MALTE WOYDT

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LOGIE

Abraham

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“Lange fand ich das Ungeheure, das Abstoßende, das Bedrohliche des Glaubens – des Glaubens an nur einen Gott – im zweiundzwanzigsten Kapitel des ersten Buches Mose zwischen dem zweiten und dem dritten Vers. … Der zweite lautet: ‘Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast und geh hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den ich sagen werde.’ Der dritte: ‘Da stand Abraham des Morgens früh auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, davon ihm Gott gesagt hatte.’ Und dazwischen: nichts. Kein Zögern, kein Nachfragen, kein Bekümmertsein um den Sohn, kein Mitleid mit seiner Frau, keine Rücksicht überhaupt auf ein irdisches Urteil. Er hätte es ohne Wimpernzucken getan. …

Was könnte Liebe weniger wollen, als dem eigenen Kind die Kehle durchzuschneiden? Hier ward das Gefühllosste zum Inbegriff des Gottgefälligen erklärt. Erst Caravaggio brachte mich dazu, auch den Abgrund anzunehmen, der sich zwischen dem zweiten und dem dritten Vers auftut. …

Der Engel muß ihm fest in den Unterarm greifen, damit Abraham das Messer nicht … an den Hals des Jungen legt …

Ich behaupte …, daß die Geschichte von der Abschaffung des Menschenopfers erzählt, die für den Glauben an nur einen Gott unabdingbar war. Nicht, daß er es getan hätte – daß er es nicht tun durfte, ist ihr Kern. …”

aus: Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. München: Beck Paperback 2017 (geb. 2015), S. 199-203.

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28/08/2017 (0:32) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Maria

9301012 Keulen St. Kunibert Pieta HR-foto 300916

“Wenn ich recht sehe, stellen sich die Katholiken Maria fast immer jünger vor, als eine Frau sein könnte, deren Sohn vier- oder achtunddreißigjährig starb, die damalige Lebenserwartung einberechnet als reifer Mann. … – Wie soll man Gott einem Kind erklären, einem Mädchen, das seinen getöteten Vater im Arm hält? … Die meisten von uns … haben bereits oder werden einmal ihren toten Vater, ihre tote Mutter im Arm halten. Wenn etwas, dann ist dies der menschlichen Erfahrung eine Regel, daß die Eltern gehen und wir allein auf Erden zurückbleiben, sie kleiner werden, wir größer.”

aus: Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. München: Beck Paperback 2017 (geb. 2015), S. 54-58.

08/17

27/08/2017 (12:11) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Imperium

“Imperien sind mehr als große Staaten; sie bewegen sich in einer ihnen eigenen Welt. Staaten sind in eine Ordnung eingebunden, die sie gemeinsam mit anderen Staaten geschaffen haben und über die sie daher nicht allein verfügen. Imperien dagegen verstehen sich als Schöpfer und Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen abhängt und die sie gegen den Einbruch des Chaos, der für sie eine stete Bedrohung darstellt, verteidigen müssen. …

Unser Bild von Imperien ist durch die Vorstellung geprägt, dass die Peripherie von ihnen ausgesaugt und ausgebeutet werde. Sie verarme, und das Zentrum werde immer reicher. Tatsächlich hat es solche Imperien stets gegeben, aber sie waren nur von kurzer Dauer. … Dagegen hatten diejenigen Imperien eine längere Dauer, die in ihre Randbereiche investierten und so dafür sorgten, dass die Peripherie schließlich am Fortbestand des Imperiums ebenso interessiert war wie das Zentrum. …

Imperien kennen keine Nachbarn, die sie als Gleiche – und das heißt: als gleichberechtigt – anerkennen; bei Staaten hingegen ist das die Regel. … Staaten gibt es stets im Plural, Imperien meist im Singular. …

Während Staaten nicht zuletzt infolge der direkten Konkurrenz mit den Nachbarstaaten ihre Bevölkerung gleichermaßen integrieren – und das heißt vor allem: ihnen gleiche Rechte gewähren, ob sie nun im Kerngebiet des Staates oder in den Grenzregionen lebt -, ist dies bei Imperien nicht der Fall: Fast immer gibt es hier ein vom Zentrum zur Peripherie fortlaufendes Integrationsgefälle, dem zumeist eine abnehmende Rechtsbindung und geringer werdende Möglichkeiten korrespondieren, die Politik des Zentrums mitzubestimmen. …

