MALTE WOYDT

HOME:    PRIVATHOME:    LESE- UND NOTIZBUCH

ANGE
BOTE
BEL
GIEN
ÜBER
MICH
FRA
GEN
LESE
BUCH
GALE
RIE
PAM
PHLETE
SCHAER
BEEK
GENEA
LOGIE

Ordnung 1

“Als ich aus den Weihnachtsferien in Italien zurückkam, fand ich ein Schreiben vom Finanzamt vor, das mich auf ein Guthaben von etwa tausend Mark hinwies. Ich öffnete weitere Post, die sich während meiner Abwesenheit angehäuft hatte, und fragte mich schon, was wohl zu tun wäre, um an das Geld zu kommen, als ich feststellte, daß es bereits auf mein Bankkonto überwiesen war. Ich hatte dem Finanzamt nie die Kontonummer mitgeteilt, aber der Beamte hatte einfach nachgesehen, über welche Bank ich meine Steuern zahlte. Für die Deutschen ist das ganz normal, mir kommt es vor wie eine Fata Morgana.”

aus: Roberto Giardina: Anleitung, die Deutschen zu lieben. München: Goldmann 1996, S.106 (ital.Orgin.-Ausg. 1994)

02/06

08/10/2007 (20:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Opfergesellschaft

“Die ‘Therapiegesellschaft’ entwickelt … schon gar keinen Begriff eines Subjektes mehr, dem verantwortliches Handeln abverlangt werden könnte. Wer Opfer der Verhältnisse, des Patriarchats, des Kapitalismus, der frühkindlichen Erziehung ist, der erwartet bei der Gerichtsverhandlung Freispruch. Eine machmal gewalttätige Enteignung hat sich da durchgesetzt, von Psychoboom und Feminismus verstärkt: Was immer wir tun, wer immer wir sind – eigentlich ist das Subjekt die Gesellschaft, die Erziehung, das System, die anderen. In den Orgasmusschwierigkeiten gleichsam das Versagen der Gesellschaft zu erkennen und in diesem Sinn das Private für politisch zu erklären, ist seither ein folgenreicher Gemeinplatz einer politischen Kultur geworden, der die Vorstellung persönlicher Verantwortung abhanden gekommen ist.”

Cora Stephan: Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte. Reinbek 1993: 115/116

08/10/2007 (20:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ökologische Kreisläufe

“Nach einem Satz von Heisenberg ist die Natur ‘immer ganz anders, als wir uns vorstellen. Das liegt an unseren Fragen. Denn die Natur kann nur so antworten, wie wir fragen’. Wer sie nach Gesetzen fragt, dem wird sie mit Gesetzen antworten, wer nach dem Zufall fragt, dem wird sie mit Zufall antworten, und wer nach Kreisläufen fragt, dem wird sie mit Kreisläufen antworten. … Es [ist] wissenschaftlich gesprochen, nicht möglich …, die Natur unter einem einzigen Prinzip … zu beschreiben.

Gerade das aber … ist konstitutiv für das Denken der naturalistischen Ökologie. Sie bildet die Brücke zur biologistischen Interpretation der Beziehungen zwischen Mensch und Natur. … ‘Ordnung’, in diesem Fall die Ordnung der ‘natürlichen Kreisläufe’, [ist] ganz sicher nicht eine Eigenschaft der Materie. Sie muß ihr von außen auferlegt werden. Theorien, wissenschaftliche Erklärungssysteme, schaffen die Welt, die sie dann beschreiben oder kritisieren. …

Die Natur des Menschen ist die Kultur. Eine Sichtweise, die heute dieses kulturelle Moment übersieht und nur auf Lehren der Natur aus ist, verfällt dem Mythos.

Die Vorstellung, daß sich die gesellschaftliche Ordnung an der Natur zu orientieren habe, nennt man Biologismus. … Als Sozialdarwinismus und Rassenbiologie [wurde er] die Basis der NS-Doktrin … und [fand] in der arisch-deutschen Herrenrasse ihren mörderischen Exekutor …, der ganz Europa in einem Meer von Blut ertränkte. …

