MALTE WOYDT

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Erfahrung 1


“Die Chefin eines dynamischen Unternehmens erklärte kürzlich, niemand in ihrem Betrieb dürfe sich seiner Stellung deshalb sicher sein, weil er auf vergangene Verdienste verweisen könne. Wie soll man auf diese These positiv reagieren? Dazu bedarf es einer besonderen Ausprägung der Persönlichkeit, die bereits gemachte Erfahrungen gering schätzt. Diese Persönlichkeitsausprägung ähnelt eher einem Konsumenten, der ständig nach Neuem sucht und dafür selbst noch völlig intakte alte Güter wegwirft, als einem Eigentümer, der eifersüchtig über seinen Besitz wacht. …

Ein kurzfristig orientiertes, auf mögliche Fähigkeiten konzentriertes Ich, das vergangene Erfahrungen bereitwillig aufgibt, ist – freundlich ausgedrückt – eine ungewöhnliche Sorte Mensch. Die meisten Menschen sind nicht von dieser Art. Sie … sind stolz darauf, bestimmte Dinge gut zu können, und legen Wert auf die Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht haben. Das von den neuen Institutionen erhobene Ideal verletzt vieler der in ihnen lebenden Menschen.”

“In den Unternehmen … [die sich so verhalten], hat die Konzentration auf junge Talente zur Folge, dass mit wachsender Erfahrung deren Wert abnimmt. Bei meinen Interviews stellte ich fest, dass diese Abwertung der Erfahrung bei Unternehmensberatern besonders stark ausgeprägt ist. Sie haben ein berufliches Interesse an dieser Denkweise. Da es ihnen um die Veränderung von Institutionen geht, müssen sie gegenüber eingesessenen Mitarbeitern misstrauisch sein, deren angesammeltes institutionelles Wissen sie als Hindernis für raschen Wandel ansehen. …

Avancierte Unternehmen und flexible Organisationen brauchen Menschen, die eher neue Fähigkeiten erwerben als auf ihre alten Qualifikationen bauen. …

Urteile über Fähigkeitspotentiale sind weitaus persönlicher als jede Leistungsbewertung. Leistung verbindet soziale und ökonomische Umstände, Zufälle und Chancen mit dem Ich. Das Fähigkeitspotential betrifft dagegen ausschließlich das Ich. Die Feststellung, ‘Ihnen fehlt das Potential’ ist weitaus verletzender als die Feststellung ‘Sie haben es vermasselt’, denn sie enthält eine sehr viel fundamentalere Feststellung über das, was Sie sind. Sie vermittelt das Gefühl der Nutzlosigkeit …

Schule und Arbeitswelt [unterscheiden] sich in einem entscheidenden Punkt voneinander: Denn obwohl eigentlich niemand etwas an seinen angeborenen Fähigkeiten ändern kann, ist es eine bekannte Tatsache, dass sich durch entsprechende Übung bei Wiederholungstests eine deutlich höhere Punktzahl erreichen lässt. In der Arbeitswelt erhält man hingegen nur selten solch eine zweite Chance. …”

“Die Vorstellung einer von den Erfahrungen unabhängigen Fähigkeit ist … eine Fiktion …” “Welche angeborenen Fähigkeiten ein Mensch auch besitzen mag, zu ihrer Entfaltung gelangt diese Begabung nur schrittweise durch Übung und Wiederholung. … Grundsätzlich sollte jede gut geführte Firma eigentlich den Wunsch haben, dass ihre Beschäftigten aus Fehlern lernen. … In der Praxis tun große Unternehmen dies jedoch nicht. … Wer bei … [der] Auslese der Gruppe der Talentlosen zugeordnet wird, die über keine Ressourcen verfügen, bleibt in der Vorhölle zurück. Diese Menschen können als nicht weiter nützlich oder wertvoll betrachtet werden, ganz gleich, welche Leistung sie früher erbracht haben mögen.”

aus. Richard Sennett: Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berliner Taschenbuchverlag 2007 (Am. Orig.-Ausg. 2005), S. 9, 10, 79, 92, 96, 99, 101, 102, 103, von mir etwas umgestellt.

