MALTE WOYDT

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Soziale Medien 2

[EN]

“Sechs Jahre sind eine lange Zeit im Gefängnis, aber online ist es eine ganze Ära. Das Schreiben im Internet hatte sich nicht verändert, aber das Lesen – oder zumindest das Gelesenwerden – umso dramatischer. …

Im Jahr 2008, als ich verhaftet wurde, waren Blogs pures Gold und Blogger waren Rockstars. … Man las meine Beträge aufmerksam und die Leser hinterließen viele relevante Kommentare. Selbst diejenigen, die überhaupt nicht meiner Meinung waren, besuchten meine Seite. Andere Blogs verlinkten auf meine Beiträge, um zu diskutieren, was ich schrieb. Ich fühlte mich wie ein König. …

Der Hyperlink war eine Möglichkeit, jegliche Zentralisierung – die Verbindungen, Linien, und Hierarchien – hinter sich zu lassen, und sie durch etwas Dezentrales zu ersetzen:  ein System aus Knoten und Netzwerken. Blogs gaben diesem Geist der Dezentralisierung eine Form: Sie waren Fenster zu unbekannten Leben, Brücken, die diese unterschiedlichsten Leben miteinander verbanden und sie dabei veränderten. …

Seit ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, ist mir aufgefallen, wie sehr der Hyperlink entwertet wurde, und nun nahezu überflüssig ist.

Jetzt behandelt fast jedes soziale Netzwerk einen Link so wie jedes andere Objekt  – wie ein Foto oder ein Stück Text  – und nicht als eine Bereicherung. Du wirst aufgefordert, einen einzigen Hyperlink zu teilen und ihn dem quasi-demokratischen Prozess von Likes, Plus und Herzen auszusetzen: Einem Text verschiedene Links hinzuzufügen ist in der Regel nicht erlaubt. Hyperlinks werden objektiviert, isoliert, ihrer Macht beraubt.

Gleichzeitig behandeln diese sozialen Netzwerke diejenigen Texte und Bilder, die direkt in ihnen geteilt werden, mit viel mehr Respekt, als alles, was außerhalb auf anderen Websites liegt. Ein befreundeter Fotograf erklärte mir das anhand seiner Bilder: Alles, was er direkt auf Facebook hochlädt, bekommt viele Likes und taucht somit häufiger in den Newsfeeds anderer Leute auf. Wenn er einen Link postet – zu seinem mittlerweile verstaubten Blog beispielsweise – sind diese Links viel weniger sichtbar und erhalten daher viel weniger Likes. …

Apps wie Instagram sind blind oder beinahe blind. Ihr Blick richtet sich nur nach innen, unwillig, ihre unermessliche Macht an andere zu verteilen, die so einen leisen Tod sterben. Die Konsequenz ist, dass Websites außerhalb sozialer Medien sterben. …

Immer weniger Nutzer besuchen ausgewählte Websites direkt. Stattdessen werden sie von einem endlosen Informationsfluss gefüttert, der für sie aus komplexen  – und geheimen  – Algorithmen zusammengestellt wurde. Dank des Datenstroms brauchst du nicht mehr so viele Websites zu öffnen. Du benötigst nicht mehr so viele Tabs im Browserfenster. Du brauchst eigentlich nicht mal einen Browser. Du öffnest Twitter oder Facebook auf deinem Smartphone und tauchst tief ein. Der sprichwörtliche Berg ist zu Dir gekommen. Algorithmen haben schon alles für dich ausgewählt. …

Ohne Zweifel gibt es heute weit weniger Vielfalt an Themen und Meinungen im Netz als früher. Neue, andersartige und streitbare Ideen werden in den heutigen sozialen Netzwerken unterdrückt, weil deren Platzierungslogik das Beliebte und Gewohnte belohnt … Aber Vielfalt wird auch auf anderen Wegen und für ganz andere Zwecke reduziert.