Vielfalt bedeutet in dem einen System etwas völlig anderes als in dem anderen. … In resistenten Systemen ist Vielfalt ein Vorteil, in konstanten Systemen nicht; dort macht Vielfalt verletzbar. … Ein tropischer Regenwald beispielsweise ist so stabil, weil es einer so langen Zeit bedurfte, bis er als Ökosystem in dieser Form bestand. Er ist stabil im Sinne von konstant, aber nicht von resistent gegenüber Eingriffen. Bereits kleine Eingriffe in sein ‘Gefüge’ können ihn zusammenbrechen lassen. … Was folgt daraus für eine ökologisch geleitete Politik? Daß wir Vielfalt herstellen und schützen wollen, Vielfalt der Arten wie Vielfalt der kulturelle und sozialen Lebensformen, der individuellen Lebensentwürfe, und zwar um ihrer selbst willen … und nicht, weil es die Gesetze der Natur uns das ‘lehren’. Sie tun es nicht. …

Kreisläufe sind eine von vielen möglichen Vorstellungen, die sich die … die Menschen von der Natur machen können. Kreisläufe sind nicht ‘das Prinzip’ der Natur; sie sind nicht das grundlegende Ordnungsprinzip der Materie. Warum also sollten wir die Wirtschaft unserer Gesellschaften gerade nach diesem Prinzip einrichten? …

Alle von der industriellen Dynamik erfaßte und infiltrierte Natur ist … Kulturprodukt – wie z.B. der sterbende deutsche Wald, die Flüsse, die Binnengewässer usw. Auch in dieser Perspektive gilt: Die Natur des Menschen ist Kultur.”

Jochen Reiche: Ökologie und Zivilisation. Der Mythos von den natürlichen Kreisläufen” In: “Die Linke neu denken”. Berlin: Wagenbach 1985, S.51-59.

Abb.: Hideaki Shibata und Kazuya Matsunaga (“Yodogawa Technique”): Chinu – the Black Sea Bream of Uno, 2010, im Internet.

08/10/2007 (20:55) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Obskurantismus

“Kurz gesagt, ich bin aus intellektuellen und politischen Gründen betroffen über die Verbreitung subjektivistischen Denkens. Intellektuell gesehen liegt das Problem darin, daß solche Doktrinen falsch sind (wenn nicht einfach bedeutungslos). Es gibt eine reale Welt; ihre Eigenschaften sind nicht einfach soziale Konstruktionen; Tatsachen und Nachweise sind ausschlaggebend. Würde jemand, der klar im Kopf ist, etwas anderes sagen? Und doch, viel zeitgenössisches akademisches Theoretisieren besteht aus Versuchen, genau diese offensichtlichen Wahrheiten zu verwischen, wobei die außerordentliche Absurdität durch eine obskure und prätentiöse Sprache verschleiert wird …

Wenn alles Diskurs und “Text” ist, dann ist das Wissen um die reale Welt überflüssig; und sogar die Physik wird zu einem weiteren Zweig der Kulturwissenschaften. Wenn darüberhinaus alles Rhetorik und “Sprachspiel” ist, dann ist innere logische Konsistenz ebenfalls überflüssig: eine Sprachhülle theoretisch aufgezäumter Sophisterei tut es dann genauso gut. Unverständlichkeit wird zur Tugend; Anspielungen, Metaphern, Wortspiele ersetzen Beweise und Logik. …

Was das Politische betrifft, so rührt mein Ärger daher, daß der meiste (wenn auch nicht aller) Unsinn dieser Art von einer selbsternannten Linken stammt. Wir sind Zeugen einer tiefgreifenden historischen Kehrtwendung. Denn während der letzten zwei Jahrhunderte war die Linke gegen jeden Obskurantismus auf der Seite der Wissenschaft; wir haben geglaubt, rationales Denken und unerschrockene Analyse der objektiven Realität (der natürlichen wie der sozialen) seien scharfe Waffen im Kampf gegen die Verblendungen, die die Mächtigen in die Welt gesetzt haben, – ganz abgesehen davon, daß sie menschliche Ziele sind, die ihren Wert in sich haben. Die Wende zu einer der Spielarten des epistemischen Relativismus, den viele ‘progressive’ und ‘linke’ Geistes- und Sozialwissenschaftler vollzogen haben, ist Verrat an einem wertvollen Erbe und untergräbt die ohnehin zerbrechliche Basis für eine progressive Sozialkritik. Das Theoretisieren über “die soziale Konstruktion der Realität” wird uns nicht helfen, ein effektives Mittel gegen AIDS zu finden oder die globale Erwärmung aufzuhalten. Genauso wenig können wir falsche Ideen in Geschichte, Soziologie, Wirtschaft und Politik bekämpfen, wenn wir die Begriffe wahr und falsch nicht anerkennen.”

