MALTE WOYDT

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Zivilgesellschaft

“Die übergroße Mehrzahl der Deutschen kann mit dem Wort ‘Zivilgesellschaft’ gar nichts anfangen. Und selbst das ist noch eine Verharmlosung, denn die Deutschen assoziieren damit entweder einen erweiterten Zivildienst oder – noch schöner – einen Ausbau von Zivilstreifen, Zivilgesellschaft = Polizei ohne Uniform!

Warum sich Schröder ausgerechnet in das häßliche Entlein ‘Zivilgesellschaft’ verliebt hat, bleibt ein Rätsel. …

Aufgefordert, das eingedeutschte Fremdwort ‘Zivilgesellschaft’ zu übertragen, schlage ich vor: Zivilgesellschaft heißt zivilcouragierte Gesellschaft. …

Eine Politik der Zivilgesellschaft legt sich mit der tief verwurzelten Staatsgläubigkeit der Deutschen an. … Es wird ausdrücklich Abschied genommen von staatszentrierten Politik-Visionen. … Doch verordnete Zivilcourage – das hat etwas Paradoxes, sehr Deutsches. …

Tatsächlich gibt es eine neoliberale Variante der Zivilgesellschaft, und diese ist die größte denkbare Rationalisierungsmaßnahme im öffentlichen Dienst und in der privaten Wirtschaft. Denn hier sind ‘Selbstverantwortung‘ und ‘Zivilgesellschaft’ nur beschönigende Wörter für eine Politik, die Kosten und Probleme auf den so genannten selbstverantwortlichen Bürger abwälzt. … Individuen werden so zu Müllschluckern aller sozialen und ökonomischen Folgeprobleme privater Gewinnmaximierung und des Staatsabbaus gemacht. …

Gegen diesen neoliberalen Mißbrauch der Zivilgesellschaft wäre es sinnvoll, das Prinzip der Kostenneutralität so zu wenden: Was durch staatliche Reformen eingespart wird, wird in den Ausbau der Zivilgesellschaft reinvestiert. …

Die drei großen ‘Nicht’ der Zivilgesellschaft – Nicht-Klassengesellschaft, Nicht-Ethnische Gesellschaft, Nicht-Arbeitsgesellschaft – machen deutlich, wie weit zivilgesellschaftliche Reformen letztendlich reichen. Solidarität läßt sich durch die Beschwörung des Klassenschicksals … nicht stiften … Es bleibt nur der zivilgesellschaftliche Weg. Das heißt die Mobilisierung des Einzelnen innerhalb geteilter, sozialer Netzwerke.”

aus: Ulrich Beck: Mehr Zivilcourage bitte. In: ders. u.a.: Abschied vom Egokult.Kremmwisch: Koningsfurt 2001, S.40-46.

12/21

16/12/2021 (2:21) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Widerstandsrausch

“Ein Mann ermordet seine Familie. Er erschießt seine drei Kinder, zehn, acht und vier Jahre alt. Und seine Frau. Schließlich tötet er sich selbst. Der Abschiedsbrief des Mannes deutet darauf hin, dass er das Impfzertifikat seiner Frau gefälscht hatte. Weil die Tat aufflog, hatte das Paar offenbar Angst vor Verhaftung und fürchtete, man könnte ihnen die Kinder wegnehmen …

Sechs Tote in wenigen Wochen [sind] ein eindeutiges Zeichen … Auf die Frage, wie diese Taten zusammenhängen mit der Radikalisierung von ‘Querdenkern‘ und Konsorten, lautet eine wahrscheinliche Antwort: Telegram. Sowohl der Tankstellenmörder wie auch der Mann, der seine Familie tötete, hatten Telegram-Accounts. …

Telegram ist strukturell besonders gut geeignet für Radikalisierungen aller Art. … Telegram verbindet die Intimität und Sofortheit von Messengern mit der Viralität und dem News-Gefühl von Social Networks. …