Manche davon sind visueller Art. Es stimmt schon, dass alle meine Statusmeldungen auf Facebook und Twitter beinahe wie ein Blog aussehen … Aber ich habe sehr wenig Kontrolle darüber, wie es aussieht; ich kann fast nichts personalisieren. …

Diese Informationszentralisierung ist auch deshalb beunruhigend, weil Dinge leichter verschwinden. … Was … passiert, wenn mein Konto auf Facebook oder Twitter aus irgendeinem Grund geschlossen wird? …

Vielleicht ist es [auch] der Text an sich, der verschwindet. Immerhin haben die ersten Nutzer des Internets einen Großteil ihrer Zeit mit dem Lesen von Webmagazinen verbracht. Dann kamen Blogs, dann Facebook, dann Twitter. Jetzt sind es Facebook-Videos, Instagram und SnapChat, die unsere Aufmerksamkeit beanspruchen. In sozialen Netzwerken findet sich immer weniger Text zum Lesen, dafür umso mehr Videos und Bilder. Beobachten wir den Niedergang des Lesens zugunsten des Sehens und Hörens im Netz? …

Das Netz wurde nicht als Form des Fernsehens konzipiert. Aber ob wir es mögen oder nicht, es ähnelt ihm immer mehr: linear, passiv, programmatisch durchgeplant und selbstbezogen. … Früher war das Internet mächtig und ernsthaft genug, um mich ins Gefängnis zu bringen. Heute ist es nur wenig mehr als Unterhaltung. …”

aus: Hossein Derakhshan: Das Internet, das wir bewahren müssen. ZEIT Online,
Abb.: Pawel Kuczynski: Blinkers, pictorem, im Internet.

07/15

23/07/2015 (1:04) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Puppen

“… Wie bei gewissen Studenten, hat man sich nicht auch vor den dicken unveränderlichen Kinderpuppen tausendmal gefragt, was später aus ihnen wurde? … undurchdringlich und in dem Zustand von vorweggenommener Dickigkeit unfähig, auch nur einen Tropfen Wasser an irgendeiner Stelle einzunehmen; ohne eigenes Urteil … nur im Augenaufschlag einen Moment wach, dann sofort mit den unverhältnismäßigen berührbaren Augen offen hinschlafend … wie ein Hund zum Mitwisser gemacht, zum Mitschuldigen, aber nicht wie er empfänglich und vergeßlich, sondern eine Last in beidem; eingeweiht in die ersten namenlosen Erfahrungen ihrer Eigentümer, in ihren frühesten unheimlichen Einsamkeiten herumliegend … – mitgezogen in die Gitterbetten, verschleppt in die schweren Falten der Krankheiten, in den Träumen vorkommend, verwickelt in die Verhängnisse der Fiebernächte: so waren jene Puppen. Denn sie selber bemühten sich nie in alledem; lagen dann vielmehr da am Rande des Kinderschlafs, erfüllt höchstens von dem rudimentären Gedanken des Hinunterfallens, sich träumen lassend; wie sie’s gewohnt waren, am Tag mit fremden Kräften unermüdlich gelebt zu sein. … Wir mußten solche Dinge haben, die sich alles gefallen ließen. … Der Puppe gegenüber waren wir gezwungen, uns zu behaupten, denn wenn wir uns an sie aufgaben, so war überhaupt niemand mehr da. Sie erwiderte nichts, so kamen wir in die Lage, für sie Leistungen zu übernehmen, unser allmählich breiteres Wesen zu spalten in Teil und Gegenteil, uns gewissermaßen durch sie die Welt, die unabgegrenzt in uns überging, vom Leibe zu halten. Wie in einem Probierglas mischten wir in ihr, was uns unkenntlich widerfuhr und sahen es dort sich färben und aufkochen. Das heißt auch das erfanden wir wieder, sie war so bodenlos ohne Phantasie, daß unsere Einbildung in ihr unerschöpflich wurde. Stundenlang, ganze Wochen mochte es uns befriedigen, an diesem stillhaltenden Mannequin die erste flaumige Seide unseres Herzens in Falten zu legen, aber ich kann mir nicht anders vorstellen, als daß es gewisse zu lange Nachmittage gab, in denen unsere doppelten Einfälle ermüdeten und wir ihr plötzlich gegenüber saßen und etwas von ihr erwarteten. … wenn jenes beschäftigungslose Geschöpf fortfuhr, sich schwer und dumm zu spreizen, wie eine bäuerische Danae nichts anders kennend als den unaufhörlichen Goldregen unserer Erfindung: ich wollte, ich könnte mich entsinnen, ob wir dann aufbegehrten, auffuhren und dem Ungeheuer zu verstehen gaben daß unsere Geduld zu Ende wäre? Ob wir dann nicht zitternd vor Wut, vor ihr standen und wissen wollten, Posten für Posten, wofür sie unsere Wärme eigentlich gebrauche, was aus diesem ganzen Vermögen geworden sei? … Sind wir nicht wunderliche Geschöpfe, daß wir uns gehen und anleiten lassen, unsere erste Neigung dort anzulegen, wo sie aussichtslos bleibt? … Ob nicht in dem und jenem seine Puppe heillos weiterwirkt, so daß er hinter vagen Befriedigungen her ist, einfach aus Widerspruch gegen das Unbefriedigtsein, mit dem sie sein Gemüt verdorben hat? …”

