MALTE WOYDT

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konsequent

“Die unglückliche Liebe zur Konsequenz scheint eine deutsche Obsession zu sein; wenigstens von unsern Nachbarn wird sie nicht ohne weiteres geteilt. …

Nichts ist schematischer als der Amoklauf der Unbeirrbaren. Etwas Vorschriftsmäßiges, ja Bürokratisches haftet jeder Radikalität an, die sich auf nichts weiter beruft als auf Grundsätze. Wer von Prinzipientreue spricht, der hat bereits vergessen, daß man nur Menschen verraten kann, Ideen nicht.

Das Konsequent-Gebot verwechselt eine logische Kategorie mit einem moralischen Postulat. Weit entfernt davon, Klarheit zu schaffen, richtet es infolgedessen ein krausmauses Durcheinander in den Köpfen an. um einen kann das Pathos der Entschiedenheit nicht darüber hinwegtäuschen, daß die bloße Konsequenz, wie jede logische Bestimmung, leer ist; ich kann ebensogut ein konsequenter Vegetarier sein wie ein konsequenter Faschist, Zechpreller, Atomkraftgegner, Trotzkist, Heiratsschwindler oder Anthroposoph.

Zum andern bleibt meistens undeutlich, welche Art von Deckungsgleichheit es ist, die da eingeklagt werden soll. Geht es um das Denken? Darum, daß es hübsch bei sich selber bleibt und nicht von ihm abweicht, was es zuvor gedacht hat? Oder will die Forderung nach Konsequenz darauf hinaus, daß Denken und Handeln übereinstimmen müssen?

… Niemand behauptet, daß es ein Verbrechen wäre, eine Sache zu Ende zu denken. … Auch ist es keine Schande, daß sich die Wege, die wir auskundschaften, früher oder später meist als Sackgasse erweisen. … Manche ziehen es vor, sich lebenslänglich in ihrem cul-de-sac einzurichten. Und solange es beim Denken bleibt, ist auch dagegen wenig einzuwenden, ohwohl mir ein solcher Aufenthalt ziemlich langweilig scheint. Aber wie die Fabel lehrt halten die Liebhaber der Konsequenz sehr wenig von der Differenz zwischen Theorie und Praxis. Gerade dort, wo kein Weg mehr weiterführt, wollen sie ihre Idee in die Tat umsetzen. Das kann … mörderische Folgen haben. …

Ich für meinen Teil lade Euch ein, die Vorzüge der Inkonsequenz zu bedenken: das RIsiko, das sie gewährt, die Freiheit sich ungehindert zu bewegen, das Vergnügen der Phantasie. … Unter den verbotenen Hintergedanken, die da, nach Aufhebung der Selbstzensur, zum Vorschein kämen, könnte sich, wer weiß, manches Brauchbare, manches Überraschende finden; und wie angenehm wäre es doch, wenn der ganze Apparat der mühsamen Verdrängung, der politischen Bigotterie und der selbstverliebten Prinzipienreiterei auf dem Sperrmüll verschwände!”

aus: Hans-Magnus Enzensberger: Das Ende der Konsequenz, Transatlantik 1981, hier aus: ders.: Politische Brosamen, Frankfurt(Main): Suhrkamp 1985, S.14-26.

09/10

25/09/2010 (23:24) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Parteileben

“In meiner Familie lieben sich alle sehr … was nicht verhindert, dass jeder mit einem Messer im Rücken herumläuft. Mit einem klitzekleinen natürlich. In meiner Partei auch. In meiner Familie wird furchtbar viel geredet, jeder fällt einem ins Wort. In meiner Partei auch. In meiner Familie versucht jeder jeden davon zu überzeugen, dass er im Besitz der ultimativen Wahrheit ist. In meiner Partei auch. In meiner Familie stöhnt jede und jeder darüber, wie furchtbar im Grunde genommen diese Familie ist, aber niemand käme auf den Gedanken, sie zu verlassen. In meiner Partei auch.”

aus: Lale Akgün: Der getürkte Reichstag, zitiert nach: Susanne Gaschke: Mitmachen? Warum nicht! Die Zeit, 23.9.2010, S.6.

09/10

25/09/2010 (19:05) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Historismus 1

“Der Historismus hatte das Gefühl der Bodenständigkeit des Menschen aufgelockert und das einst stabile Weltbild, in dem ein jedes Ding und jedes Lebende seinen nach einem göttlichen Plan bestimmten Ort hatte, in Bewegung gebracht. Unser Lebensgefühl sagt uns: alles könnte auch anders sein. Alles ist historisch geworden, durch unzählige Ursachen so bestimmt, wie es gerade ist. Anfangs empfindet man dieses Historisch-Bedingtsein … nur gegenüber den ‘äußeren Gebilden’, nur Politik, Kunst, Wissenschaft scheinen einem historischen Wandel unterworfen zu sein. Später greift dieses Gefühl des historischen Bedingtseins auch auf die Substanz selbst über. Auch unsere Gefühle, letzte Stellungnahmen, Empfindungen erscheinen als geworden. Der Boden, von dem aus wir bisher als aus einem stabilen Standort die Welt betrachteten, ist aufgelockert, unser ganzes Ich ist preisgegeben, wir scheinen gleichsam über uns selbst zu schweben. In tausend Gestalten finden wir uns wieder, es ist dieselbe seelische Lage, die einst die Seefahrer in die räumliche Ferne trieb, die den Historiker zu seinem Wandern und Einfühlen in die Vergangenheit bestimmt.”

aus: Karl Mannheim: Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis, geschrieben 1922, hier aus: ders.: Strukturen des Denkens, Frankfurt(Main): Suhrkamp 1980, 137/138.

09/10

25/09/2010 (15:41) Schlagworte: DE,Lesebuch ::