MALTE WOYDT

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Beleidigtsein

“… Was wir momentan erleben, ist das Gegenteil lockerer oder sogar humorvoller Contenance in notwendigen Diskursen. Stattdessen kultiviert unsere Gesellschaft ein individuelles Recht auf Beleidigtsein: Mit heiligem Eifer sucht man unentwegt nach Gründen, weshalb man sich mal wieder so richtig schön auf den Schlips oder Schmerzempfindlicheres getreten fühlen könnte. …

Auf Inhalte, die polemisch, ironisch, zugespitzt, pointiert, spöttisch, schwarzhumorig oder provokant sind, die dem Zeitgeist entschieden widersprechen, den Mainstream konterkarieren oder einer vordergründigen Moral bewusst nicht gehorchen wollen, gibt es immer häufiger eine einzige reflexhafte Reaktion: heftigste Empörung, drastische Diskriminierungsvorwürfe und pauschale Anschuldigungen.

‘Na und?’, könnte man sagen – dann sollen diejenigen, die sich permanent angegriffen fühlen, doch einfach dauerbeleidigt sein. Betrifft ja nur sie selbst. Aber das stimmt leider nicht. Denn wer schmollt, zieht sich zurück, will nicht mehr zuhören, boykottiert bewusst jeden Dialog und verhindert so letztlich die Chance auf eine konstruktive Debatte und die Annäherung über Argumente.

Die Tendenz zu inflationärem Beleidigtsein ist Gift für unsere Diskurskultur. Eine Gesellschaft, die es nicht schafft, in schwierigen Streitfragen miteinander im Gespräch zu bleiben, und die stattdessen mit Anschuldigungen um sich wirft, verhärtet sukzessive ihre ideologischen Fronten und erzeugt ein Klima der Feindseligkeit, das Kompromisse irgendwann unmöglich macht. …

Das zentrale Problem der Beleidigten sämtlicher Fraktionen ist längst, dass immer weniger faktische Kränkung ausreicht, um immer mehr empfundene Kränkung auszulösen. …

Wie konnte es bloß dazu kommen, dass in Diskursen immer seltener mit Argumenten und immer häufiger mit Emotionen gepunktet wird? Und warum führen wir keine breite Debatte darüber, wohin uns diese Entwicklung bereits gebracht hat und noch bringen könnte? …

Warum mitunter lieber Affekte ins Feld geführt werden, als Inhalte, ist relativ leicht zu beantworten: Drangsalierten Emotionen lässt sich kaum etwas entgegensetzen. Was soll man schon jemandem antworten, der darüber klagt, dass ihm eine Meinungsäußerung, eine Satiresendung, ein Werbespot oder eine Karikatur gravierende seelische Qualen bereitet? …

Der Humanist tendiert hier verständlicherweise zu Bedauern und Mitgefühl. Das zeichnet ihn aus. Einem gepeinigten Individuum muss geholfen werden, erst recht, wenn es einer Minderheit angehört und ohnehin nicht viel zu lachen hat. Doch diese gut gemeinte Haltung lässt einen unauslöschlichen menschlichen Charakterzug außer Acht, der da lautet: genug ist nie genug.

Gibt man dem Wunsch nach, durch rigidere Sprachregelungen, Zensur und öffentliche Ächtung möglichst viele ‘verletzende’ Inhalte aus der Welt zu verbannen, wird man erleben, dass es plötzlich immer mehr ‘verletzende’ Inhalte gibt.

Sämtliche Randgruppen melden dann noch mehr Ansprüche an, neue Randgruppen erfinden sich. Jeder will mal. Schon bald fühlen sich sämtliche Mütter durch das Wort ‘Vaterland’ diskriminiert – und sämtliche Väter durch das Wort ‘Muttersprache’. Die Bundesrepublik wird zur Mimosen-Zuchtstation. Und das politisch-korrekte Element noch bestimmender, als es ohnehin schon ist. Die Maßstäbe dafür, wer wirklich beleidigt wurde, wer sich glaubhaft beleidigt fühlen darf, verschwimmen endgültig. …