aus: Rainer Maria Rilke: Einiges über Puppen. In: ders.: Ausgewählte Werke, 2.Bd. Leipzig: Insel 1938, S.265-270.

03/15

31/03/2015 (1:06) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Kindheitserinnerungen

“Ich ging in der Stadt umher und konstatierte, daß sie sich verändert hatte. Es war mir angenehm, aus dem Hotel hinauszutreten, in dem ich abgestiegen war, und zu sehen, daß es nun eine Stadt für Erwachsene war, die sich für einen zusammennahm, fast wie für einen Fremden. Ein bißchen klein war alles geworden, und ich promenierte die Langelinie hinaus bis an den Leuchtturm und wieder zurück. Wenn ich in die Gegend der Amaliengade kam, so konnte es freilich geschehen, daß von irgendwo etwas ausging, was man jahrelang anerkannt hatte und was seine Macht noch einmal versuchte. Es gab da gewisse Eckfenster oder Torbogen oder Laternen, die viel von einem wußten und damit drohten. Ich sah ihnen ins Gesicht und ließ sie fühlen, daß ich im Hotel ‘Phônix’ wohnte und jeden Augenblick wieder reisen konnte. Aber mein Gewissen war nicht ruhig dabei. Der Verdacht stieg in mir auf, daß noch keiner dieser Einflüsse und Zusammenhänge wirklich bewältigt worden war. Man hatte sie eines Tages heimlich verlassen, unfertig wie sie waren. Auch die Kindheit würde also gewissermaßen noch zu leisten sein, wenn man sie nicht für immer verloren geben wollte. Und während ich begriff, wie ich sie verlor, empfand ich zugleich, daß ich nie etwas anderes haben würde, mich darauf zu berufen.”

aus: Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Suhrkamp 1991, S.148.

Abb.: Chiharu Shiota: A Room of Memory, 2009, Museum of Contemporary Art Kanazawa Japan, im Internet.

03/15

29/03/2015 (15:17) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Geschenke

“Talent war eigentlich nur nötig, wenn sich einer Mühe gegeben hatte, und brachte, wichtig und gutmütig, eine Freude, und man sah schon von weitem, daß es eine Freude für einen ganz anderen war, eine vollkommen fremde Freude; man wußte nicht einmal jemanden, dem sie gepaßt hätte: so fremd war sie.”

aus: Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichungen des Malte Laurids Brigge. Suhrkamp 1991, S.136.

