebenselement in dem jungen Menschen werden, bevor eine Ideologie mehr wert ist als ein reines Hemd, das man anzieht.”

aus: Max Fürst: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. München: dtv 1976 (1973), S.220/221.

11/21

28/11/2021 (1:31) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Wissen 2


“Am Anfang des Jahrhunderts hatten die Arbeitervereine die Parole ausgegeben: ‘Wissen ist Macht‘. Auch das erweist sich als höchst zweideutig. Das aufbereitete Wissen hindert sehr oft das Denken. Wissen ist etwas sehr Zwiespältiges. Erst mit kritischem Denken zusammen wird es lebendig. Ich habe sehr oft Arbeiter getroffen, die mit übermenschlichem Kraftaufwand sich Wissen in den bürgerlichen Schulen und Volkshochschulen aneigneten, um dann völlig erschöpft in untergeordneten Stellen der bürgerlichen Welt zu landen. Es reizten uns die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, an denen die Arbeiteraufklärung ebenso wie unsere Schule hängengeblieben war …”

aus: Max Fürst: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. München: dtv 1976 (1973), S.212.

Abb.: Yinka Shonibare: Boy balancing knowledge, im Internet.

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26/11/2021 (17:41) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Märtyrer

“Es gibt genügend jüdisches Martyrium, und man weiß nicht, wie man je froh sein kann, wenn man sich das vergegenwärtigt. Wer aber wie ich damals dem Leben entgegenging, wollte sich nicht von Toten erpreßt sehen. Ich war schon damals instinktiv voller Abneigung gegen den Kult mit den Toten, die dazu benutzt wurden, die Lebenden in eine bestimmte Richtung zu pressen. Die Märtyrer wie die Kriegstoten werden immer von denen mißbraucht, die sich zu den Erben der Toten aufgeschwungen haben und die ja die Überlebenden sind, und hoffen, es immer zu bleiben …”

aus: Max Fürst: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. München: dtv 1976 (1973), S.138/139.

11/21

26/11/2021 (12:07) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Zehn Gebote

“Was denkt man sich eigentlich dabei, wenn der in der Welt der Schulbücher behütete Schüler die Zehn Gebote auswendig lernen soll. … Bald … hatte ich Schwierigkeiten mit dem ‘ehren von Vater und Mutter’. Das war doch unmöglich so unbesehen hinzunehmen. Natürlich konnte man es bei meinen Eltern, die mir gegenüber meistens recht hatten, aber ohne Kritik ehren, das ging mir gar nicht ein …

Nun, wenn ich den Vers mit dem Ehebrechen heruntersagte, dachte ich nicht viel dabei. Töten und Stehlen war schlecht, und ich wußte ja, daß ich das nicht tun sollte, aber wenn man nur die Schwestern bestahl, war es nicht so schlimm. Die Sache mit dem Nicht-Gelüsten-Lassen nach dem Weibe deines Nächsten war schon anders, denn das ‘Wort ‘Gelüsten’ haftete plötzlich, und es war schon wert, darüber nachzudenken., daß man nicht nur auf Marmelade und Kartoffelflinsen, sondern auch auf ein Weib Lust haben konnte. Andererseits konnte man sich unter Weib nicht so recht etwas vorstellen. Meine Mutter und Tanten waren Damen, vielleicht Frauen, meine Schwestern waren Mädchen. Die Fischweiber vom Markt konnte man kaum mit der Lust in Verbindung bringen, aber es gab ja auch Bilder in den Zeitschriften, die unten im Notenpult lagen; vielleicht waren das Weiber. Es gab viele Überlegungen, und der Fall wurde erst etwas später geklärt.

Richtige Schwierigkeiten hatte ich aber bald mit dem ‘eifernden Gott, der da ahndet die Schuld der Väter an den Kindern‘ … Mich befriedigte … bald die Feststellung nicht mehr, daß es eine Tatsache ist, daß die Kinder und Enkelkinder für die Untaten der Eltern büßen müssen. Ich sah das ein, aber ich war wohl damals zu sehr Individualist, als daß ich einen Gott akzeptieren konnte, der Kollektivstrafen verhängt. Das kam mir zu heidnisch vor. Der Fluch, der auf Ödipus’ Geschlecht ruht, ist zwar dramatisch, aber für die Gegenwart graute es mir bei dem Gedanken, von den Taten meiner Großeltern abhängig zu sein …”

aus: Max Fürst: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. München: dtv 1976 (1973), S.129/130.

Abb.: Udo Lindenberg: Zehn Gebote, im Internet.

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25/11/2021 (18:52) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Körperliche Arbeit

“Die Idee, daß die Technik zur Erleichterung des Lebens gebraucht werden könnte, war kaum geboren. Dem standen auch die vielen Sprichwörter entgegen, vom ‘früh sich krümmen’ und dem schrecklichen ‘sauren Schweiß’, der eine Arbeit und auch das Leben erst wertvoll werden ließ. All die vielen Sprichworte und Kalendersprüche, die heute verschimmelt sind und zu Dutzenden unter Hohngelächter verramscht werden, wurden auf uns losgelassen. Mir jedenfalls kam das Lob der körperlichen Arbeit sehr gelegen, besonders seit ich in der Sexta war. Büffeln war für mich eine Unmöglichkeit …”

aus: Max Fürst: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. München: dtv 1976 (1973), S.79.