Die Übergänge zwischen hegemonialer Vorherrschaft und imperialer Herrschaft [sind] fließend … . Dennoch ist es sinnvoll, beide voneinander zu unterscheiden. Hegemonie ist danach Vorherrschaft innerhalb einer Gruppe formal gleichberechtigter politischer Akteure; Imperialität hingegen löst diese – zumindest formale – Gleichheit auf und reduziert die Unterlegenen auf den Status von Klientelstaaten oder Satelliten. …

Die meisten Imperien verdanken ihre Existenz einem Gemisch von Zufällen und Einzelentscheidungen, die oftmals auch noch von Personen getroffen wurden, welche dafür politisch gar nicht legitimiert wurden … Es gibt zweifellos eine imperiale Dynamik, die aus dem Zentrum zur Peripherie drängt und den eigenen Machtbereich immer weiter expandiert; daneben ist jedoch ein von der Peripherie ausgehender Sog zu bemerken, der ebenfalls zur Ausdehnung des Herrschaftsbereiches führt. …

[Um ein Gebilde Imperium nennen zu können muss es] mindestens einen Zyklus des Aufstiegs und Niedergangs durchschritten und einen neuen angefangen haben … . Das Kriterium des längeren Bestehens eines Imperiums wird damit an der institutionellen Reform– und Regenerationsfähigkeit festgemacht, durch die es sich gegenüber den charismatischen Qualitäten seines Gründers (oder der Gründergeneration) verselbstständigt. … Deutschland und Frankreich [sind demnach] … Beispiele für failed empires …

Die Kontrolle des Handels kann ebenso eine Quelle imperialer Macht sein wie die Beherrschung von Gebieten und Räumen. …

Aufschlussreicher als der multiethnische beziehungsweise multinationale Charakter von Imperien ist der Umstand, dass es für die Zentralmacht innerhalb der von ihr beherrschten imperialen ‘Welt’ offenbar einen Zwang zur politischen und militärischen Intervention gibt. … Nur innerhalb einer ‘Welt’-Ordnung, die vom Staatenmodell geprägt ist, besteht eine … Neutralitätsoption. Ein Imperium dagegen, das bei Konflikten innerhalb seiner ‘Welt’ oder an deren Peripherie fortgesetzt neutral bleibt, verliert zwangsläufig seinen imperialen Status. …

[Wer] nach der Logik des Imperiums und den aus ihr erwachsenden Handlungsimperativen fragt, [misst] den Einflüssen und Entscheidungen von Personen eine geringere Bedeutung zu. …

Die Logik des Imperiums weiß moralische Glaubwürdigkeit sehr wohl als Machtfaktor einzusetzen, aber sie würde sich nie selber an ihr messen lassen. …”

aus: Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt 2005, S.8-34.

Abb.: León Ferrari: La civilisatión Occidental y Cristiana, 1965.

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26/07/2017 (23:45) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Lebensart

“Ich lebe hier wie – wie – ich weiß selbst nicht
recht wie. Doch so ongefähr
So wie ein Vogel, der auf einem Ast
Im schönsten Wald sich, Freiheit atmend, wiegt,
Der ungestört die sanfte Lust genießt,
Mit seinen Fittichen von Baum zu Baum,
Von Busch zu Busch sich singend hinzuschwingen.”

aus: Johann Wolfgang Goethe: aus einem Briefe an Johann Jacob Riese, Leipzig, den 21. Oktober 1765. In: Goethes Werke in zehn Bänden, Zürich/Stuttgart: Artemis 1962, S. 196.

Abb.: Eunice Nuh: Waiting, 2011, indoartnow, im Internet.

07/17

25/07/2017 (22:20) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Igbo-Frauen

“In Anbetracht ihrer multiplen sozialen Rollen haben Igbo-Frauen nicht nur eine einzige geschlechtliche Identität. …

Die erste wesentliche Grundlage von Identität [ist] die Verwandtschaftslinie (lineage), in der die Machtverhältnisse diffus sind. Die grundlegende soziale Differenzierung entfaltet sich entlang folgender Kategorien: umuada (die Töchter innerhalb einer Verwandtschaftslinie), okpala (die Söhne innerhalb einer Verwandtschaftslinie) und inyemedi (die in die Verwandtschaftslinie einheiratenden Ehefrauen). Das Ordungsprinzip innerhalb jeder dieser … Kategorien ist die Seniorität. …