03/15

29/03/2015 (15:06) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Leser

“Das Unglück, obenhin, unverständig, ohne Geschmack, ohne Gefühl, mit Vorurteilen oder gar mit Schalksaugen und bösem Willen gelesen zu werden – oder, wie die meisten Leser, die nur zum Zeitvertreib in ein Buch gucken – oder zur Unzeit, wenn der Leser übel geschlafen, übel verdaut oder unglücklich gespielt oder sonst Mangel an Lebensgeistern hat – oder gelesen zu werden, wenn gerade dieses Buch, diese Art von Lektüre unter allen möglichen sich am wenigsten für ihn schickt und seine Sinnesart, Stimmung, Laune, mit des Autors seiner den vollkommensten Kontrast macht – das Unglück, so gelesen zu werden, ist, nach der Meinung des besagten Autors, keines von den geringsten, welchen ein Schriftsteller … sich und die armen ausgesetzten Kinder seines Geistes täglich und unvermeidlich bloßgestellt sehen muß. Unter hundert Lesern kann man sicher rechnen, von achtzig so gelesen zu werden. …

Was Wunder also, wenn den besten Werken in ihrer Art, und in einer sehr guten Art, oft so übel mitgespielt wird? Was Wunder, wenn die Leute in einem Buche finden, was gar nicht drin ist; oder Ärgernis an Dingen nehmen, die, gleich einem gesunden Getränke in einem verdorbenen Gefäße, bloß dadurch ärgerlich werden, weil sie in dem schiefen Kopf oder der verdorbenen Einbildung des Lesers dazu gemacht werden?  Was Wunder, wenn der Geist eines Werkes den meisten so lange und fast immer unsichtbar bleibt? Was Wunder, wenn dem Verfasser oft Absichten, Grundsätze, Gesinnungen angedichtet werden, die er nicht hat, die er, vermöge seines Charakters, seiner ganzen Art zu existieren, gar nicht einmal haben kann? Die Art, wie die meisten lesen, ist der Schlüssel zu allen diesen Ereignissen, die in der literarischen Welt so gewöhnlich sind. Wer darauf achtzugeben Lust oder innern Beruf hat, erlebt die erstaunlichsten Dinge in dieser Art.”

aus: Christoph Martin Wieland: Wie man liest. Hier zitiert in: Wort und Sinn, Schulbuch. Paderborn: Schönigh, S.124.

Abb.: Klaus Staeck: Kunstkritiker beim ersten Documenta-Rundgang, 1977, Edition Staeck, im Internet.

03/15

24/03/2015 (0:34) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Schreiben

“Unser ganzes Bildungssystem lebt letztlich davon, Gelegenheiten zu schaffen … alle die etwas lernen sollen, mit Selbstgeschriebenem zu konfrontieren, weil sie nur so auf die Ordnung stoßen, die in ihrem Kopf herrscht – wobei diese Ordnung nur ein Effekt des Schreibens ist und nicht das Schreiben ein Effekt der Ordnung …

Was wir derzeit an Bildungsreform an Schulen und Universitäten machen, ist eine groß angelegte Vermeidungsstrategie des Schreibens. Weder in den Schulen noch in den Hochschulen bleibt Zeit zum Schreiben – mit der idiotischen Begründung, dass man dann mehr Zeit fürs Lernen hätte. Das Bücher … Kulturspeicher  sind, ist ja nur die halbe Wahrheit. Man denkt dabei nur an die Rezeption – dabei ist die Produktion der Ort, an dem die Ordnung entsteht, die da gespeichert wird. Die Linearität der Kommunikation diszipliniert unser Bewusstsein, weil nicht alles sofort, nicht alles gleichzeitig geschehen kann – und vor allem nicht alles, was möglich gewesen wäre. Schreiben bringt Ordnung in die Welt – dabei dachten wir, im Geschriebenen werde ihre Ordnung nur gespeichert.”

aus: Armin Nassehi: Die Macht der Unterscheidung. Kursbuch 173 (März 2013), S. 10/11.