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24/11/2021 (17:59) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Kulturelle Aneignung 1

“Im Video zu ihrem Song Blood, Sweat and Tears tanzen BTS zu flotten R-’n’-B-Rhythmen und mit Autotune bearbeitetem Gesang durch ein Museum mit griechischen Statuen. Zu Beginn versenken sie sich in das Gemälde Der Sturz der rebellierenden Engel von Pieter Bruegel dem Älteren. Am Ende küsst einer der BTS-Jungs die Statue eines Engels mit schwarzen Flügeln, um schließlich vor einem schwarzen Spiegel niederzuknien, über dem eine in Stein gehauene deutschsprachige Inschrift prangt: ‘Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können’ – aus der Vorrede zu Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra.”

aus: Jens Balzer: K-Pop – Hallyu, ihr alle!, Zeit-online 17.11.21, im Internet.

Abb.: Erik Pauhrizi: 100% Appropriation Art, 2012, indoartnow, im Internet.

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22/11/2021 (1:14) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Spaltung

“Mit maximaler Durchlässigkeit an der Blödsinnsflanke ist niemandem geholfen. Was es jetzt braucht, ist nicht mehr Offenheit, sondern ein scharfer Keil. Einer, der die Gesellschaft spaltet. Wenn davon die Rede ist, entsteht schnell ein Zerrbild im Kopf, als würde das Land in zwei gleich große Teile zerfallen. Doch so ist es nicht. Richtig und tief eingeschlagen, trennt er den gefährlichen vom gefährdeten Teil der Gesellschaft.

Sicher, es ist nicht ganz leicht, den Spaltpunkt exakt zu treffen. Liegt er zu weit außerhalb, können die Extreme weiter wachsen. Liegt er zu weit innerhalb, gehen legitime kritische Stimmen verloren. Man wird diese Grenze immer wieder neu austarieren müssen. Ein Anfang wäre ja schon, alles nicht faktenbasierte, unwissenschaftliche und staatsfeindliche auszuschließen. Falschbehauptungen sind keine Meinung, Hetze ist keine berechtigte Sorge. Wer das nicht begreift, gehört auf die andere Seite. Dann ist Spaltung nicht das Problem, sondern Teil einer Lösung. Denn nur wenn Ruhe ist vor diesem Geschrei, lässt sich geduldig reden mit denen, die nah an der Kante stehen.”

aus: Christian Vooren: Die Gesellschaft muss sich spalten! ZEIT-Online 19.11.21, im Internet

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20/11/2021 (0:36) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Buchwissen

“Von der Weisheit aber verleihst du deinen Schülern den Schein, nicht die Wahrheit. Denn wenn sie vieles von dir ohne Unterricht gehört haben, so dünken sie sich auch Vielwisser zu sein, da sie doch größtenteils Nichtwisser sind, und sie sind lästig im Umgang, da sie statt Weise Dünkelweise geworden sind.”

aus: Platon: Phaidros oder vom Schönen, zitiert bei Yuk Hui: Die Frage nach der Technik in China. Berlin: Matthes & Seitz 2020, S.94.

Abb.: Asmudjo Jono Irianto: Unoriginal Sin, 2014, Detail, indoartnow, im Internet.

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08/11/2021 (2:40) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Maschinen

“Wenn einer Maschinen benützt, so betreibt er all seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz. Wenn einer aber ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren: Bei wem die reine Einfalt hin ist, der wird ungewiß in den Regungen seines Geistes. Ungewißheit in den Regungen des Geistes ist etwas, das sich mit dem wahren Dao nicht verträgt. Nicht, daß ich solche Dinge nicht kennte: ich schäme mich, sie anzuwenden.”

aus: Dschuang  Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, hier zitiert bei: Yuk Hui: Die Frage nach der Technik in China. Berlin: Matthes & Seitz 2020, S.91/92.

Abb.: Koreanisches Filmposter zu Charlie Chaplin: Modern Times, im Internet.

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08/11/2021 (2:30) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Kaffeehaus

“George Steiner … definiert die europäische Idee anhand von fünf Parametern …: erstens das Kaffeehaus (‘ Solange es Kaffeehäuser gibt, so lange hat die europäische Idee einen Inhalt’) …

Das ist sehr seltsam, denn gerade das Kaffeehaus ist eine durch und durch orientalische Erfindung, ein Import aus Westasien. Und zwar nicht nur das Haus des Kaffeeausschanks, sondern als Ort des Diskutierens, Träumens, Schachspielens und Zeitvertreibens – genauso wie ihn Steiner beschreibt. Ca. 1640 öffnete das erste zentraleuropäische Kaffeehaus in Venedig. Schon vorher gab es allerdings Kaffeehäuser in Mekka um 1500, dann in Kairo, Damaskus, ab etwa 1555 in Istanbul und damit erstmals in Europa, ab etwa 1600 in Qazwin und Isfahan in Iran. Die ‘Kultur des Cafés’ ist noch heute eine derjenigen Institutionen, die europäische, nordafrikanische und westasiatische Länder kulturell miteinander verbindet.”

aus: Dag Nikolaus Hasse: Was ist europäisch? Ditzingen: Reclam 2021, S.67-69.

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04/11/2021 (0:28) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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