Beschäftigt man sich mit Paragraf 185 des Strafgesetzbuches, lernt man, dass … hinter einer justiziablen Beleidigung … der Wille des Täters erkennbar sein [muss], beleidigen zu wollen. …

Wenn wir unsere liberale Normalität und unsere nahezu uneingeschränkte Kunstfreiheit langfristig erhalten wollen, müssen wir endlich zu der Einsicht kommen, dass sich hinter überbordenden Shitstorms und permanent ‘verletzten Gefühlen’ keine menschlichen Tragödien verbergen, die es zu bedauern gilt. …

Wer persönlich angegriffen und beleidigt wird, dem bietet der Rechtsstaat juristische Handhabe. Ideologien, Weltanschauungen und politische Überzeugungen aber sind keine Individuen. Sie sind geistige Angebote, die man befürworten oder ablehnen kann. Und zwar genauso harsch und ätzend wie man es möchte. …”

aus: Simon Urban: Debattenkultur: Ein Volk der Beleidigten. Zeit-Online, 31. Juli 2016, im Internet

07/16

31/07/2016 (22:42) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Wellness

[EN]

“Der … [Gesellschaftsvertrag] bricht langsam in sich zusammen und so entsteht dieser moderne Wahn nach sauberem Essen, gesundem Leben, persönlicher Produktivität und der ‘radikalen Selbstliebe’ … Je angsteinflößender die wirtschaftliche Zukunft wirkt, desto öfter geht es in der öffentlichen Debatte um individuelle Erfüllung, als wäre das ein verzweifelter Versuch, uns einzureden, dass wir noch Kontrolle über unser Leben hätten. …

Kann all dieses positive Denken also schaden? Carl Cederström und André Spicer, Autoren des Buchs The Wellness Syndrom, sind davon überzeugt. Sie argumentieren, dass versessene Rituale zur Selbstsorge auf Kosten des gemeinschaftlichen Engagements gehen. So wird jedes soziale Problem zu einer persönlichen Frage. ‘Wellness’, sagen sie, ‘wurde zur Ideologie.’ …

Dank Camerons Änderungen im Sozialhilfesystem wurde Arbeitslosigkeit zur psychischen Krankheit. Wir befinden uns in der längsten und schlimmsten Rezession der Geschichte – dennoch sollten … Arbeitslose ihren ‘psychischen Widerstand‘ behandeln, indem sie Kurse besuchen, die ihnen helfen, ihrer Verelendung positiver gegenüber zu stehen. …

Die Wohlfühl-Ideologie ist ein Symptom einer breiteren politischen Krankheit. … Wir sollen glauben, dass [allein] Arbeit [an uns selbst] unser Leben verbessern kann. …

Die Wellness-Ideologie … überzeugt … uns davon, dass es kein wirtschaftliches Problem ist, wenn wir krank, traurig und erschöpft sind. …  Die Gesellschaft ist nicht verrückt oder kaputt: Du bist es. … [Diese Ideologie] hindert … uns daran, eine breitere, kollektive Reaktion auf Armut, Ungerechtigkeit und die kriselnde Arbeitswelt zu finden. …

Alles, was du brauchst, um dein Leben zu ändern, sind ein paar Mantras und ein Terminkalender. Ähnlich beruhigend war einmal der Gedanke: Die Entbehrungen dieser Existenz werden eines Tages im Himmel belohnt.  Es gibt einen Grund, warum die Wohlfühlpraktiken so gut strukturiert sind wie Kulte (tu dies und du wirst gerettet; tu dies und du bist sicher): Sie sind ein Glaubensritual. …

Nachdem die Wohlfühl-Sprache vor allem von der politischen Rechten bedient wird, ist es nicht verwunderlich, dass [bei] fortschrittliche[n], liberale[n] und linke[n] Gruppen … positives Denken [vollkommen aus der Mode geriet] …

Die ängstliche Jugend scheint [heute] die Wahl zu haben zwischen verzweifeltem Narzissmus und niederschmetterndem Elend. Was ist besser? …