Innerhalb dieses Systems nehmen die umuada (Frauen, Töchter) und die okpala (Männer, Söhne) dieselbe dominante Rolle eines ‘Ehemannes’ gegenüber denjenigen Frauen ein, die nicht aus derselben Verwandtschaftslinie kommen. …

Anders als in westlichen Eheverhältnissen, in der verheiratete Töchter alle Mitspracherechte in ihrer Geburtsfamilie verlieren, haben umuada in ihren Geburtsfamilien weiterhin eine gewichtige Stimme. Sie übernehmen soziale Funktionen innerhalb der Rechtsprechung und der Friedensstiftung und führen regelmäßig Reinigungsrituale sowie Begräbnisrituale für verstorbene Mitglieder ihrer Familie aus. …

Da sie auch nach ihrem Umzug in die Familie ihres Mannes weiterhin einen dominanten Einfluss in ihrer eigenen Verwandtschaftslinie behalten, entwickeln umunwanyi (Frauen) mindestens zwei verschiedene soziale Identitäten, zwischen denen sie permanent hin- und herwechseln. …

Mutterschaft und Seniorität … [lassen] die Position der nwwye (Ehefrau)  erheblich an Bedeutung gewinnen … Des weiteren entzieht sich in einem historischen Kontext, in dem Frauen andere Frauen als Ehefrauen heiraten konnten und dies auch taten, die Frage nach dem ‘Ehemann-Sein’ oder dem ‘Ehefrau-Sein’ simplen physiologischen Interpretationen der westlichen Kultur. (Di, der Begriff, welcher als ‘Ehemann’ übersetzt wird, bezieht sich lediglich auf die Mitglieder einer Familie, in die die Frau einheiratet.)

Frauen können Ehefrauen und Ehemänner gleichzeitig sein. Einige können in der Tat selbst eine Ehefrau oder Ehefrauen heiraten (ohne dass sexuelle Beziehungen involviert sind), selbst wenn sie bereits mit einem Mann verheiratet sind. …

Die Gesellschaft des westlichen Igbolandes ist leistungsorientiert … Konsequenterweise kann eine soziale Klassifizierung, die Frauen Männern unterordnet – oder auch umgekehrt – nicht funktionieren. … Auch von Frauen wird erwartet, dass sie erfolgreich sind. …

[Erst] die großen sozialen Umwälzungen während der Kolonialherrschaft … [schufen]  einige jener Traditionen …, die Männer privilegieren und die heutzutage als ‘traditionell’ oder ‘indigen’ gelten. …

[Es wird noch komplizierter…]

Es gab früher (und in manchen Gemeinschaften gibt es wohl auch heute noch) eine weit verbreitete und bedeutsame soziale Praxis, die als idigbe, idegbe oder mgha bekannt ist. Diese Institution ermöglicht es einer Tochter – ihre Ehe aufrechterhaltend oder diese auflösend -, in ihr Geburtshaus zurückzukehren, wo sie mit einem Liebhaber Kinder haben kann, die in ihre eigene Verwandschaftslinie integriert werden.

Es gibt zwei unterschiedliche Lesarten, wie idigbe oder mgha verstanden werden können. Die erste … beschreibt eine Situation, in der eine Frau ein Verhältnis mit einem Liebhaber eingeht, welches auf beiderseitigem Einverständnis beruht, sie behält ihre ursprüngliche Identität als Tochter und wird niemals dessen Ehefrau. Da kein Brautschatz gezahlt wurde, behält … [sie] das alleinige Sorgerecht für die Kinder

Die zweite … [bezeichnet] eine Tochter, die formell die Kultstätte ihrer Ahnen betreut. Dies geschieht in dem seltenen Fall, in dem es keinen männlichen Nachfolger gibt …”

aus: Nkiru Nzegwu: Feminismus und Farika: Auswirkung und Grenzen einer Metaphysik der Geschlechterverhältnisse. In: Franziska Dübgen / Stefan Skupien: Afrikanische politische Philosophie. Berlin: Suhrkamp 2015, S.206-215.

Zara Maryam Khan: Just tell him who I am, ca. 2023, im Internet.

