MALTE WOYDT

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Nichtleser

“Wer nicht liest ist doof. … Die Lust an der Literatur ist auch die Lust am Leben. Die Kunst zu lesen, in ein Buch hineinzufallen, darin zu versinken, kaum noch auftauchen zu können, ist ein Stück Lebenskunst. Das setzt natürlich den Willen voraus, sich auf Geschichten einzulassen, sich aktiv ins Buch hinein zu begeben, sich bewußt von den Reizen und Zerstreuungen anderer Medien abzuwenden. Dann kann es eine wunderbare ewige Liebesgeschichte werden – die zwischen einem Buch und einem leidenschaftlichen Leser. Und sind die nicht blöde, die der Liebe ausweichen, wenn sie uns begegnet? …

Und doch, es ist tatsächlich so: nicht jeder kann lesen. Man muß für das Lesen eine Begabung haben wie für das Malen und das Klavierspielen – sonst wird nichts Rechtes daraus. Es gibt Menschen, die macht die stille Konfrontation mit dem Buch kribbelig. … Wir können diese Menschen ein wenig bedauern, wir möchten auch nicht unbedingt lange Abende mit ihnen verbringen, wir müssen sie aber nicht verachten. Verachtenswert hingegen sind die Bildungskoketteure, die in ihrer Kindheit gelesen haben und jetzt seufzen: ‘Ach, wie ich Sie beneide, weil Sie soviel lesen! Das möchte ich auch, aber ich komm einfach nicht mehr dazu.’ Und auf die, nur auf die, trifft die Behauptung zu, daß, wer nicht (mehr) liest), auch irgendwie doof ist – deshalb heißt es hier: rote Karte, Platzverweis, Liebesentzug. Sie kommen, Verehrsteste(r), zum Friseurbesuch, zum Stadtbummel, zum Autowaschen, Sie strampeln für Ihre Karriere, Sie verbringen lange Abende über Hirschragout an Preiselbeerschaum oder mit der Bohrmaschine im Bastelkeller, Sie trainieren sich fit und sitzen vorm Fernseher, um das Literarische Quartett zu ertragen, und dann kaufen Sie die dort wie auch immer ‘besprochenen‘ Bücher, stapeln sie auf dem Nachttisch, aber zum Lesen kommen Sie nicht? Wer es braucht, tut’s auch, so einfach ist das. Wer es nicht braucht, tut‘s nicht und ist und bleibt – naja: ziemlich doof!”

aus: Elke Heidenreich: Wer nicht liest ist doof. In: Kursbuch 133, 1998, S.1-8.

Abb.: Su Blackwell: Treasure Island, 2013, im Internet.

12/10

11/12/2010 (23:53) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Kameraden

“Wir selber nannten uns nicht Kameraden. Eine Bezeichnung, die unsere Offiziere brauchten: Sie führen jetzt ihre Kameraden / Sie sind verantwortlich für Ihre Kameraden / dann schauen Sie, daß Ihnen ein Kamerad hilft / das sollte unter Kameraden nicht vorkommen usw. Einige befreundeten sich. Ein Wachtmeister war Assistent für Astronomie an der Universität Bern, ein Kanonier war Chemiker in Emmenbrücke, ein anderer unterrichtete am Gymnasium, Philologie. Möglichkeiten des Gesprächs, während man Schuhe putzte oder Waffen reinigte oder Wolldecken stapelte. Wir waren froh um einander. Wenn man zusammen auf die Wache befohlen wurde, ein Glücksfall. Traf man sich später in Zivil, so war’s merkwürdig: beiderseits kein Bedürfnis nach Erinnerungen an den gemeinsamen Dienst, eine gewisse Verlegenheit sogar; jeder hatte den anderen gesehen, wie er den Gewehrgriff vorführte, wie er tausendmal die Hand an die Mütze riß, wie er mit übermenschlicher Stimme meldete: Kanonier Studer, abkommandiert zur Küche! und fünfzig Meter später: Kanonier Studer, abkommandiert zur Küche! Alles keine Schande; trotzdem rede ich lieber mit Leuten, die einen nicht dran erinnern.”

aus: Max Frisch: Dienstbüchlein. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S.65/66.