Als Ausgangspunkt der massenhaften Radikalisierung dienen Kanäle und Gruppen bei Telegram, die … nicht nur mit einem Klick abonnierbar [sind], sondern … vor allem auch untereinander leicht verlinkt werden [können]. Dadurch können neue Gruppen und Kanäle in wenigen Stunden Hunderttausende Abonnenten anlocken. … Gleichzeitig kann man anhand der Verlinkungen leicht von Gruppe zu Gruppe springen, jeder Klick führt dann tiefer in die Vernetzung der Communities untereinander hinein – der Beginn des sogenannten Rabbit-Hole-Effekts, mit dem man sich im weit verzweigten Höhlenbau der sozialen Medien verlieren kann. …

Telegram ist das Darknet des kleinen Mannes. … Zuerst fällt die große und noch zunehmende Nähe zu Rechtsextremen auf. … Die Rechtsoffenheit basiert bei den eher bürgerlichesoterischen Teilen der Bewegung auf einer so schlichten wie gefährlichen Sichtweise: Die ‘Coronadiktatur’ sei derart bedrohlich, dass man sich ohne Scheu mit allen verbünden müsse, die dagegen kämpfen. Rechtsextreme nutzen diese spektakuläre Naivität aus und haben so die ursprünglich vielschichtige Bewegung mit einer radikal rechten Schlagseite versehen. …

Weil das Teilen so einfach ist, ergibt sich in vielen Kanälen und Gruppen ein regelrechter Hagelsturm an Verschwörungsinhalten, die zu einem Amalgam der ständig drohenden, kaum mehr überschaubaren Weltuntergänge werden, wie so oft mit antisemitischer Grundierung … Die anhaltenden Maximalbedrohungen von allen Seiten lösen eine Dauererregung aus, die zur Sucht werden kann, aber vor allem die Funktion hat, sich als Opfer zu fühlen. Die Opferpose ermöglicht Radikalisierten, Gewalt anzuwenden, die sie als Widerstand und Notwehr begreifen. …

Bereits ein halbes Dutzend Abonnements und Gruppenmitgliedschaften in einschlägigen Zirkeln reichen bei Telegram völlig aus, um sich in einen dauerhaften Alarm- und Angstzustand hineinzusteigern. Es ist gut erforscht, was dann geschieht – Notsituationen lassen ein evolutionäres Programm im Körper ablaufen, in dem Rationalität und Empathie keine große Rolle mehr spielen und stattdessen uralte Überlebensmechanismen aktiviert werden: Flucht- und Kampfreflexe, die Reduktion von Hemmungen und moralischen Erwägungen, die Neigung zum Freund-Feind-Schema und Schwarz-WeißDenken. Das Ergebnis ist erschütternd: So lässt sich leicht eine selbstverstärkende Radikalisierung gegen die eingebildete Generalbedrohung durch ungefähr alle anderen erzeugen – ich nenne dieses Phänomen Widerstandsrausch, der Telegram-Amokwahn des Social-Media-Zeitalters. Er wird wohl noch viele weitere Opfer kosten.”

aus: Sascha Lobo: Im Widerstandsrausch, Spiegel-Online, 8.12.21, im Internet.

Abb.: Arman Jamparing Seri: Capital Riot #5, 2014, Detail, indoartnow, im Internet.

12/21

10/12/2021 (13:44) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Selbstverantwortung

“Viele Ostdeutsche und Osteuropäer erlebten die 1990er Jahre als immer heftigere Zumutung: … Das Elitenprojekt Sozialabbau, Beschneidung der Daseinsvorsorge, komplementiert mit militanter Forderung von Selbstverantwortung schallt nun aus dem Wald zurück als komplette Unfähigkeit, einen Gemeinschaftsbegriff zu denken. Der Wald bedeckt auch Teile der Mitte der ostdeutschen Gesellschaft.

Von hier halten Menschen einer Mehrheit ihre Hartleibigkeit entgegen, die sie sich im Wettbewerb aller gegen alle angelegt haben. … Sich nicht impfen zu lassen, spiegelt die Selbstbezogenheit, die eine neoliberale Wirtschaftsordnung in die Gesellschaft getragen hat. … Plötzlich können sich Menschen wichtig fühlen, indem sie sich stolz als Störung verstehen. Das Grinsen, mit dem viele auf den Antivax-Demonstrationen auftreten, ist ein Echo auf das Feixen der Kubickis.”

aus: Lennart Laberenz: Der Stolz der Störer, taz online, 8.12.21, im Internet

Abb: Sven Johne: Helden der Arbeit, 2018, Kunstpalast Düsseldorf.