Alan Sokal: A Physicist Experiments With Cultural Studies in: Lingua Franca, May/June 1996, pp. 62-64, dt. Übersetzung durch Hans-Joachim Niemann im Internet, Original im Internet.

Abb: Mous Lambarat.

08/10/2007 (20:55) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Objektivität

Philosophen, besonders die rationalistischen Philosophen, gelangen auf ganz seltsamen Wegen zu ihren Pointen: … Sie benutzen abstrakte und von allen Emotionen gereinigte Begriffe. Und sie benutzen solche Begriffe nicht, um unsere Sicht zu schärfen oder unser Leben zu bereichern, sondern um uns in enge, dunkle Gänge zu stoßen. Gefühle, Sinneseindrücke, Wünsche stehen erst dann zur Debatte, wenn sie wie Schmetterlinge gefangen, getötet und auf irgendeine philosophische Folterbank gespannt worden sind. Überdies sind die Philosophen, vor allem die Rationalisten, an allgemeinen Prinzipien interessiert, nicht am Leben von Individuen. …

Sehen Sie sich doch nur mal an, wie Philosophiestudenten für ihren Beruf ausgebildet werden! Werden ihre persönlichen Eigenheiten einbezogen? Nein. Gestattet man ihnen, sich ‘authentisch’ auszudrücken? Selten. Bringt man ihnen bei, wie man mit anderen zusammenlebt, wie man deren Herz rührt? Ganz bestimmt nicht. Die alte Vorstellung von Objektivität, die eigentlich nichts anderes ist als die Kehrseite der Sterilität ihrer Erfinder, beherrscht die Szene nach wie vor, wenn auch in neuen, modischen Gewändern. …

Objektivismus und Relativismus … gehen [beide] … von der Voraussetzung aus, daß Dinge wie Wissenschaft, Magie oder auch das ‘Weltbild der Dogon’ genau definiert sind und immer in den durch die Definition gesetzten Grenzen bleiben. Dann verleihen die Objektivisten den Gesetzen, die innerhalb der Grenzen des bevorzugten Gegenstandes gelten, universelle Bedeutung, während die Relativisten darauf bestehen, daß die Gesetze innerhalb derselben Grenzen nur begrenzte Gültigkeit besitzen. Doch … gibt es keine Definition von Wissenschaft, die alle möglichen Entwicklungen abdeckt, und es gibt auch keine Form des Lebens, die nicht in der Lage wäre, radikal neue Situationen zu absorbieren. Begriffe … sind niemals vollkommen festgelegt; sie sind unzureichend definiert, mehrdeutig, sie fluktuieren … hin und her – und das muß auch so sein, sonst wäre ja (begrifflicher) Wandel unmöglich.”

Paul Feyerabend: Die Torheit der Philosophen. Dialoge über die Erkenntnis. Hamburg: Junius-Verlag 1995 (ital. 1991), S.93-95 und 131/132.

Abb.: Foundation Class Collective: Becoming, 2022, documenta15, Detail.

08/10/2007 (20:55) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Novemberrevolution

“Die deutsche Revolution fand ein unwissendes Volk, eine Führerschicht bürokratischer Biedermänner. Das Volk rief nach dem Sozialismus, doch nie in den vergangenen Jahren hatte es klare Vorstellungen vom Sozialismus gewonnen, es wehrte sich gegen seine Bedrücker, es wußte, was es nicht wollte, aber es wußte nicht, was es wollte. Die Rechtssozialisten und Gewerkschaftsführer waren versippt und verfilzt mit den Gewalten der Monarchie und des Kapitalismus, deren Sünden waren ihre Sünden. Sie hatten sich abgefunden mit dem bürgerlichen juste milieu, ihr Ideal war die Überwindung des Proletariers durch den kleinen gehobenen Bürger. Ihnen fehlte das Vertrauen zum Volk, das ihnen vertraute.