10/10

15/10/2010 (23:02) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Disziplin

“Disziplin – man verstand schon, was das Militär darunter versteht; nur hat das mit Disziplin wenig zu tun. Ein Maulesel, der seine Lasten trägt und geht, wohin man ihn führt, tut es aus der Erfahrung, daß er sonst geschlagen wird. Disziplin setzt eine gewisse Einsicht voraus; Latein als Disziplin, Mathematik als Disziplin, Poesie als Disziplin. Der Wille, etwas zu lernen und zu leisten, kann als Disziplin bezeichnet werden. Das setzt eine Person voraus. Disziplin entspringt dem Bewußtsein, daß man über sich selber verfügt, nicht dem Bewußtsein, daß über uns verfügt wird. Das Militär (so wie ich es erfahren habe) verwechselt Disziplin mit Gehorsam. Diese Verwechslung, verlautbart bei jeder Gelegenheit, war das eigentliche Ärgernis. Befehl ist Befehl, die Kader brauchen uns nicht zu überzeugen; wir tun es aus der Erfahrung des Maulesels. Nur täuschen sich die Kader, wenn sie, mehr oder minder befriedigt, Disziplin feststellen. Was das Militär erzielt, indem es sich auf Strafen verläßt, ist Gehorsam. Disziplin hat ihren Ansatz in einer Freiwilligkeit. … Übrigens wissen wir als Erwachsene, daß Disziplin (was diesen Namen verdient) mehr Kräfte auslöst als Gehorsam, der nicht einem eigenen Interesse entspringt und lediglich ein schlaues Verhalten ist, um sich Strafen zu ersparen. Disziplin hat mit Überzeugung zu tun, mit Gewissen, sie hat mit Mündigkeit zu tun.”

aus: Max Frisch: Dienstbüchlein. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S.50-52.

Abb.: Yannis Gaitis: Old and Young, 1967, im Internet.

10/10

15/10/2010 (22:32) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

konsequent

“Die unglückliche Liebe zur Konsequenz scheint eine deutsche Obsession zu sein; wenigstens von unsern Nachbarn wird sie nicht ohne weiteres geteilt. …

Nichts ist schematischer als der Amoklauf der Unbeirrbaren. Etwas Vorschriftsmäßiges, ja Bürokratisches haftet jeder Radikalität an, die sich auf nichts weiter beruft als auf Grundsätze. Wer von Prinzipientreue spricht, der hat bereits vergessen, daß man nur Menschen verraten kann, Ideen nicht.

Das Konsequent-Gebot verwechselt eine logische Kategorie mit einem moralischen Postulat. Weit entfernt davon, Klarheit zu schaffen, richtet es infolgedessen ein krausmauses Durcheinander in den Köpfen an. um einen kann das Pathos der Entschiedenheit nicht darüber hinwegtäuschen, daß die bloße Konsequenz, wie jede logische Bestimmung, leer ist; ich kann ebensogut ein konsequenter Vegetarier sein wie ein konsequenter Faschist, Zechpreller, Atomkraftgegner, Trotzkist, Heiratsschwindler oder Anthroposoph.

Zum andern bleibt meistens undeutlich, welche Art von Deckungsgleichheit es ist, die da eingeklagt werden soll. Geht es um das Denken? Darum, daß es hübsch bei sich selber bleibt und nicht von ihm abweicht, was es zuvor gedacht hat? Oder will die Forderung nach Konsequenz darauf hinaus, daß Denken und Handeln übereinstimmen müssen?

… Niemand behauptet, daß es ein Verbrechen wäre, eine Sache zu Ende zu denken. … Auch ist es keine Schande, daß sich die Wege, die wir auskundschaften, früher oder später meist als Sackgasse erweisen. … Manche ziehen es vor, sich lebenslänglich in ihrem cul-de-sac einzurichten. Und solange es beim Denken bleibt, ist auch dagegen wenig einzuwenden, ohwohl mir ein solcher Aufenthalt ziemlich langweilig scheint. Aber wie die Fabel lehrt halten die Liebhaber der Konsequenz sehr wenig von der Differenz zwischen Theorie und Praxis. Gerade dort, wo kein Weg mehr weiterführt, wollen sie ihre Idee in die Tat umsetzen. Das kann … mörderische Folgen haben. …

Ich für meinen Teil lade Euch ein, die Vorzüge der Inkonsequenz zu bedenken: das RIsiko, das sie gewährt, die Freiheit sich ungehindert zu bewegen, das Vergnügen der Phantasie. … Unter den verbotenen Hintergedanken, die da, nach Aufhebung der Selbstzensur, zum Vorschein kämen, könnte sich, wer weiß, manches Brauchbare, manches Überraschende finden; und wie angenehm wäre es doch, wenn der ganze Apparat der mühsamen Verdrängung, der politischen Bigotterie und der selbstverliebten Prinzipienreiterei auf dem Sperrmüll verschwände!”

aus: Hans-Magnus Enzensberger: Das Ende der Konsequenz, Transatlantik 1981, hier aus: ders.: Politische Brosamen, Frankfurt(Main): Suhrkamp 1985, S.14-26.