01/15

03/02/2015 (21:39) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Prononciamento

“Partikularismus ist der Geisteszustand, in welchem wir uns nicht für verpflichtet halten, mit den anderen zu rechnen. … Wenn in normalen Zuständen des nationalen Lebens eine Klasse etwas für sich selbst begehrt, sucht sie es zu erreichen, indem sie sich zunächst mit den anderen in Einvernehmen setzt.. … Solche Bemühung eines Einzelnen, seine Mitmenschen zu überzeugen und zur Billigung seiner Privatansprüche zu bewegen, heißt eine legale Aktion. Die Funktion des Rechnens mit den anderen hat ihre eigentümlichen Organe in den öffentlichen Institutionen, die wie Sprungfedern und Puffer der nationalen Solidarität zwischen Gruppen und Individuen eingespannt sind.

Aber eine Klasse, die vom Partikularismus ergriffen ist, fühlt sich gedemütigt, wenn ihr nahegelegt wird, ihre Zuflucht zu diesen Einrichtungen zu nehmen, um ihre Wünsche durchzusetzen. Daher die schwere Überwindung, die es den Industriellen, Arbeiter, Offizier oder Adeligen kostet, wenn er für die Befriedigung seiner Ansprüche und Bedürfnisse an das Parlament gelangen soll. Die Abneigung dagegen nimmt gern die Form der Verachtung für den Politiker an; aber ein aufmerksamer Psychologe läßt sich nichts weismachen. …

Wie erklärt es sich dann, daß Spanien, ein Volk von so vollkommenen Wählern, immer wieder so ruchlose Abgeordnete in sein Parlament schickt? Hier liegt eine Unehrlichkeit und Heuchelei vor. Die Politiker sind nicht schlechter, sie sind eher einen Grad besser als der Rest unserer Gesellschaft. …

Das Parlament [pflegt] verhaßter zu sein als die Regierung; denn das Parlament ist im nationalen Zusammenleben das sichtbarste Organ für den Umgang und die Verständigung unter Gleichgestellten. Und daß man gezwungen ist, die anderen zu berücksichtigen, die man im Grund der Seele verachtet oder haßt, erregt im Bewußtsein der Klassen und Stände Gereiztheit und Wut; die einzige Form des öffentlichen Vorgehens, die heutzutage unter dem Deckmantel konventioneller Phrasen alle Klassen befriedigt, ist die unmittelbare Durchsetzung ihres Einzelwillens, das heißt die direkte Aktion. …

Die direkte Aktion und die intellektuelle Verengung, aus der sie stammt, deuten sich schon in der Geschichte unseres 19. Jahrhunderts an. Die Obersten und Generäle jener Militärrevolten waren von ihrer Idee überzeugt und hielten es für selbstverständlich, daß alle anderen Sterblichen dasselbe taten. Sie … begnügten sich damit, die betreffende Meinung in einer Verkündigung – einem Pronunciamento – hinzustellen: jedem, der nicht ganz erbärmlich und verderbt ist, werde ihre unantastbare Wahrheit dann schon einleuchten. … Die Folge war, daß den Verschworenen nicht einfiel, rechtzeitig um die Bereitstellung größerer Hilfskräfte besorgt zu sein, sie verfügten gewöhnlich nicht einmal über nennenswerte Truppenbestände. Wozu? Es kam ihnen nie bei, daß sie gezwungen sein möchten zu kämpfen, um den Sieg zu erlangen. …

Nach meiner Ansicht wiederholen sich diese … Züge des Pronunciamento in fast allen politischen Bewegungen der letzten Jahre. … Gäbe es in Spanien nur jemanden, der auf Kampf erpicht wäre! Unseligerweise geschieht das Gegenteil! Es besteht wohl ein allgemeines Auseinanderfallen; aber was es fruchtbar machen könnte, stürmische Streitlust, die womöglich zu einer Neuordnung führte, fehlt vollständig, …