Am Tage nach der Revolution nahmen sie den Kampf auf, nicht gegen die Feinde der Revolution, nein, gegen ihre leidenschaftlichsten Pioniere, sie hetzten und jagten sie, bis sie zur Strecke gebracht waren, und quittierten den Dank in den Salons der feinen Gesellschaft. Sie haßten die Revolution, Ebert hatte den Mut, es auszusprechen. …

Noch ehe der Landtag sein Werk beginnen kann, schickt die Augsburger Arbeiterschaft, müde der revolutionären Resolutionen, Delegierte zum Ministerium nach München, sie sollen die Proklamation der Räterepublik fordern. …

Die Kommunisten tun nicht mit …, die trieben, wie schon so oft in der deutschen Revolution, ein dunkles und für die Arbeiterschaft gefährliches Spiel, die Arbeiterschaft sei nicht reif, die Räterepublik werde ohne die Unterstützung Norddeutschlands sich nicht halten können. Das aber hätten sie vor Wochen sagen müssen, wo sie die Räterepublik in Parlamenten, Kongressen, Zeitungen und Versammlungen als nächstes politisches Kampfziel forderten … Man darf nicht Parolen verkünden, an die man nicht glaubt. Die Scheu vor der Wahrheit führt zum Selbstbetrug. Man darf nicht der Wirklichkeit, die anders sich zeigt, als man sie wünschte, ausweichen und sich entschuldigen, so war es nicht gemeint.

Die Unabhängigen zögern. Hat eine revolutionäre Partei das Recht, die Massen im Stich zu lassen? Revolutionäre Führer dürfen nicht blindlings Massenstimmungen folgen, auf die Gefahr, verkannt zu werden, müssen sie sinnlosen Aktionen wehren. Aber sind es nur Stimmungen? Sind nicht schon Tatsachen geschaffen, die unser Tun beeinflussen müssen?

Die Parteibürokraten beraten, das Volk handelt. In jener Stunde ist in Würzburg, Augsburg, Fürth, Schaffenburg, Lindau, Hof die Räterepublik ausgerufen. Wir hätten das Volk früher über die wahren Machtverhältnisse in Deutschland aufklären müssen, daß wir es nicht taten, war unsere Schuld …”

aus: Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. Gesammelte Werke, Bd.4, München/Wien: Hanser 1996, S. 111, 122, 123

08/06

08/10/2007 (20:54) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Nein

“… Es scheint, als hätte ich schon damals unbewußt nach der Maxime gehandelt, die mir später wichtig wurde: daß in jedem Nein, soll es politisch legitim sein, ein Ja zu etwas anderem enthalten sein müsse, wie in jedem Ja ein Nein zu anderen Chancen steckt.”

Erhard Eppler: Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik. Überarbeitete und aktualisierte Taschenbuchausgabe, Frankfurt(Main): Suhrkamp 2001, S.79/80.

01/03

08/10/2007 (20:53) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

NATO-Doppelbeschluß

“Nicht nur Carter, sondern auch seine Militärfachleute hatten ursprünglich keinen Anlaß gesehen, auf die Stationierung der SS 20 eine separate europäische Antwort zu geben. Aber eben diese Gelassenheit der Überlegenen hatte Schmidt so erzürnt, daß er in seinem berühmten Londoner Vortrag am 28. Oktober 1978 die amerikanische Regierung öffentlich kritisiert hatte. Erst jetzt dachten sich die Experten im Pentagon jenen Nachrüstungsbeschluß aus, der bewußt von dem abwich, was Schmidt sich vorgestellt hatte: seegestützte Marschflugkörper. Nein, wenn die Deutschen schon alles besser wußten, dann sollten sie gefälligst auch – und sie allein – die eminent zielgenauen Pershing-Raketen stationieren, die nun bald zur Verfügung stehen würden.”

Erhard Eppler: Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik. Überarbeitete und aktualisierte Taschenbuchausgabe, Frankfurt(Main): Suhrkamp 2001, S.46.

01/03

08/10/2007 (20:51) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Nationalschriftsteller

“… Da haben wir also eine neue Idee: daß jedes Land durch ein Buch repräsentiert zu sein habe oder jedenfalls durch einen Autor, der Autor vieler Bücher sein kann.

Merkwürdig ist nur – und ich glaube, daß dies bisher nicht bemerkt wurde -, daß die Länder Individuen ausgewählt haben, die ihnen nicht besonders ähnlich sind. So sollte man meinen, England hätte Dr. Johnson als Vertreter ausgesucht; aber nein, England hat Shakespeare gewählt, und Shakespeare ist gewissermaßen der unenglischste aller englischen Schriftsteller. Typisch für England ist das ‘understatement’, ist, weniger zu sagen, als die Dinge eigentlich ausmachen. Im Gegensatz dazu neigte Shakespeare zur Hyperbel in der Metapher, und es dürfte uns nicht überraschen, wenn Shakespeare zum Beispiel Italiener oder Jude gewesen wäre.