Abb.: Monika Michalko: Absolut, 2020, im Internet.

09/10

25/09/2010 (23:24) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Parteileben

“In meiner Familie lieben sich alle sehr … was nicht verhindert, dass jeder mit einem Messer im Rücken herumläuft. Mit einem klitzekleinen natürlich. In meiner Partei auch. In meiner Familie wird furchtbar viel geredet, jeder fällt einem ins Wort. In meiner Partei auch. In meiner Familie versucht jeder jeden davon zu überzeugen, dass er im Besitz der ultimativen Wahrheit ist. In meiner Partei auch. In meiner Familie stöhnt jede und jeder darüber, wie furchtbar im Grunde genommen diese Familie ist, aber niemand käme auf den Gedanken, sie zu verlassen. In meiner Partei auch.”

aus: Lale Akgün: Der getürkte Reichstag, zitiert nach: Susanne Gaschke: Mitmachen? Warum nicht! Die Zeit, 23.9.2010, S.6.

09/10

25/09/2010 (19:05) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Historismus 1

“Der Historismus hatte das Gefühl der Bodenständigkeit des Menschen aufgelockert und das einst stabile Weltbild, in dem ein jedes Ding und jedes Lebende seinen nach einem göttlichen Plan bestimmten Ort hatte, in Bewegung gebracht. Unser Lebensgefühl sagt uns: alles könnte auch anders sein. Alles ist historisch geworden, durch unzählige Ursachen so bestimmt, wie es gerade ist. Anfangs empfindet man dieses Historisch-Bedingtsein … nur gegenüber den ‘äußeren Gebilden’, nur Politik, Kunst, Wissenschaft scheinen einem historischen Wandel unterworfen zu sein. Später greift dieses Gefühl des historischen Bedingtseins auch auf die Substanz selbst über. Auch unsere Gefühle, letzte Stellungnahmen, Empfindungen erscheinen als geworden. Der Boden, von dem aus wir bisher als aus einem stabilen Standort die Welt betrachteten, ist aufgelockert, unser ganzes Ich ist preisgegeben, wir scheinen gleichsam über uns selbst zu schweben. In tausend Gestalten finden wir uns wieder, es ist dieselbe seelische Lage, die einst die Seefahrer in die räumliche Ferne trieb, die den Historiker zu seinem Wandern und Einfühlen in die Vergangenheit bestimmt.”

aus: Karl Mannheim: Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis, geschrieben 1922, hier aus: ders.: Strukturen des Denkens, Frankfurt(Main): Suhrkamp 1980, 137/138.

09/10

25/09/2010 (15:41) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Real Existierender Sozialismus

“… Das sozialistische Lager, die Staatshandelsländer, der Weltkommunismus, die Zweite Welt, die staatskapitalistischen, die monopolbürokratischen, die postkapitalistischen Gesellschaften … Alle diese spröden Bezeichnungen werden von jenem genialen Ausdruck weit in den Schatten gestellt, den die Gemeinten, nach jahrelanger Suche, endlich für sich selber geprägt haben: ich meine die Rede vom Real Existierenden Sozialismus. …

Nur jemand, an dem der Zweifel nagt, kann permanent beteuern, daß er wirklich existiert; und es macht den hintergründigen Charme dieser parteiamtlichen Wortschöpfung aus, daß ein solcher Zweifel nur allzu berechtigt ist. …

Die Rede vom Real Existierenden Dingsda ist … affirmativ und resignativ zugleich; das erste, indem sie behauptet, daß es den Sozialismus leibhaftig gebe, daß der Messias, der langersehnte, längst unter uns weile; das andere, indem sie uns zu verstehen gibt, daß es damit aber auch sein Bewenden haben müsse, mehr sei nicht drin: dies an die Adresse jener Spinner, Träumer und Utopisten, die noch immer nicht begriffen haben, daß der Sankt-Nimmerleins-Tag ihrer Hoffnungen längst verflossen ist.