Das Problem mit der Selbstliebe, wie wir sie gerade verstehen, ist, dass wir Liebe an sich zu einfach definieren, mit Herzchen und Blumen, Fantasie[,] … rituellem Konsum [und herzloser Leidenschaft]. Die Moderne macht uns zu betrübten, ein bisschen gruseligen [Selfie-nehmenden] Teenagern, die sich selbst sagen, wie besonders und perfekt sie sind. Das ist … [aber gar keine echte] Selbstliebe …

Die härtere, langweiligere Art der Selbstsorge besteht aus täglichen, unmöglichen Mühen, aufzustehen und durch das Leben zu kommen, in einer Welt, die dich lieber niedergebückt und angepasst sieht. … Echte Liebe… ist kein Gefühl, sondern … eine Handlung. Es geht darum, was du für andere tust – über Tage, Wochen und Jahre. Es ist die Art der Liebe, die wir uns am wenigsten zugestehen, gerade in der politischen Linken.

Die meisten Linken könnten viel von der Queer-Community lernen, [für die schon lange] … für sich selbst und für ihre Freunde [zu sorgen nicht ein Nebenaspekt des Kampfes ist, sondern in vielerlei Hinsicht der Kampf selber]. … Die Wohlfühl-Ideologie mag ausbeuterisch sein, und die Tendenz der Linken, Verzweiflung zum Fetisch zu erklären, ist verständlich, aber sie ist nicht akzeptabel. Wenn wir unsere Energie daran verschwenden, uns selbst zu hassen, wird sich nichts ändern. Wenn Hoffnung zu schwierig zu handhaben ist, dann können wir uns wenigstens um uns selbst kümmern. An meinen dunkelsten Tagen erinnere ich mich an die Worte der Poetin und Aktivistin Audre Lorde, die viel über das Überleben in einer unmenschlichen Welt wusste, und die schrieb: ‘Selbstsorge ist kein überflüssiger Luxus, es ist Selbsterhaltung, und die ist ein Mittel politischer Kriegsführung.'”

aus: Laurie Penny: Die Wohlfühl-Lüge, ZEIT-Online, 19.7.16 [im Internet], habe mir erlaubt die ZEIT-Übersetzung anhand des englischen Originals ein wenig zu verbessern :-)

Abb.: Renzo Martens: Enjoy poverty, 2009, im Internet.

07/16

20/07/2016 (1:22) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Kosmopolitismus

“Die junge, intellektuelle Linke hat den Bezug zu der Unterklasse im eigenen Land fast gänzlich verloren. Da gibt es vonseiten der Gebildeten weder eine Sensibilität noch eine Aufmerksamkeit und schon gar keine Verbindungen mehr. Die Linke hat sich eben kosmopolitisiert und … ihren politischen Schwerpunkt auf eine kulturelle Ebene verlagert, und eben auf dieser Ebene unterscheiden sich die Milieus der hoch und weniger Gebildeten deutlich voneinander. Dieser Verlust der Kommunikation zwischen den Klassen, wenn ich diesen Begriff einmal verwenden darf, ist massiv und ein Problem für die soziale Gerechtigkeit.

Wir sehen das übrigens nicht nur im Diskurs. Auch in den Lebensstilen und Werthaltungen sind die Differenzen  zwischen “oben” und “unten” sowie den urbanen und ländlichen Milieus unübersehbar. … Menschen suchen ihre Partner in der eigenen Schicht und im gleichen Bildungsstand. Dies verschärft die soziale Spaltung und Segregation unserer Gesellschaften noch weiter. Im Schatten der wachsenden kulturellen Sensibilität der Linken ist also eine neue Klassengesellschaft entstanden. Und diese Klassengesellschaft ist bislang zumindest nicht Thema des jungen intellektuellen Diskurses.”

aus: Wolfgang Merkel: “Junge Linke haben Bezug zur Unterschicht verloren”, Interview durch Robert Pausch, Zeit online 22.6.16, im Internet.

