MALTE WOYDT

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Redezwang

“Im übrigen, was ich Ihnen gestern über die sogenannte Sturmsonate gesagt habe, ist sicher interessant und ich bin auch sicher, daß, was ich Ihnen über diese sogenannte Sturmsonate gesagt habe, stimmt, aber ist doch wahrscheinlich für mich selbst interessanter, als für Sie. So ergeht es einem ja immer, daß man über ein Thema spricht, weil einen dieses Thema fasziniert, aber es fasziniert einen selber mehr als den, dem wir es letzten Endes doch mit aller krampfhaften Rücksichtslosigkeit, zu der wir fähig sind, aufzwingen. … Jeder hat seinen eigenen, seinen ureigenen Redezwang, und ich habe den musikwissenschaftlichen Redezwang schon mein ganzes musikwissenschaftliches Leben … Natürlich kann ich heute auch sagen, daß alles heute Unsinn ist, was ich gestern über die Sturmsonate gesagt habe, so wie ja alles Unsinn ist, was gesagt wird, aber wir sagen diesen Unsinn doch überzeugend, sagte Reger. Alles Gesagte stellt sich über kurz oder lang als Unsinn heraus, aber wenn wir es überzeugend sagen, mit der unglaublichsten Vehemenz, die uns möglich ist, ist es ja kein Verbrechen, sagte er. Was wir denken, sollten wir auch sagen, sagte Reger, und wir geben im Grunde so lange keine Ruhe, bis wir es gesagt haben, wenn wir es verschweigen, ersticken wir daran. Die Menschheit wäre längst erstickt, wenn sie ihren im Verlauf ihrer Geschichte gedachten Unsinn verschwiegen hätte, jeder einzelne, der zu lange schweigt, erstickt, auch die Menschheit kann nicht zu lange schweigen, denn dann erstickt sie, auch wenn es doch nur immer Unsinn ist, das der einzelne denkt, das die Menschheit denkt und das der einzelne jemals gedacht hat und das die Menschheit jemals gedacht hat. Einmal sind wir Redekünstler, einmal Schweigekünstler und wir perfektionieren diese Kunst bis zum Äußersten, sagte er, unser Leben ist genau in dem Grade interessant, in dem wir unsere Redekunst wie unsere Schweigekunst haben entwickeln können. … Gerade weil sie theoretisch an Musik tatsächlich gar nicht interessiert sind, sind Sie das ideale Opfer meiner Auseinandersetzungen mit der Musik, sagte Reger. Sie hören aufmerksam zu und widersprechen nicht, sagte er, Sie lassen meine Reden in Ruhe, das brauche ich, gleich was es wert ist, was ich sage, es ebnet mir nur den Weg durch diese fürchterliche, glauben Sie mir, doch tatsächlich sehr selten glücklich machende musikalische Existenz …”

aus: Thomas Bernhard: Alte Meister, Frankfurt (Main): Suhrkamp 1985, S. 185-189.

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05/04/2014 (12:53) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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