Wer in Tat und Wahrheit kämpfen will, muß zunächst glauben, daß er einen Feind hat und daß der Feind stark und also gefährlich und also nicht zu verachten ist. Dann wird er alle möglichen Hilfskräfte gegen ihn werben; er wird alle seine Künste anmutiger Überredung, dialektischer Schärfe, gewinnender Herzlichkeit, ja der List selbst aufbieten, um so viele Bundesgenossen, wie er nur kann, unter seinen Fahnen zu sammeln. …

Seit Jahren beobachte ich mit Besorgnis, wie man in Zeitungen, Predigten und politischen Versammlungen von vorneherein darauf verzichtet, den Ungläubigen zu bekehren. … Wir wollen nicht kämpfen, wir wollen nur siegen. Da das nicht möglich ist, leben wir lieber in Illusionen. ”

aus: José Ortega y Gasset: Aufbau und Zerfall einer Nation. (Span. Originalausgabe 1922 …) In: ders.: Stern und Unstern. Stuttgart: DVA 1952, S. 103-109.

Abb.: Nationalistisches Plakat, 1939, im Internet.

07/14

15/07/2014 (19:42) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Nationsbildung und -zerfall

“Die Gabe, Nationen zu schaffen, ist ein quid divinum, eine Gabe, die so unleitbar ist wie die des Dichters, Musikers oder Religionsstifters. Geistig ungemein hellen Völkern ging diese Fähigkeit ab, und anderen wissenschaftlich und künstlerisch weniger begabten war sie im höchsten Grade gegeben. Athen mit all seinem Scharfsinn vermochte nicht, das östliche Mittelmeerbecken zu einer Nation zusammenzuschließen, während Rom und Kastilien, zwei Völker von beschränktem Geist, die beiden gewaltigsten Staatsgebilde errichten haben, …

[Das staatenbildende Talent ist] … ein Herrrschertalent …, kein theoretisches Vermögen, keine reiche Phantasie und keine tiefe und mitreißende Gefühlsbewegtheit religiöser Art. Es ist ein Wollen- und Gebietenkönnen.

Gebieten aber ist nicht schlechthin ein Überzeugen und nicht schlechthin ein Zwingen, sondern eine feine Mischung aus beidem. … Bei jedem echten Eingliederungsprozeß ist die Gewalt Nebensache. Die wahrhaft wirkende Kraft, die ihn auslöst und treibt, ist immer der Glaube an eine nationale Aufgabe, ein einleuchtender Vorschlag zu einem Leben in Gemeinschaft. Wir weisen jede statische Deutung der nationalen Lebensgemeinschaft zurück und wollen lernen, sie dynamisch zu verstehen. Wenn Menschen zusammenleben, so hat das seine guten Gründe. Die Gruppen, welche einen Staat bilden, tun es für etwas: sie sind ein Zweck, ein Bedürfnis, eine Nutzgemeinschaft. Sie vereinigen sich nicht, um zusammen zu sein, sondern um zusammen etwas zu tun. …

Nicht das Gestern, das Vergangene, der überlieferte Besitz ist entscheidend für die Existenz einer Nation … Nationen bilden sich und bestehen aus keinem anderen Grund, als weil sie etwas für morgen vorhaben. …

Als es der traditionellen kastilischen Politik gelang, den klaren, durchdringenden Geist Fedinands des Katholischen für ihre Ziele zu gewinnen, was alles möglich gemacht. Der geniale aragonische Fuchs begriff, daß die Kastilier recht hatten. … Damals entstand Spanien. Aber wofür? … Man verbindet sich, um die Energien Spaniens in die vier Winde zu zerstreuen, um den Erdball zu überfluten um ein größeres und immer größeres Reich zu schaffen. … Das Ergebnis war, daß zum erstenmal in der abendländischen Geschichte die Idee einer Weltpolitik entstand: Spanien wurde geschaffen, um sie auszuführen. …