06/16

23/06/2016 (17:42) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Alzheimer

“… Erst kürzlich hatte er festgestellt, dass der Akt des Sichhinsetzens im Kern ein Kontrollverlust war, ein blinder freier Fall nach hinten. Sein fabelhafter blauer Sessel in St. Jude war wie ein Baseballhandschuh, der jeden auf ihn zufliegenden Körper, gleich, aus welchem Winkel und mit welcher Wucht er kam, sanft aufzufangen wusste, der Sessel hatte starke, hilfsbereite Bärenarme, auf die Alfred zählen konnte, wenn er sich, völlig blind, rückwärts fallen ließ. …

… Aber Denise ging schon aus der Küche und brachte den Teller Alfred, für den das Problem des Daseins dieses war: dass die Welt, wie ein aus dem Boden emportreibender Weizensämling, sich auf der zeitlichen Achse vorwärts bewegte, indem sie ihrem äußeren Rand Zelle für Zelle hinzufügte, also einen Moment auf den anderen schichtete, und dass es, selbst wenn man die Welt in ihrem frischesten, jüngsten Moment begriff, keinerlei Garantie dafür gab, dass man sie auch einen Moment später noch begreifen konnte. Als er gerade verstanden hatte, dass seine Tochter Denise ihm im Wohnzimmer seines Sohnes Chip einen Teller Snacks reichte, reifte bereits der nächste Augenblick im Ablauf der Zeit zu einer urtümlichen, noch unbegriffenen Existenz heran, in der Alfred zum Beispiel die Möglichkeit, dass seine Frau Enid ihm im Salon eines Bordells einen Teller Fäkalien reichte, nicht vollkommen ausschließen konnte, und kaum hatte er sich der Gegenwart von Denise, den Snacks und Chips Wohnzimmer vergewissert, da hatte der äußere Rand der Zeit bereits eine weitere Schicht Zellen hinzugewonnen, sodass er abermals mit einer andersartigen, noch unbegriffenen Welt konfrontiert war, weshalb er es, anstatt seine Kräfte bei diesem Wettlauf zu verausgaben, zusehends vorzog, seine Zeit unter Tage zuzubringen, zwischen den unveränderlichen historischen Wurzeln der Dinge.

‘Etwas zur Stärkung, solange ich das Mittagessen vorbereite’, sagte Denise.

Dankbar blickte Alfred auf die Snacks, die sich ihm zu ungefähr neunzig Prozent stabil als etwas Essbares präsentierten und nur sporadisch in Gegenstände von ähnlicher Größe und Form hinüberflimmerten. …

… Wie eine Ehefrau, die gestorben, oder ein Haus, das abgebrannt war, genauso lebhaft hatte er die Klarheit, die man zum Denken, und die Kraft, die man zum Handeln brauchte, noch in Erinnerung. Durch ein Fenster zur nächsten Welt konnte er sie sehen, diese Klarheit, konnte sie sehen, diese Kraft, nur knapp außerhalb seiner Reichweite, gleich hinter den Thermopanescheiben. …”

aus: Jonathan Franzen: Die Korrekturen. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch 2003, 92-96, 769.

Abb.: William Utermohlen: Self portraits, 1967, 1996, 1997, 1998, 1999, 2000, im Internet.

04/16

25/04/2016 (1:54) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

illegal 1

“‘Ja’, sagte der Beamte, nachdem Serafin seine Bitte vorgetragen hatte. ‘Vielleicht kann ich euch helfen. Zeigt mir einmal eure Ausweise.’

‘Aber das ist es doch gerade!’ schrie Serafin. ‘Ich habe sie doch verloren!’

‘Tja, ohne Ausweise kann ich auch nichts für euch tun‘, meinte der Beamte kopfschüttelnd.”

aus: Philippe Fix: Serafin lesen verboten. Zürich: Diogenes 1974, S. 8, 9, 28. [auch im Internet]

ca. 76

08/04/2016 (1:41) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Stadtsanierung

“Als sie sich mit drohend erhobenen Zeigefingern zum Gehen gewandt hatten, wirbelten die mörderischen Worte unaufhörlich in Serafins Kopf herum: Enteignung… gerichtliche Vorladung… Industriegebiet… Wohnsiedlung… armierter Beton… von Amts wegen abreißen… unverzüglich ausziehen …
Dann kamen Arbeiter und fällten die großen Bäume, die Serafin und Plum so liebten. Es folgten Lastwagen, Kräne und Bulldozer.