12/21

08/12/2021 (23:20) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Merkeln

Linke vermissen Merkel, weil sie nicht wagen, sich vorzustellen, was für ein geiles Leben wir alle haben könnten. … Die Verehrung, mit der sie nun verabschiedet wird, zeigt, wie viele von uns verlernt haben, politisch überhaupt noch irgendwas zu erwarten. Danke Merkel, echt.”

aus: Margarete Stokowski: Die kuriose Merkel-Verehrung der Linken, Spiegel Online, 8.12.21, im Internet

Abb.: El Mundo, im Internet.

12/21

08/12/2021 (12:59) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Weltanschauung

“Ich kannte so viele Vereine, die die Welt durch Lebensreform, durch Pädagogik ändern wollten, wie ich Splittergruppen der sozialistischen Parteien kannte. Es gab nicht eine, die nicht zeitweise richtige Argumente vorbrachte, und auch nicht eine, die nicht in extremen Situationen ins Abseits führte. Vieles zu wissen – und wann weiß man genug? – und sich nicht in der Aktivität hindern zu lassen, war besonders schwer …”

aus: Max Fürst: Talisman Scheherazade. Die schwierigen zwanziger Jahre. München/Wien: Hanser 1976, S.134

11/21

28/11/2021 (16:51) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Wendehälse

“Es sollten nicht Meinungen übertragen, sondern erarbeitet, das Denken und die Verantwortung für die Entscheidung sollte keinem abgenommen werden, damit er immer aus eigener kritischer Sicht Entscheidungen fällen könnte.

1935 hatte ich im KZ Oranienburg Gelegenheit, diese Diskussion fortzusetzen. Ich war dort mit vielen mittleren Funktionären der SPD und KPD zusammen. Man war besonders betroffen über die vielen ‘Verräter’ aus ihren Verbänden. Bestürzt waren wir alle über den reibungslosen Übergang vieler Mitglieder des Rot-Front-Kämpferbundes zur SA. Ich versuchte zu erklären, wie leicht Meinungen zu verändern sind, wenn es nicht gelingt, sie fest im Menschen zu verankern, und dies kann nur geschehen, wenn sie vorher die freie und selbst gesuchte Entscheidung gehabt haben und gewohnt sind, auch diese immer kritisch weiterzuentwickeln. …

Das soziale Verhalten muß zuerst ein Lebenselement in dem jungen Menschen werden, bevor eine Ideologie mehr wert ist als ein reines Hemd, das man anzieht.”

aus: Max Fürst: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. München: dtv 1976 (1973), S.220/221.

11/21

28/11/2021 (1:31) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Wissen 2


“Am Anfang des Jahrhunderts hatten die Arbeitervereine die Parole ausgegeben: ‘Wissen ist Macht‘. Auch das erweist sich als höchst zweideutig. Das aufbereitete Wissen hindert sehr oft das Denken. Wissen ist etwas sehr Zwiespältiges. Erst mit kritischem Denken zusammen wird es lebendig. Ich habe sehr oft Arbeiter getroffen, die mit übermenschlichem Kraftaufwand sich Wissen in den bürgerlichen Schulen und Volkshochschulen aneigneten, um dann völlig erschöpft in untergeordneten Stellen der bürgerlichen Welt zu landen. Es reizten uns die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, an denen die Arbeiteraufklärung ebenso wie unsere Schule hängengeblieben war …”

aus: Max Fürst: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. München: dtv 1976 (1973), S.212.

Abb.: Yinka Shonibare: Boy balancing knowledge, im Internet.