Abb.: ?, im Internet.

01/08

22/01/2008 (1:22) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Gewerkschaftsmacht

“Szenarien eines unaufhaltsamen Niedergangs der Gewerkschaften suggerieren, die verschiedenen Quellen von Gewerkschaftsmacht würden mehr und mehr versiegen. … [Sicher schwächt] der transformierte Kapitalismus tradierte Formen von Arbeitermacht …, zugleich [bringt er] jedoch neue Machtquellen hervor …, die sich für eine Revitalisierung von Gewerkschaften nutzen lassen.”

“Arbeitermacht [kennt drei Quellen]:

[1)] Strukturelle Macht erwächst aus der Stellung von Lohnabhängigengruppen im ökonomischen System. Sie kann sich in primärer Verhandlungsmacht, die aus angespannten Arbeitsmarktsituationen entspringt, ebenso ausprägen wie in Produktionsmacht, die sich über eine besondere strategische Stellung von Arbeitergruppen im Produktionsprozeß konstituiert…” “Strukturelle Macht wird häufig spontan ausgeübt, sie tritt in Gestalt von … plötzlichen Unruhen auf, als informelle Sabotage oder Absenteismus.”

“[2)] Organisationsmacht [entsteht] aus dem Zusammenschluß zu kollektiven politischen oder gewerkschaftlichen Arbeiterorganisationen … [Sie] ist … prinzipiell auf handlungsfähige Gewerkschaften angewiesen. …”

“[3)] Institutionelle Macht … wurzelt in dem Faktum, daß Institutionen soziale Basiskompromisse über ökonomische Konjunkturen und kurzzeitige Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse hinweg festschreiben und teilweise gesetzlich fixieren. … Institutionelle Macht kann, etwa von Gewerkschaften, auch in Phasen ausgeübt werden, in denen sich bereits eine Schwächung der Organisation abzeichnet. … [Das] setzt dann freilich voraus, daß die Gewerkschaften weiterhin als authentische Repräsentanten der Lohnabhängigen anerkannt werden.”

“Begünstigt durch die außergewöhnlich lange Nachkriegsprosperität, ging die gesellschaftliche Ausweitung und Verallgemeinerung von Lohnarbeit nach 1949 mit einer Tendenz zur Einhegung von Einkommens-, Armuts– und Beschäftigungsrisiken einher. … Die Integrationskraft des Sozialeigentums [reichte] aus, um einer Mehrheit der Lohnabhängigen den Anschluß an die Lebenstile der Mittelschichten zu ermöglichen.”

“[Seit den Neunziger Jahren ist man dabei,] die ‘Fixierungen’ der fordistischen Ära aufzulösen, und sie durch finanzkapitalistische zu ersetzen. … Normen und Funktionsprinzipien des weltmarkt- und gewinnorientierten Bereichs [werden] auf alle anderen Sektoren [übertragen].”

“Das Heer der ‘Arbeitnehmer zweiter Klasse’, der Niedriglöhner, befristet Beschäftigten, Leiharbeiter, Mini- und Midijobber, der ‘proletaroiden’ Selbstständigen und Existenzgründer … das in Deutschland inzwischen nahezu ein Drittel der Beschäftigten stellen dürfte … wirkt auf die Institutionelle Verhandlungsmacht der Gewerkschaften wie ein aggressiver Virus auf ein geschwächtes Immunsystem.”

“Die strukturelle Schwäche organisierter Lohnarbeitsinteressen auf europäischer, inter- und transnationaler Ebene [geht] mit einer neuen Machtkonzentration an der Spitze grenzüberschreitend operierender Unternehmen einher. …”

“Die Fortsetzung einer Politik der Lohnzurückhaltung [würde gegenwärtig] nicht nur wirtschaftliche Ungleichgewichte und soziale Ungleichheit in Europa weiter verstärken; sie würde auch dem Partikularismus kleiner berufsorientierter Gewerkschaften (z:B. Lokführer, Fluglotsen, Ärzte), die vor allem strukturelle Arbeitermacht nutzen, Tür und Tor öffnen … Soll Zersplitterungstendenzen entgegengewirkt werden, müssen die Mitgliedsgewerkschaften den Trend zum Niedergang ihrer Organisationsmacht umkehren. …