Solange Spanien Pläne zu verwirklichen hatte und sich ein Sinn hinter der Lebensgemeinschaft der Halbinsel abzeichnete, schritt die nationale Eingliederung fort. … Alles was [dagegen] seit 1580 in Spanien geschehen ist, [war] Niedergang und Zerfall … Es beginnt mit der Befreiung der Niederlande und Mailands, dann folgt Neapel. Im Anfang des 19. Jahrhunderts bröckeln die großen überseeischen Besitzungen ab und an seinem Ende die kleineren amerikanischen und pazifischen Kolonien. Um 1900 ist Spanien fast wieder beschränkt auf seine ursprünglichen Grenzen auf der iberischen Halbinsel. Doch die Auflösung geht weiter. …

Der Eingliederungsprozeß fügte bis dahin isolierte soziale Gruppen als Teile in ein Ganzes ein. Der Zerfallsprozeß geht in umgekehrter Richtung: die Teile des Ganzen beginnen wieder für sich zu leben. Diese Erscheinung des geschichtlichen Lebens nenne ich Partikularismus. …

Hiernach ist es klar, daß es mir leichtfertig erscheinen muß, wenn man die katalanischen und baskischen Unabhängigkeitsbestrebungen für künstliche, willkürlich von wenigen Ehrgeizigen aufgewiegelte Bewegungen ansieht. Ich halte sie vielmehr für das greifbare Symptom des Zerfallszustandes, in dem sich Spanien befindet. Die nationalistischen Theorien und die politischen Programme des Regionalismus sind allerdings von geringem Interesse und zum größten Teil künstlich. … Wer sich in der Politik an das Gesagte hält, wird kläglich untergehen. … Wesentlich für den Partikularismus ist, daß die einzelnen Gruppen aufhören, sich selbst als Teile zu empfinden, und infolge davon aufhören, die Gefühle der anderen Gruppen zu teilen. … Charakteristisch für diesen sozialen Zustand ist andererseits die Überempfindlichkeit für die eigenen Übel. Ärger und Schwierigkeiten, die in Zeiten des Zusammenstehens leicht genommen werden, erscheinen unerträglich, wenn die Seele der Gruppe sich aus der nationalen Gemeinschaft gelöst hat. …

Wenn ein Gemeinschaftswesen dem Partikularismus zum Opfer fällt, kann man immer ohne weiteres sagen, daß die Zentralmacht die erste gewesen sein muß, die davon ergriffen wurde. Und das ist in Spanien geschehen. Kastilien hat Spanien gemacht, und Kastilien vernichtet es. … Kastilien … lud die Völkerschaften der Halbinsel zur Mitarbeit an einem gewaltigen Projekt … ein … Unter Philipp III. jedoch wird eine verhängnisvolle Wandlung spürbar. … Kastilien verkehrt sich in sein äußerstes Gegenteil: es wird mißtrauisch, engherzig, geizig, übellaunig. Es ist wenig mehr darum bekümmert, die Lebensenergien der anderen Regionen zu erhöhen, es neidet sie ihnen eher und überläßt sie sich selbst …

Uns Spaniern sucht die öffentliche Gewalt seit langem einzureden, daß wir nur existieren, damit sie sich die Ehre geben kann dazusein. Da das ein reichlich fadenscheiniger Grund ist, zerbröselt und zerfällt Spanien.”

aus: José Ortega y Gasset: Aufbau und Zerfall einer Nation. In: ders.: Stern und Unstern. Stuttgart: DVA 1952, S.73-94. Span. Originalausgabe des Aufsatzes von 1922,

07/14

11/07/2014 (23:51) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Zwischenkriegszeit