07/17

 

18/07/2017 (12:31) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Stämme

“Die (koloniale) Regel war, dass jede und jeder Einheimische einem ‘Stamm’ angehören und jeder dieser Stämme einen absoluten Herrscher haben müsse. Er oder sie konnte kein freies Individuum sein und musste sich den Bräuchen seines sogenannten ‘Stammes’ unterwerfen. Die Volksgruppen hatten dabei keine Gesetze, nur Bräuche, und diese Bräuche wurden durch die Kolonialverwaltung durchgesetzt, die sie den ‘Einheimischen’ zuschrieb. Man sieht also, dass das, was wir manchmal unsere Tradition nennen, bereits eine manipulierte Tradition ist. …

In der letzten Zeit wurde die Vorstellung von ‘allogenen’ und ‘autochtonen’ Völkern wiederbelebt und ist seitdem in den politischen Sprachgebrauch Kameruns eingegangen. Eine ‘autochtone’ Person ist jemand, der den Raum bewohnt, in dem der Kolonialherr ihn bzw. seine Vorfahren antraf, entsprechend seinen sogenannten ‘Stamm’ lokalisierte und den Ort dieser Gruppe als ihr einziges legitimes Territorium zuwies. … [Heute muss] eine ‘allogene’ Person … seinen Platz als Bürgermeister zugunsten einer ‘autochtonen’ Person räumen. Das alles sind die verwirrenden Konsequenzen einer Fehlkonzeption von Identität, die eigentlich ein Produkt der Kolonisation ist …”

aus: Fabien Eboussi Boulaga: Wenn wir den Begriff “Entwicklung” akzeptieren, sind wir verloren. Von der Notwendigkeit einer gegenseitigen “Dekolonisierung” unseres Denkens. In: Franziska Dübgen / Stefan Skupien: Afrikanische politische Philosophie. Berlin: Suhrkamp 2015, S.119/120.

Abb: Fashion Designer Kepha Mainas East Africa Types collection, The Nest Collective, Kenya, Not African Enough, im Internet.

07/17

17/07/2017 (10:43) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Konsum 2

“Als Thomas de Maizière kürzlich seine Thesen zur deutschen Leitkultur präsentierte, war … interessant, was … er verschweigt: die Tatsache, dass es eine Leistungskultur überhaupt nur geben kann, … wenn zugleich eine entsprechende Konsumkultur existiert.

In der einseitigen Betonung von ‘Leistung’ – sprich: Produktion – wird der Konsum als Kehrseite dezidiert beschwiegen. Historisch gesehen ist das gerade im Fall Deutschlands insofern nicht selbstverständlich, als das sogenannte Wirtschaftswunder, das in weiten Teilen ein mit ausländischen Krediten finanzierter Kaufrausch war, bis heute zum Kernbestand des kollektiven Gedächtnisses gehört. …

Angesichts von Klimawandel, Naturzerstörung oder den Arbeitsbedingungen in pakistanischen Sweatshops und chinesischen Fabriken ist im öffentlichen Bewusstsein mittlerweile verankert, dass der in Konsumgesellschaften produzierte Wohlstand nur durch die Zerstörung seiner eigenen Grundlagen … zu haben ist. …

An dieser Stelle wird es kompliziert. … Es geht hier weniger um ein Erkenntnisdefizit als um ein Handlungsdefizit. … Das Problem ist …, dass Hochkonsumkulturen auf einer Art kollektiven Akt der Verdrängung beruhen, auf der schlichten Tatsache, dass das Lustprinzip in der Regel das Realitätsprinzip aussticht. …

Gleichwohl wird Konsumkritik auch heute oft als moralistischer Diskurs der Besserverdienenden empfunden, … jenes ökologisch sensibilisierten Bürgertums, das sich punktuellen Verzicht eben nicht nur leisten kann, sondern diesen dann auch noch zum Mittel sozialer Distinktion macht: … Manufactum-Mittelschicht gegen Discounter-Proletariat. …

Die puritanischen Werte, die nach klassischen Autoren wie Max Weber für den Kapitalismus geradezu konstitutiv waren (Fleiß, Sparsamkeit, weltliche Askese), sind mittlerweile obsolet geworden. Systemgerechtes Verhalten verlangt heute in erster Linie extensiven Konsum. …”

aus: Nils Markwardt: Wir sind Konsumnation, ZEIT online (im Internet), 8.6.17

Abb.: Duane Hanson: Supermarket lady, 1969, Ludwig-Forum Aachen, im Internet.