[Am erfolgreichsten] bei der Mitgliederwerbung – auch bei prekär Beschäftigten, Migranten und Frauen – sind [jene Gewerkschaften], die sich stärker als soziale Bewegungen profilieren, eine intelligente Kampagneorientierung entwickeln, neue gesellschaftliche Bündnisse zur Stärkung ihrer eigenen Organisationsmacht nutzen und auch vor einer konfliktorischen Politik nicht [zurückschrecken].”

aus: Klaus Dörre, in: Geiselberger, Heinrich (Hg.): Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda, Frankfurt (Main): Suhrkamp 2007, S. 55-71, Zitate von mir etwas umsortiert.

[Dieser “social movement unionism” vereinigt “campaigning” und “organizing”.]

Organizing bezieht sich auf das Verhältnis zur Basis: Auf der einen Seite konzentrieren sich [die] Organisationen … auf die Werbung neuer Mitglieder, vor allem unter Beschäftigten wie Migranten und Frauen – Gruppen, die früher als gewerkschaftsfern und ‘nichtorganisierbar’ galten. … Auf der anderen Seite werden die Mitglieder aktiv in die Kampagnenarbeit eingebunden, sind an der Entwicklung der Strategien mitbeteiligt und gehen im Notfall auch auf die Straße. …

Campaigning dagegen bezieht sich auf das Verhältnis zu den Unternehmen und die Strategien, die in Arbeitskämpfen zum Einsatz kommen. Das können Boykotts sein … aber auch aggressive Medienkampagnen. Dabei setzen die Bewegungsgewerkschafter auf breite Bündnisse mit der Zivilgesellschaft, auf Studenten, Kirchen und politisierte Verbraucher … Schließlich ist es wichtig, … die Probleme der Arbeitnehmer in einen weiteren, moralischen Rahmen zu stellen …”

aus: Geiselberger, Heinrich: Social Movement Unionism, in: ders. (Hg.): Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda, Frankfurt (Main): Suhrkamp 2007, S. S.82-86.

01/08

11/01/2008 (15:34) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Universalität

“… wir [leben] gegenwärtig in einer unipolaren Welt, in der es keine legitimen Kanäle für den Widerstand gegen die Hegemonie der Vereinigten Staaten gibt. … [Es ist] dringend geboten, die Illusion von einer geeinten Welt aufzugeben und an der Gründung einer multipolaren Welt zu arbeiten. … In einer unipolaren Welt wird [Multilateralismus] immer eine Illusion sein. …

… Faktisch bezeugt der Aufstieg Chinas zur Supermacht, daß diese Dynamik der Pluralisierung, weit entfernt, unrealistisch zu sein, bereits in vollem Gange ist. …

… Die Verteidigung eines Gesellschaftsmodells, das sich von dem westlichen unterscheidet, sollte nicht als Ausdruck von Rückständigkeit und als Beweis für den Verbleib auf einer ‘vormodernen‘ Stufe gelten. Es ist höchste Zeit, sich von dem eurozentrischen Dogma zu verabschieden, daß unser Modell einen privilegierten Anspruch darauf hat, als vernünftig und moralisch angesehen zu werden. …

Im Verständnis der westlichen Kultur beinhalten die Menschenrechte die elementaren Kriterien für die Anerkennung der menschlichen Würde und die notwendige Voraussetzung für politische Ordnung. Wir müßten aber die Frage stellen, ob andere Kulturen nicht andere Antworten auf dieselbe Frage geben. Mit anderen Worten: Wir sollten nach funktionalen Äquivalenten der Menschenrechte suchen. … Eine Pluralität von Formulierungen der Idee der Menschenrechte zu akzeptieren, heißt, deren politischen Charakter in den Vordergrund zu stellen. …

Wenn Europa seine Identität bewahren woll, muß es die Idee des ‘Westens‘ selbst in Frage stellen, um eine Dynamik der Pluralisierung freizusetzen, die die Grundlage für den Widerstand gegen die neoliberale Hegemonie schaffen könnte. …