Ein anderer Fall liegt in Deutschland vor; ein bewundernswertes Land, das so leicht zum Fanatismus neigt, wählt ausgerechnet einen toleranten Mann, der überhaupt nicht fanatisch ist und dem der Begriff des Vaterlandes nicht sonderlich viel bedeutet; es wählt Goethe. Deutschland wird durch Goethe repräsentiert.

In Frankreich wurde kein Autor ausgewählt, aber man neigt zu Hugo. Natürlich hege ich große Bewunderung für ihn, aber Hugo ist kein typischer Franzose. Er ist ein Fremder in Frankreich; Hugo mit seinen großen Gebärden und ausufernden Metaphern ist nicht typisch für Frankreich.

Ein anderer, noch weit merkwürdigerer Fall ist Spanien. Spanien hätte durch Lope, durch Calderón, durch Quevedo vertreten sein können. Aber nein, Spanien wird repräsentiert durch Miguel de Cervantes. Cervantes ist ein Zeitgenosse der Inquisition, aber er ist tolerant, er ist ein Mann, der weder die spanischen Tugenden noch die spanischen Laster teilt.

Es ist, als dächte jedes Land, es müsse durch jemanden vertreten sein, der von ihm verschieden ist; durch einen, der ein wenig eine Art Heilmittel oder Gegengift für die Fehler des Landes darstellt. …”

José Luis Borges: Das Buch. In: ders.: Der ewige Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte. Leipzig/Weimar: Kiepenheuer 1985, S.10/11

08/10/2007 (20:51) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Nationalismus

“Nationalismus ist ein politisches Prinzip, das besagt, politische und nationale Einheiten sollten deckungsgleich sein. … Das Nationalgefühl ist die Empfindung von Zorn über die Verletzung des Prinzips, oder von Befriedigung angesichts seiner Erfüllung. …”

“Die Staatswesen, denen … der Nationalismus … seine Loyalität zukommen läßt, sind kulturell homogen und gründen sich auf eine Kultur, die den Stand einer (schriftgestützten) Hochkultur anstrebt; sie sind groß genug, um mit einiger Wahrscheinlichkeit das Erziehungssystem unterhalten zu können, das eine Schriftkultur zum Fortbestehen braucht; es fehlen ihnen rigide interne Untergruppierungen; ihre Bevölkerungen sind anonym, fließend und mobil …

[Ich leugne nicht], daß die agrarische Welt gelegentlich Einheiten hervorbrachte, die einem modernen Nationalstaat ähnelten; nur daß die agrarische Welt dies nur gelegentlich konnte, während die moderne Welt dies in den meisten Fällen tun muß. …”

“In den geschlossenen lokalen Gemeinschaften der Agrar- oder Stammeswelten waren Kontext, Tonfall, Gestik, Persönlichkeit und Situation ausschlaggebend, wenn es um Kommunikation ging. … Mit der Industriegesellschaft ist eine Gesellschaft entstanden, … die sowohl eine mobile Arbeitsteilung als auch eine ständige, häufige und präzise Kommunikation zwischen Fremden erfordert; dazu gehört die allgemeine Vorherrschaft expliziter Begriffe, die in einem Standardidiom und, wenn erforderlich, schriftlich übermittelt werden. …”

“Die nationalistische Ideologie [leidet] durchgehend unter falschem Bewußtsein. Ihre Mythen verkehren die Realität: Sie behauptet, eine authentische Volkskultur zu verteidigen, während sie doch in Wahrheit eine neue Hochkultur schmiedet; sie behauptet, eine alte Volksgesellschaft zu beschützen, während sie doch in Wirklichkeit dazu beiträgt, eine anonyme Massengesellschaft zu schaffen. …”

“[Die Agrargesellschaft schaffte] politische Einheiten, die entweder kleiner oder viel größer sind, als es den kulturellen Grenzen entspräche … [Deshalb] mußte das Zeitalter des Übergangs zum Industrialismus … auch ein Zeitalter des Nationalismus sein, eine Periode turbulenter Neuanpassung, in der entweder die politischen oder die kulturellen Grenzen oder beide verändert wurden, um dem neuen nationalistischen Imperativ gerecht zu werden …”

aus: Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne. Berlin: Rotbuch 1995 (Engl.Orig.-Ausg. 1983), S.8, 200/201, 54/55, 183, 64, hier in dieser Reihenfolge angeordnet.

Abb.: Eko Nugroho: Carnival Trap 2018 (detail), indoartnow, im Internet.

09/03

08/10/2007 (20:50) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
« Previous PageNext Page »