Tag für Tag wuchsen auf allen Seiten ungeheure, immer höhere Blocks aus grauem Zement. Der Lärm wurde unerträglich, der Rauch und die Riesenkräne verdunkelten die Sonne. Wie entsetzliche Klammern legten sie sich um Serafins Haus und würden sich allmählich immer enger zusammenschließen, bis zum Ersticken.

Fest entschlossen, ihr Eigentum um jeden Preis zu verteidigen, verschanzten sich Serafin und Plum im Haus und verschlossen Türen und Fenster.

Als die beiden Männer ein zweites Mal erschienen, weigerten sich unsere Freunde sogar, sie zu empfangen.

Serafin konnte jedoch nicht verhindern, daß sich sein Herz zusammenkrampfte, als sie die Nachricht lasen, die ihnen unter der Tür durchgeschoben wurde: ‘Letzte Warnung: wenn Sie das Haus nicht binnen 48 Stunden geräumt haben, werden wir Sie mit Polizeigewalt dazu zwingen müssen.’

Gesetz war Gesetz. Man hatte sich ihm zu fügen.

Außerdem wurde das Leben unerträglich. Wenn Serafin und Plum sich davonstahlen, um Einkäufe zu machen, riefen ihnen die Arbeiter faule Witze nach. Ein Kranführer tat sogar so, als wolle er mit der riesigen Zange seiner Maschine ihr Auto packen, und erschreckte sie tödlich. Es mußte etwas geschehen!”

aus: Philippe Fix: Serafin und seine Wundermaschine, Zürich: Diogenes 1970, S. 24-26, auch im Internet.

ca. 76

08/04/2016 (1:22) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Überredungskunst

Veronese: Ueberredungskunst

“… Dagegen hat Veronese in dem anschließenden Saal, der Sala del Collegio, den Palladio entwarf, eine Reihe von Allegorien gemalt, die sich politisch deuten lassen. Da sehn wir die sieben freien Künste, die das Mittelalter so oft gestaltet hat, und unter ihnen die Dialektik, ein ausgezeichnetes Werk. Mit ihr ist wohl vor allem die Kunst der Überredung gemeint, die in der Politik so gute Dienste tut. In weißem Kleid und grünen Mantel sitzt die Göttin an den Stufen eines Säulenbaus vor einem zartblauen, wolkengezeichnetem Himmel und spinnt ein Spinnennetz zwischen ihren Händen, ‘nach Spitzfindigkeiten und Listen Ausschau haltend’, wie Ridolfi sagt. Spätere Zeiten verstanden dies Gleichnis nicht mehr. Heute heißt Veroneses Gestalt im Volksmund die Spitzenklöpplerin von Burano, denn die Venezianer glauben, der Maler habe in ihr den Frauenfleiß jener Laguneninsel versinnbildlichen wollen …”

aus: Eckart Peterich: Italien. Ein Führer. Erster Band, München: Prestel 1958, S.126/127 (Venedig, im Dogenpalast).

03/16

07/04/2016 (22:01) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Merkel-Wir

“… Denn wer ist das Wir im Merkel-Satz wie in den Parolen der AfD?

Das Wir bei Merkel ist die Zivilgesellschaft, die mit großem Einsatz den überforderten staatlichen Strukturen hilft. Dieses Wir ist eine Spende der Millionen Helfer an die Staatskasse … Denn hätten alle diese Helfer auch nur den Mindestlohn erhalten, hätte es ein gigantisches Jobprogramm gegeben und eben auch hohe Staatsausgaben bedeutet. Aber die sind, das weiß inzwischen jedes Kind, im Neoliberalismus nicht mehr vorgesehen. Darum ist das ‘Wir schaffen das’ eine besonders perfide Variante der Umverteilung. Die Hilfsbereitschaft wird dafür instrumentalisiert, die falsche Austeritätspolitik voranzubringen.