“Völlig willkürlicherweise behauptet man …, daß Kriege ein abnormales Vorkommnis im Lebenshaushalt der Menschheit seien, da sie doch im Buch der Geschichte auf jeder Seite verzeichnet stehen als ein nicht weniger normales, ja vielleicht normaleres Ereignis denn der Friede. Der Krieg strengt an, aber er erschöpft nicht; er ist eine natürliche Funktion, auf welche der Organismus der Menschheit eingerichtet ist. …

Die Erschöpfung, die sich Europas bemächtigt hat, ist …. sehr verdächtig. Denn es handelt sich nicht darum, daß ihm der Wiederaufbau mißlänge, den es vorhat; das Merkwürdige an der Sache ist, daß es ihn gar nicht vorhat. … Das beredste Zeichen der Zeit ist meiner Meinung, daß für ganz Europa das Morgen keine Verheißung birgt. … Das ist noch nie in Europa geschehen. Noch über den heftigsten und traurigsten Krisen stand mit dem tröstlichen Schein neuer Hoffnung der Umriß eines begehrenswerteren Daseins.

Heute verwirft der Europäer das Vorhandene … Aber was wünscht er sich statt … [seiner]? Im heutigen Europa wird nicht gewünscht. … Europa leidet an einem Ermatten seiner Wunschfähigkeit, das man nicht dem Krieg zuschreiben kann.”

aus: José Ortega Y Gasset: Aufbau und Zerfall einer Nation. Vorwort zur zweiten Auflage 1922. Stuttgart: DVA 1952, S.60-61.

Abb.: aus: Frans Masereel, die Stadt, 1925.

07/14

10/07/2014 (22:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Vegetatives Ideal

“Der Andalusier lebt in einem üppigen Land, das bei geringer Mühe herrlliche Früchte trägt. Überdies ist das Klima so milde, daß der Mensch von diesen Früchten sehr wenig braucht, um sein Dasein zu fristen – er lebt wie die Pflanze, die sich auch nur zum Teil von der Erde nährt und den Rest von der warmen Luft und dem wohltätigen Licht empfängt. …

Der Andalusier hat an die viertausend Jahre gefaulenzt, und er befindet sich nicht schlecht dabei. … Die berühmte Trägheit des Andalusiers ist die Form und Formel seiner Kultur. … Wenn wir dem Leben ein Maximum an Intensität geben wollen, wird … [das] einen maximalen Kraftaufwand von uns verlangen. Aber beschränken wir uns von vorneherein auf das vitale Problem, streben wir nach einer ‘vita minima’, so werden wir mit kleinster Mühe zu einer Lösung gelangen, die derjenigen des unternehmenderen Volkes an Vollkommenheit nicht nachsteht. Das ist der Fall des Andalusiers. … Anstatt sich anzustrengen, um zu leben, lebt er, um sich nicht anzustrengen, und macht aus der Vermeidung der Anstrengung das Prinzip seines Daseins.

Es wäre ein Irrtum, ohne weiteres anzunehmen, daß der Sevillaner auf das Leben eines Engländers der City verzichtet, weil er unfähig ist, so viel zu arbeiten wie dieser. Er würde eine solche Lebensweise, selbst wenn sie ihm ohne Arbeit als das Geschenk einer Fee in den Schoß fiele, mit Entsetzen zurückweisen. … Dem Andalusier erscheint an dem Engländer oder Deutschen die Art der Arbeit ebenso hirnverbrannt wie die der Zerstreuung, beides ohne Maß und eines vom anderen losgerissen. Er für sein Teil zieht es vor, wenig zu arbeiten und sich mäßig zu vergnügen, aber beides zugleich …”

aus: José Ortega Y Gasset: Theorie Andalusiens. In: ders.: Stern und Unstern. Stuttgart: DVA 1952, S.47-52. Span. Originalausgabe des Aufsatzes 1932.

Abb.: eigenes Foto, frz. Ardennen, 03/25.

07/14

10/07/2014 (21:44) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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