11/21

26/11/2021 (17:41) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Märtyrer

“Es gibt genügend jüdisches Martyrium, und man weiß nicht, wie man je froh sein kann, wenn man sich das vergegenwärtigt. Wer aber wie ich damals dem Leben entgegenging, wollte sich nicht von Toten erpreßt sehen. Ich war schon damals instinktiv voller Abneigung gegen den Kult mit den Toten, die dazu benutzt wurden, die Lebenden in eine bestimmte Richtung zu pressen. Die Märtyrer wie die Kriegstoten werden immer von denen mißbraucht, die sich zu den Erben der Toten aufgeschwungen haben und die ja die Überlebenden sind, und hoffen, es immer zu bleiben …”

aus: Max Fürst: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. München: dtv 1976 (1973), S.138/139.

Abb.: Jason Bard Yarmosky: Portrait of a young man, 2818, im Internet.

11/21

26/11/2021 (12:07) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Zehn Gebote

“Was denkt man sich eigentlich dabei, wenn der in der Welt der Schulbücher behütete Schüler die Zehn Gebote auswendig lernen soll. … Bald … hatte ich Schwierigkeiten mit dem ‘ehren von Vater und Mutter’. Das war doch unmöglich so unbesehen hinzunehmen. Natürlich konnte man es bei meinen Eltern, die mir gegenüber meistens recht hatten, aber ohne Kritik ehren, das ging mir gar nicht ein …

Nun, wenn ich den Vers mit dem Ehebrechen heruntersagte, dachte ich nicht viel dabei. Töten und Stehlen war schlecht, und ich wußte ja, daß ich das nicht tun sollte, aber wenn man nur die Schwestern bestahl, war es nicht so schlimm. Die Sache mit dem Nicht-Gelüsten-Lassen nach dem Weibe deines Nächsten war schon anders, denn das ‘Wort ‘Gelüsten’ haftete plötzlich, und es war schon wert, darüber nachzudenken., daß man nicht nur auf Marmelade und Kartoffelflinsen, sondern auch auf ein Weib Lust haben konnte. Andererseits konnte man sich unter Weib nicht so recht etwas vorstellen. Meine Mutter und Tanten waren Damen, vielleicht Frauen, meine Schwestern waren Mädchen. Die Fischweiber vom Markt konnte man kaum mit der Lust in Verbindung bringen, aber es gab ja auch Bilder in den Zeitschriften, die unten im Notenpult lagen; vielleicht waren das Weiber. Es gab viele Überlegungen, und der Fall wurde erst etwas später geklärt.

Richtige Schwierigkeiten hatte ich aber bald mit dem ‘eifernden Gott, der da ahndet die Schuld der Väter an den Kindern‘ … Mich befriedigte … bald die Feststellung nicht mehr, daß es eine Tatsache ist, daß die Kinder und Enkelkinder für die Untaten der Eltern büßen müssen. Ich sah das ein, aber ich war wohl damals zu sehr Individualist, als daß ich einen Gott akzeptieren konnte, der Kollektivstrafen verhängt. Das kam mir zu heidnisch vor. Der Fluch, der auf Ödipus’ Geschlecht ruht, ist zwar dramatisch, aber für die Gegenwart graute es mir bei dem Gedanken, von den Taten meiner Großeltern abhängig zu sein …”

aus: Max Fürst: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. München: dtv 1976 (1973), S.129/130.

Abb.: Udo Lindenberg: Zehn Gebote, im Internet.

11/21

25/11/2021 (18:52) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Körperliche Arbeit

“Die Idee, daß die Technik zur Erleichterung des Lebens gebraucht werden könnte, war kaum geboren. Dem standen auch die vielen Sprichwörter entgegen, vom ‘früh sich krümmen’ und dem schrecklichen ‘sauren Schweiß’, der eine Arbeit und auch das Leben erst wertvoll werden ließ. All die vielen Sprichworte und Kalendersprüche, die heute verschimmelt sind und zu Dutzenden unter Hohngelächter verramscht werden, wurden auf uns losgelassen. Mir jedenfalls kam das Lob der körperlichen Arbeit sehr gelegen, besonders seit ich in der Sexta war. Büffeln war für mich eine Unmöglichkeit …”

aus: Max Fürst: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. München: dtv 1976 (1973), S.79.

11/21

24/11/2021 (17:59) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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