Wer hätte, von einem namenlosen Autor in der Propaganda-Abteilung des ZK der KPdSU, eine solche Glanzleistung erwartet! Wenn ich es gleichwohl riskiere, eine Verbesserung seines Glücksfunds vorzuschlagen, so habe ich dafür zwei Gründe. Erstens hat das Wort Sozialismus eine ehrwürdige Vergangenheit, und es scheint mir nicht ganz fair, diejenigen, die es in die Welt gesetzt haben, post festum zu düpieren; die militanten Handwerksburschen und die bärtigen Propheten, die Wanderprediger und die Flüchtlinge, die hochherzigen Studenten und die entschlossenen Streikführer des neunzehnten Jahrhunderts haben sich ihre Nachfolger nicht ausgesucht, und ich sehe gar nicht ein, warum sich die Unterdrücker von heute an ihrer Hinterlassenschaft bereichern sollen. Und zum zweiten fehlt es der Formel vom Realen Undsoweiter an Handlichkeit. Ich werde mir deshalb erlauben, die ungeheure Erscheinung in Zukunft den Resozismus zu nennen …”

aus: Hans Magnus Enzensberger: Das höchste Stadium der Unterentwicklung. In: ders.: Politische Brosamen, Frankfurt (Main: Suhrkamp: 1985, S.53-73.

Abb.: Robert Doisneau: Rue Marcelin Berthelin Berthelot, Choisy le Roi, mai 1946, im Internet.

03/10

26/03/2010 (13:39) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Resozismus

“Es war nicht die westeuropäische oder die nordamerikanische Arbeiterklasse, die nach der Macht gegriffen hat; es waren winzige Kaderparteien in rückständigen Gesellschaften, die durch Putsch und Bürgerkrieg ans Ruder kamen, und die sich behaupten konnten, weil sie es verstanden, die Masse der Bauern für sich zu gewinnen, weil sie als Organisatoren nationaler Befreiungskämpfe auftraten, oder weil sie von einer starken Besatzungsmacht militärisch gestützt wurden. Der ‘siegreiche Sozialismus‘ wäre mithin ein direktes oder indirektes Produkt der Unterentwicklung. …

Fünfundsechzig Jahre nach der Oktoberrevolution hat eine solche Deutung viel von ihrer Plausibilität verloren, und es scheint mir an der Zeit, eine andere, und zwar die umgekehrte Hypothese zu prüfen: Vielleicht ist es nicht nur so, daß unterentwickelte Gesellschaften sozialistische Regimes hervorbringen; vielleicht bringen umgekehrt sozialistische Regimes unterentwickelte Gesellschaftsformen hervor. … Meine Hypothese lautet: Der Reale Sozialismus ist das höchste Stadium der Unterentwicklung. …

1. Der Resozismus hat sich nicht die Unterentwiklung schlechthin zum Ziel gesetzt; er strebt vielmehr an, sie zu ihrer höchsten Blüte zu bringen. Die Menschen sollen nicht, wie in Mali oder Bangla Desh, verhungern. Alle sollen ernährt, aber schlecht ernährt; erzogen, aber schlecht erzogen; behaust, aber schlecht behaust werden. … Der Mehrwert, der über diese Grenze hinaus erwirtschaftet werden kann, fließt entweder in die Taschen der privilegierten Klasse (‘Nomenklatura’), oder er kommt der äußeren und inneren Rüstung zugute, die als einziger Sektor jedem Vergleich mit ihrem Widerpart in den kapitalistischen Ländern standhalten kann.

2. Wer ein Land unterentwickeln will, muß die alte, vorindustrielle Gesellschaftsform, die er vorfindet zertrümmern und ausschlachten. Von ihrem ‘rückständigen’ Momenten wird er sich dabei alles aneignen, was den Übergang von der alten zur neuen Misere begünstigt. Zum Fundus des Schlechten Alten gehören besonders die einheimischen Formen der Unterdrückung. Deshalb greift der Resozismus, ebenso wie das klassische Kolonialsystem, wo immer er kann, auf traditionelle Herrschaftsmethoden zurück: auf den Zarismus in Rußland, auf das preußische Erbe in der DDR, auf das Caudillo- und Kazikenregime in Lateinamerika und auf die asiatische Despotie im Fernen Osten.