Wenn Europa eine entscheidende Rolle bei der Schaffung einer neuen Weltordnung spielen kann, dann nicht durch das Werben für ein kosmopolitisches Recht, dem sich die ganze ‘vernünftige’ Menschheit unterwerfen sollte, sondern durch einen Beitrag zur Herstellung eines Gleichgewichts zwischen regionalen Polen, deren besonderes Anliegen und Traditionen als wertvoll und deren Ansprüche auf einheimische Demokratiemodelle als berechtigt anerkannt werden.”

aus: Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt (Main): Suhrkamp 2007 (Engl. Orig.-Ausg. 2005), S. 151-169.

01/08

07/01/2008 (0:29) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Weltstaat

“Ich möchte die noblen Intentionen der diversen Befürworter des demokratischen Kosmopolitismus nicht in Abrede stellen. Leider gibt es aber bezüglich der demokratisierenden Wirkung des kosmopolitischen Ansatzes großen Anlaß zur Skepsis. …

Man sollte sich … über die Folgen im klaren sein, den eine Ausdehnung des Rechtsbegriffs über den Nationalstaat hinaus nach sich zöge. … Kosmopolitische Rechte [sind] ohne einen Mechanismus, der sie für ihre Inhaber einklagbar machen könnte, fiktiv …

Wenn der Weltbürger nur durch die außerhalb des repräsentativen Rahmens der liberalen Demokratie agierende globale Zivilgesellschaft repräsentiert werden kann, dann liegen derlei Rechte außerhalb der Kontrolle ihres Inhabers und hängen notwendig von der Vertretung durch zivilgesellschaftliche Institutionen ab. Solche Rechte ohne Inhaber laufen Gefahr, zur Aushöhlung bestehender demokratischer Rechte autonomer Selbstverwaltung benutzt zu werden, etwa wenn zivilgesellschaftliche Institutionen die nationale Souveränität im Namen ‘globalen Interesses’ in Frage stellen. … Die neuen Rechte der Anhänger des Kosmopolitismus sind … eine Chimäre: Es sind moralische Forderungen – keine demokratischen Rechte, die durchgesetzt werden könnten.

Der kosmopolitische Ansatz bringt aber ein noch ernsteres Problem mit sich: die Gefahr, die alten Rechte der Souveränität im Tausch gegen jene fiktiven neuen Rechte zu opfern. Indem er internationalen Institutionen das Recht gibt, Souveränität zu untergraben, um kosmopolitischen Rechten Geltung zu verschaffen, spricht er den Bürgern vieler Länder das demokratische Recht ab, sich selbst zu regieren. …

Robert Dahl … kritisiert das Loblied auf internationale Organisationen, in denen ihre kosmopolitischen Fürsprecher einen weiteren Schritt auf dem langen Marsch der demokratischen Idee von der Polis bis zum Kosmos sehen.

Für Dahl läßt diese Ansicht von Demokratie die Tatsache außen vor, daß alle Entscheidungen, selbst jene von demokratischen Regierungen, grundsätzlich für einige Menschen unvorteilhaft sind, schlicht weil jede gewinnbringende Sache auch Kosten nach sich zieht. … Kosten und Nutzen sind … ungleich verteilt, und die zentrale Frage lautet immer: Wer soll entscheiden und nach welchen Kriterien? Aus diesem Grund ist es so wichtig, daß über die Entscheidungen gestritten werden kann. Wenn das schon auf nationaler Ebene schwierig ist, so ist es nahezu undurchführbar, wenn man sich den Fall eines hypothetischen internationalen Demos vorstellt, bei dem in puncto Größe der Bevölkerung und Macht der einzelnen Staaten große Unterschiede bestehen. … Internationale Entscheidungsfindung [kann] nicht demokratisch sein … Dahl sagt …, daß ‘es keinen Grund gibt, internationale Organisationen ins Mäntelchen der Demokratie zu kleiden, nur um sie mit größerer Legitimität auszustatten.’ Er schlägt vor, sie statt dessen als ‘bürokratische Aushandlungssysteme’ anzusehen, die zwar notwendig sein mögen, die aber auf Kosten der Demokratie agieren …”

