MALTE WOYDT

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Lebensästheten

“‘L’État, c’est moi. Jeder Lebensästhet ist ein Aristokrat. … Sein selbstgeschaffenes Fürstentum regiert er mit absoluter Souveränität. Seine Existenz ist nicht in erster Linie an weltlichen Zielen, an der tätigen Moral des Bürgertums orientiert, sondern dient vor allem der Ausgestaltung seines Herrschaftsbereichs. Sein Handeln entspringt nicht dem Lustprinzip, sondern der Verpflichtung gegenüber dem eigenen Ehrenkodex. Sein Ziel ist die Perfektionierung des Seins, der würdigen Ausstattung der Gegenwart und der Inszenierung einer glorreichen Geschichte.

Arbeit dient dem Lebensästheten so nicht als Selbstzweck, Freizeit nicht als Oase der Selbstverwirklichung. Die Verpflichtung gegenüber den selbstgewählten Kennzeichen seiner Würde ist vielmehr allumfassend. …

In Deutschland werden bis zum Jahr 2006 Vermögen in Höhe von 2,6 Billionen Mark vererbt. Für die Lebensästheten eröffnet sich damit tatsächlich auf breiter Front die Möglichkeit, dem tätigen Leben zu entsagen und, wenn auch in den meisten Fällen als bescheidene Existenz, ihr Dasein in erster Linie der Umsetzung des lebensästhetischen Imperativs zu widmen, anstatt die ökonomischen Zwänge der Lohnarbeit zum Lebenssinn verklären zu müssen. Doch auch die zunehmende Unterstützung durch Eltern, die das Treiben ihrer Sprößlinge mit bisher nicht gekannter Langmut auch in fortgeschrittenem Alter subventionieren, ja selbst der ungesicherte ‘Mac-Job’, der über das Geldverdienen hinaus keinerlei Identifikation erfordert, machen den Lebensästheten von der Ökonomie unabhängig. …

So groß die Souveränität im Innern auch sein mag, über die Weltgebäude seiner Mitmenschen will und kann der Lebensästhet keine Herrschaft erringen. Und so fehlt das unvermeidliche Pendant zum Herren, der Diener nämlich, in der Welt des Lebensästheten völlig. Das einzige Modell menschlichen Zusammenlebens ist das der Diplomatie zwischen souveränen Herrschern. …

Die Lebensästheten sind also kleine Despoten, die ihre eigene identitätsstiftende Nation errichtet haben. Eine Nation, die ihre Geschichte pflegt (Kindheit, eigene Biographie) und ihre spezifischen Symbole, Flaggen, Wappen, Uniformen (Wohnung, Styling etc.) stolz präsentiert. …

Erst wenn Fremdherrschaft oder Eroberung (Bevormundung, institutionelle Zwänge) droht, werden selbst friedliche Gemeinwesen zu verschworenen Verteidigungsgemeinschaften. … Brennende Asylantenheime, Umweltkatastrophen, Kriege und Krisen in aller Welt werden auf ihr Bedrohungspotential für die Unversehrtheit des lebensästhetischen Projektes überprüft. Im Falle des Falles entscheiden sich die kleinen Kabinette zur Generalmobilmachung, greifen zur Kerze und halten Mahnwachen ab, boykottieren oder demonstrieren. Diese Blauhelmmissionen der souveränen Lebensästheten sind natürlich kurzlebige Aktionen. Verschwindet die Bedrohung, erlahmt auch sofort das Engagement. Auf den Mechanismus allerdings kann man sich verlassen.”

Johannes Goebel / Christoph Clermont: Die Tugend der Orientierungslosigkeit, zit. bei Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Frankfurt(Main): Suhrkamp 1997, S.246-249

Abb.: Sophie Calle: Birthday Ceremony (1991), Camden Art Centre: Double Game 1999, im Internet.

08/10/2007 (11:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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