3. Im klassischen Imperialismus herrschte die einfache Logik der Ausbeutung: je elender es den Kolonien ging, desto reicher wurden die Metropolen. … Dagegen kann das resozistische Lager auf keine blühende Metropole außerhalb seiner Grenzen verweisen, Die Sowjetunion erzeugt und reproduziert ihre Unterentwicklung selbst, gewissermaßen aus eigener Kraft …

4. Wo der Resozismus bei seinem ‘Sieg’ bereits eine entwickelte Industriegesellschaft vorfindet, ergeben sich endlose Scherereien … das System kann nur durch einen Putsch oder durch militärische Macht oktroyiert werden. Aber auch, wo das gelungen ist, steht die eigentliche Aufgabe den Siegern erst bevor: die forcierte Rückentwicklung auf das sowjetische Niveau. …

Theorien der Unterentwicklung gibt es viele. fast alle suchen die ihre Begründung in materiellen Tatsachen, in der Analyse wirtschaftlicher Prozesse. Nun zeichnen sich resozistische Regimes zwar durch einen hohen Theoriebedarf aus; sie lehnen es aber ab, irgendeine dieser Theorien auf sich selber anzuwenden. … Am allerwenigsten dazu geeignet scheint ihnen zu diesem Zweck ihre eigene Theorie, die sich dialektischer Materialismus nennt. … Unter diesen Umständen erhebt sich natürlich die Frage, wer oder was für ihre Pleiten haftbar zu machen ist. Die Antwort steht seit einem guten halben Jahrhundert fest. Schuld ist a) der Feind, b) die Vergangenheit und c) die Fehlbarkeit des Menschen

Der Resozismus als höchstes Stadium der Unterentwicklung hat heroische Anstrengungen gemacht, um das Gefühl zu verdrängen, daß er den unterworfenen Völkern nur Unglück brachte. … In seiner Selbstdarstellung hat er das Potemkische Dorf zum Prinzip erhoben. … Die Unterentwicklung gebiert den Wahn. Der Resozismus erhebt ihn zum System. … massenhafte Vernichtung menschlicher Wünsche, menschlicher Phantasie, menschlicher Produktivität: wer Unterentwicklung durch Gewalt für einen Ausweg hält, der sucht sein Heil im Wahn.”

aus: Hans Magnus Enzensberger: Das höchste Stadium der Unterentwicklung. In: ders.: Politische Brosamen, Frankfurt (Main: Suhrkamp: 1985, S.53-73.

03/10

26/03/2010 (13:08) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Berufsrevolutionäre

“Die Geschichte des Berufsrevolutionärs im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gehört in Wahrheit weder in die Geschichte der arbeitenden noch der besitzenden Klassen, wohl aber in die noch nicht geschriebene Geschichte des produktiven Müßiggangs. In dieser Hinsicht gehören die Berufsrevolutionäre in die gleiche Kategorie wie die modernen Künstler und Schriftsteller, die zwar auch oft genug Hungerleider waren, aber sich dennoch den Luxus leisteten, nicht für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Sie sind alle zusammen die wirklichen Erben der hommes de lettres des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, und sie taten sich zusammen in der Bohème, weil für sie alle ‘das Wort bourgeois einen ästhetisch nicht weniger als politisch verhaßten Klang hatte’. Für sie alle wurde die Bohème eine Insel seligen Müßiggangs inmitten des unerträglich geschäftigen Jahrhunderts der industriellen Revolution. Aber selbst in dieser neuen Klasse der Müßiggänger erfreute sich der Berufsrevolutionär noch besonderer Privilegien, weil nur er sich gemeinhin mit gar keiner irgendwie spezifizierten Arbeit abzugeben hatte. Er hatte wahrhaftig am wenigsten Grund, sich über Mangel an Zeit zum Nachdenken und studieren zu beklagen, und hierfür ist es nicht weiter wichtig, ob diese wesentlich dem Studium gewidmete Lebensweise in den berühmten Bibliotheken von Paris und London vonstatten ging oder in Wiener und Schweizer Kaffeehäusern oder schließlich in den keineswegs unerträglichen Gefängnissen der verschiedenen Vorkriegsregime. …

Der Ausbruch einer Revolution befreit die lokalen Berufsrevolutionäre aus ihren jeweiligen Aufenthaltsorten, aus den Gefängnissen und den Bibliotheken und den Kaffeehäusern. … Nicht Revolutionen zu machen, sondern die Macht zu ergreifen, wenn sie ausgebrochen sind, ist Sache des Berufsrevolutionärs. … Bekannt sind die Namen der Redner, der Verfasser von Flugschriften, der Parteiführer, nicht aber die von Verschwörern und Mitgliedern von Geheimgesellschaften, die es kaum je zu mehr als zu einigen aufsehenerregenden Attentaten bringen, die zudem noch meist mit Hilfe der Geheimpolizei zustande kommen. …