aus: Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt (Main): Suhrkamp 2007 (Engl.Orig.-Ausg. 2005), S.131-138. Sie zitiert ausführlich Danilo Zolo: Cosmopolitic Prospects for World Government, Cambridge 1997, David Chandler: New Right für Old? In: Political Studies 51, 2003, S.332-349 und Robert Dahl: Can International Organizations be Democratic? A Sceptical View. In: I. Shapiro / C. Hakker-Cordòn (HG.): Democracy’s Edges, Cambridge 1999, S.25.

01/08

07/01/2008 (0:00) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Parteilichkeit

“Der rationalistische Ansatz kann nicht begreifen, daß das, was Menschen dazu veranlaßt, ihre Stimme abzugeben, viel mehr ist als nur der Wunsch, ihre Interessen zu vertreten. … Politik hat immer eine Dimension leidenschaftlicher Parteilichkeit, und damit Menschen sich für Politik interessieren, müssen sie die Möglichkeit haben, zwischen Parteien zu wählen, die echte Alternativen anbieten. Genau das fehlt aber bei der heutigen Glorifizierung der leidenschaftsfreien und unparteiischen Demokratie.”

aus: Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt(Main): Suhrkamp 2007 (Engl. Orig.-Ausg. 2005), S. 35-41.

01/08

06/01/2008 (22:26) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Gegner

“Während der Antagonismus eine Wir-Sie-Beziehung ist, in der sich Feinde ohne irgendeine gemeinsame Basis gegenüberstehen, ist der Agonismus eine Wir-Sie-Beziehung, bei der die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, daß es für den Konflikt keine rationale Lösung gibt. Sie sind ‘Gegner’, keine Feinde. … Als Hauptaufgabe der Demokratie könnte man die Umwandlung des Antagonismus in Agonismus ansehen.

Aus diesem Grund, ist der ‘Gegner’ ein für demokratische Politik entscheidender Begriff. Das Modell der Gegnerschaft ist als für die Demokratie konstitutiv anzusehen … Die Entstehung antagonistischer Konflikte ist so lange unwahrscheinlich, wie für widerstreitende Stimmen legitime agonistische Artikulationsmöglichkeiten existieren. …

Ich möchte betonen, daß mein Verständnis vom Begriff des ‘Gegners’ scharf von dem gleichlautenden Begriff im liberalen Diskurs unterschieden werden muß. … Für die Liberalen ist ein Gegner lediglich ein Konkurrent. Das Feld der Politik ist für sie ein neutrales Terrain, auf dem verschiedene Gruppen um die Machtpositionen kämpfen, mit dem alleinigen Ziel, andere zu vertreiben, um ihren Platz einzunehmen. Sie … versuchen nicht, die Machtverhältnisse grundlegend zu verändern. Politik ist für sie nur ein Wettstreit zwischen Eliten.

… [Der agonistische Kampf] ist ein Kampf zwischen unvereinbaren hegemonialen Projekten, die niemals rational miteinander versöhnt werden können. … Es ist eine reale Konfrontation, die … durch eine Reihe demokratischer, von den jeweiligen Gegnern akzeptierten Verfahrensweisen reguliert wird. …

[Elias Canetti:] ‘ … Der Gegner der überstimmt wird, fügt sich keineswegs, weil er nun plötzlich an sein Recht nicht mehr glaubt; sondern er gibt sich einfach geschlagen.'”

aus: Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt(Main): Suhrkamp 2007 (Engl. Orig.-Ausg. 2005), S.29-33.