 

06/17

08/06/2017 (22:11) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Gesetzestreue

“Viel von der gespenstisch peniblen Gründlichkeit, mit der die ‘Endlösung‘ in Gang gesetzt und gehalten wurde – einer Gründlichkeit, die auf Beobachter meistens als typisch deutsch oder doch als Charakteristikum des perfekten Bürgertums wirkt -, läßt sich auf die eigentümliche, in Deutschland tatsächlich sehr verbreitete Vorstellung zurückführen, daß Gesetzestreue sich nicht darin erschöpft, den Gesetzen zu folgen, sondern so zu handeln verlangt, als sei man selbst der Schöpfer der Gesetze, denen man gehorcht.”

aus: Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem, München: Piper 1964 (US-Amerikan. Orig.-Ausg. 1963), S.175.

05/17

15/05/2017 (0:14) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Nicht-Teilnehmen

“In Wahrheit gab es nur einen Weg, im Dritten Reich zu leben, ohne sich als Nazi zu betätigen, nämlich, überhaupt nicht in Erscheinung zu treten: sich aus dem öffentlichen Leben nach Möglichkeit ganz und gar fernzuhalten war die einzige Möglichkeit, in die Verbrechen nicht verstrickt zu werden, und das Nicht-Teilnehmen war das einzige Kriterium, an dem wir heute Schuld und Schuldlosigkeit des einzelnen messen können.”

aus: Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem, München: Piper 1964 (US-Amerikan. Orig.-Ausg. 1963), S.164.

05/17

15/05/2017 (0:08) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Banalität des Bösen

“Eichmann war nicht Jago und nicht Macbeth, und nichts hätte ihm ferner gelegen, als ein Richard III. zu beschließen, ‘ein Bösewicht zu werden’. Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive; und auch diese Beflissenheit war an sich keineswegs kriminell, er hätte bestimmt niemals seinen Vorgesetzten umgebracht, um an dessen Stelle zu rücken. … Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit … die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden. …

Die Anklage unterstellte nicht nur, daß es sich um ‘vorsätzliche’ Verbrechen handelte – dies bestritt er nicht -, sondern auch, daß er aus niedrigen Motiven und in voller Kenntnis der verbrecherischen Natur seiner Taten gehandelt habe. Beides leugnete er auf das entschiedenste. Was die niedrigen Motive betraf, so war er sich ganz sicher, daß er nicht ‘seinem inneren Schweinehund’ gefolgt war; und er besann sich ganz genau darauf, daß ihm nur eins ein schlechtes Gewissen bereitet hätte: wenn er den Befehlen nicht nachgekommen wäre und Millionen von Männern, Frauen und Kindern nicht mit unermüdlichem Eifer und peinlichster Sorgfalt in den Tod transportiert hätte. …

Ja, es war noch nicht einmal ein Fall von wahnwitzigem Judenhaß, von fanatischem Antisemitismus oder von besonderer ideologischer Verhetzung. ‘Persönlich’ hatte Eichmann nie das geringste gegen die Juden gehabt. … Tatsache war …, daß er ‘normal‘ und keine Ausnahme war und daß unter den Umständen des Dritten Reiches nur ‘Ausnahmen’ sich noch so etwas wie ein ‘normales Empfinden’ bewahrt hatten. …

… die traurige und beunruhigende Wahrheit war vermutlich, daß nicht sein Fanatismus Eichmann zu seinem kompromißlosen Verhalten im letzten Kriegsjahr getrieben hat, sondern sein Gewissen …

Im Dritten Reich hatte das Böse die Eigenschaft verloren, an der die meisten Menschen es erkennen – es trat nicht mehr als Versuchung an den Menschen heran. Viele Deutsche und viele Nazis, wahrscheinlich die meisten, haben wohl die Versuchung gekannt, nicht zu morden, nicht zu rauben, ihre Nachbarn nicht in den Untergang ziehen zu lassen … und nicht, indem sie Vorteile davon hatten, zu Komplizen all dieser Verbrechen zu werden. Aber sie hatten, weiß Gott, gelernt, mit ihren Neigungen fertigzuwerden und der Versuchung zu widerstehen.”

aus: Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem, München: Piper 1964 (US-Amerikan. Orig.-Ausg. 1963), S.14/15, 53/54, 185, 189.

Abb.: Philip Guston: Riding Around, 1969.

05/17

14/05/2017 (23:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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