Es sind gewöhnlich die Berufsrevolutionäre, welche die einmal ausgebrochene Revolution in die Hand bekommen, und da sie selbstverständlich ihr Handwerk in der Lehre vergangener Revolutionen gelernt haben, sind gerade sie besonders ungeeignet, das wirklich Neue einer Revolution zu sehen und zu verstehen. …

Wo immer die Revolution scheinbar siegte, die Ein-Partei-Diktatur, also angeblich die Diktatur des Proletariats, in Wahrheit die der Berufsrevolutionäre, sich schließlich durchsetzte; und das hat noch immer bedeutet, daß die Organe und Institutionen der Revolution schließlich von den ‘revolutionären’ Parteien erledigt wurden, zumeist in einem Kampf, der erheblich blutiger war als der Kampf gegen die ‘Konterrevolution’.”

aus: Hannah Arendt: Über die Revolution. München: Piper 1963, S.332-338.

Abb.: Aditya Novali: Rebellious Silent, Detail #1, 2012, indoartnow, im Internet.

03/10

22/03/2010 (20:03) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Amerikanische Revolution

“… Die erstaunliche Tatsache, daß die Unabhängigkeitserklärung sofort ein wahres Fieber von Verfassungserlassen in den dreizehn Kolonien hervorrief, zeigt schlagartig, wie sehr sich bereits vor Ausbruch der Revolution in der Neuen Welt ein völlig neuer Begriff von Macht und Autorität und völlig neue Vorstellung von Politik überhaupt durchgesetzt hatten. … Die den Europäern so vertraut klingende Sprache darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Stadt– und Dorfgemeinden amerikanischer Art in Europa schlechthin unbekannt waren. …

Der Machtbegriff, den die Revolution nahezu automatisch zutage förderte, weil auf ihm alle kolonialen Organe der amerikanischen Selbstverwaltung beruhten … geht zurück auf den Mayflower Pakt, der bekanntlich noch auf dem Schiff entworfen und bei der Landung unterzeichnet wurde. … Sie, so wie sie da auf dem Schiffe waren, ein zusammengewürfelter Haufen, verfügten über die Macht, sich zusammenzutun und einen ‘civil Body Politick’ zu etablieren, der von nichts zusammengehalten war als dem Vertrauen auf die Kraft gegenseitiger Versprechen, die sie sich abgaben ‘in Gegenwart aller und unter den Augen Gottes‘; das sollte genug sein, sie zu ermächtigen, alle notwendigen Gesetze und Regierungsorgane ‘zu verordnen, zu konstituieren und zu entwerfen’. …

Die Männer der Revolution … verstanden sich auf ein Handwerk, das in der gesamten übrigen Welt eigentlich unbekannt war und noch ist. … Ihre Begriffssprache [aber] unterschied sich kaum von der ihrer englischen oder französischen Kollegen, und selbst wenn es zwischen ihnen und den Europäern zum Streit kam, gelang es ihnen nicht, die wesentlichen Unterschiede in einer anderen Sprache zu artikulieren. …
Die amerikanischen Revolutionäre konnten es an revolutionärem Geist mit jedem ihrer europäischen Kollegen aufnehmen, aber sie wurden Gründer; sie wurden nicht der Spielball von Ereignissen und Umständen, von blindwütenden Kräften

In den Vereinigten Staaten selbst … weiß man kaum noch, daß die Vereinigten Staaten einer Revolution ihre Entstehung verdanken und daß die Republik keiner ‘historischen Notwendigkeit’ und keiner organischen Entwicklung ihre Existenz verdankt, sondern einzig einem voll bewußten und wohl überlegten Akt – der Gründung der Freiheit. Aus diesem Gedächtnisschwund erklärt sich dann auch weitgehend die hier so verbreitete Revolutionsangst. … Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Außenpolitik der Vereinigten Staaten von keinem Motiv mehr beeinflussen lassen als von dieser Revolutionsangst, deren einziges Ergebnis die vielfachen und verzweifelten Versuche sind, überall den Status quo zu stabilisieren, was im Grunde kaum je etwas anderes heißen konnte, als die Macht und das Prestige Amerikas zugunsten überalterter und korrupter Regierungen, Gegenstand des Hasses und der Verachtung ihrer eigenen Bürger, in die Waagschale zu werfen.”

aus: Hannah Arendt: Über die Revolution. München: Piper 1963, S.215-279.

Abb.: William Copley: Imaginary Flag for USA, 1972, im Internet.

03/10

22/03/2010 (11:53) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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