01/08

06/01/2008 (21:51) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Wertewandel

“… Dabei stellte sich als wichtigster Befund heraus, dass es einen entscheidenden Unterschied gibt, der die Werte einer Gesellschaft bestimmt: einerseits Gesellschaften, in denen die Mitglieder aller Klassen oder Schichten, so arm sie im Vergleich zu anderen Angehörigen der Gesellschaft auch sein mögen, ihr Überleben für gesichert halten, und andererseits Gesellschaften, in denen dies nicht der Fall ist. Die Scheidemarke liegt bei rund 10000 Dollar jährlichem Pro-Kopf-Einkommen. Diese Erkenntnis stammt von dem amerikanischen Soziologen Ronald Inglehart …

Wo der individuelle Job entweder keine ausreichende Sicherheit bietet oder gar nicht erst vorhanden ist, zählt das Kollektiv mehr als das Individuum – denn nur das Kollektiv garantiert das Überleben. Dieses Kollektiv ist in der Regel, weltweit an erster Stelle, die Familie. …

Der Wertewandel hinkt … der ökonomischen Entwicklung immer um mehrere Generationen hinterher …

Falls die Türkei in den kommenden Jahren weiterhin hohe wirtschaftliche Wachstumsraten aufweisen und die Gesellschaft insgesamt reicher werden wird, während die wirtschaftliche Entwicklung in den bisher reichsten Ländern der EU weiter stagniert, ist anzunehmen, dass ein relevanter Teil der türkischen Gesellschaft sich bald an die Mehrheit der Menschen innerhalb der EU anpassen wird …”

aus: Jürgen Gottschlich / Dilek Zaptcioglu: Das Kreuz mit den Werten. Über deutsche und türkische Leitkulturen. Hamburg: Körber 2005, S. 44-87.

12/07

06/01/2008 (21:28) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Fremde

Die Türken denken: Dieses Land spricht sehr viel über seine ‘Fremden’, wohl um zu verdrängen, dass es seit Jahrzehnten ein Land ist, in dem zumindest die Bewohner der größeren Städte einander fremd geworden sind und aneinander vorbeileben. In den Augen der Türken sind sich in Deutschland alle Menschen fremd. jeder geht ‘seinen eigenen Dinge‘ nach und hat Angst davor, dabei gestört zu werden. Das Leben besteht daraus, seine eigenen Pläne zu verwirklichen, koste es, was es wolle – das ist der Eindruck den deutsche Bekannte auf Türken oft hinterlassen. Jeder ist auf sich gestellt und will seine Ruhe haben. Deutsche Sätze beginnen stets mit ‘Ich’; von dem Anderen etwas zu erwarten ist verpönt und gilt als Schwäche. … Man lebt und stirbt hier einsam und wird erst entdeckt, wenn der Leichnam zu stinken beginnt. Das sagen die Türken über Deutsche.”

aus: Jürgen Gottschlich / Dilek Zaptcioglu: Das Kreuz mit den Werten. Über deutsche und türkische Leitkulturen. Hamburg: Körber, 2005, S.30/31.

12/07

06/01/2008 (21:04) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Guten Tag

“Die Türken sagen, ‘der Deutsche‘ grüßt immer, zu jeder Gelegenheit mit dem passenden Wort: ‘Guten Morgen‘, ‘Tag’ und ‘Abend’ oder ‘Gute Nacht’. Und ab Mitternacht heißt es dann wieder ‘Guten Morgen’, selbst wenn es draußen noch stockfinster ist, ‘Mahlzeit!’, auch wenn man gerade nichts isst, und ‘Schönen Feierabend’, wenn einem gar nicht nach Feiern zu Mute ist. Das geht den Deutschen mechanisch über die Lippen, und in Wirklichkeit interessiert es ihn nicht besonders, wie es seinem Nachbarn oder Kollegen geht. Der Gruß ist eine Floskel. Aber es ist und bleibt ein Rätsel für Türken, wie der Deutsche an diesem Lippenbekenntnis festhalten kann. Geht mal einer ohne eine Erwiderung an einem so Grüßenden vorbei, wird der Deutsche sich umsehen, als ob man ihm einen lebenswichtigen Wunsch abgeschlagen hätte.”

aus: Jürgen Gottschlich / Dilek Zaptcioglu: Das Kreuz mit den Werten. Über deutsche und türkische Leitkulturen. Hamburg: Körber 2005, S.30.

12/07

06/01/2008 (12:45) Schlagworte: DE,Lesebuch ::