Denkt man über die ersten Monate der Begrüßungseuphorie hinaus, offenbart die Frage nach dem Wir erst den wahren politischen Gehalt. Denn dann wird aus dem Wir eine klar benennbare Klasse in unserer Gesellschaft: die Geringverdiener und diejenigen, die schon jetzt am unteren Rand leben. Hier entbrennt der Konkurrenzkampf um die weniger qualifizierten Jobs, bezahlbaren Wohnraum und die letzten öffentlichen Orte, an denen man sich ohne Geld aufhalten darf. Der moralische Anspruch kommt endlich dort an, wo er die ganze Zeit hinwollte: bei den Verlierern. Die Kosten der Moral werden an die Ränder verteilt, wo es den Gewinnern nicht wehtut und sie weiterhin im Wohlgefühl ihres eigenen Gutseins leben können. …

Worin besteht nun der politische Schachzug, der es der Regierung Merkel bis jetzt erlaubt, all diese Folgen auszublenden und weiterhin als einzige humanitäre Instanz dazustehen? Die moralische Wertung ist mit der politischen Aufforderung so fest verklebt, dass jede Kritik an den Folgen der Willkommenskultur automatisch unmoralisch wirkt … Wenn es nicht mehr möglich ist, eine andere Meinung als die Kanzlerin zu haben, ohne als rechtsradikal zu gelten, dann wird der eine oder andere eben rechtsradikal. Die Folgen der Alternativlosigkeit, die bisher nur bei den europäischen Nachbarn zu beobachten waren, sind nun auch bei uns angekommen. Das Erstarken radikaler Kräfte aufgrund der Merkelschen Austeritätspolitik schlägt auf Deutschland zurück. …

Wenn man als Akademiker in einer Eigentumswohnung lebt, ist es sehr gratismutig, eine Willkommenskultur zu fordern und die Nase über diejenigen zu rümpfen, die gegen ein Flüchtlingsheim protestieren, das in ihrem Wohngetto gebaut wird. Dass sich hinter der Propaganda der Weltoffenheit auch die Abschaffung aller sozialen Regeln, die den Kapitalismus ein wenig gezähmt haben, verbirgt, kann nur noch um den Preis, als ein Gestriger zu gelten, formuliert werden, oder wie im Falle der Willkommenskultur um den Preis, ein Rechter zu sein. …

In einem politischen System, in dem alle etablierten Parteien, mit Ausnahme der Linkspartei, auf derselben Basis von Ideologie argumentieren, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich eine Gegenkraft bildet, die den Konsens aufkündigt. Dass diese Radikalopposition sich in unserer Gegenwart aus den Quellen von Ressentiment und Populismus speist, zeigt, wie verkümmert das politische Denken und Argumentieren der linken Parteien heute ist. Sie vermochten es schon in der Weltfinanzkrise von 2008 nicht, Alternativen für die Wirtschaft zu formulieren, und sie vermögen es heute nicht, die neoliberale Ideologie der Merkelschen Politik von ihrem moralischen Schleier zu befreien. …”

aus: Bernd Stegemann: Die andere Hälfte der Wahrheit, Zeit Online 3.4.16 [im Internet].

04/16

03/04/2016 (21:38) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

AfD

“Nach REP, DVU und NPD hat sie nun endlich die Form, die Sprache und die Ästhetik gefunden, die einen Maximalkonsens zwischen Ost- und Westrassisten, städtischen und dörflichen, männlichen und weiblichen Rassisten vereint. Zwischen akademischen Rassisten und nicht akademischen. Es ist ein alter schwelender Konflikt. Er wird als dringender empfunden, je mehr die Minderheiten selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft werden. Dieser Konflikt handelt vor allem anderen von Identität. Nicht von bezahlbarem Wohnraum. Wirklich nicht. Obwohl auch Rassisten Rente wollen. …

Was die AfD sexy macht, ist keine sozialpolitische Vision, sondern ihr Menschenhass. …

Völlig selbstverständlich sehen wir abends in der Tagesschau, wie Mitbürger, das, was wir Regierung nennen, Volksverräter nennen. Was wir Bundeskanzlerin nennen, nennen sie Fotze. …

Der erste Schritt, AfD-Wähler ernst zu nehmen, ist zu begreifen: Auch wenn man niemals zuvor in seinem Leben eine rassistische Bemerkung gemacht hat – man tut es, sobald man sein Kreuz bei Rassisten setzt.”

aus: Mely Kiyak: Auch Rassisten wollen Rente, Zeit-Online, 16.3.2016.

Abb.: ruth__lol auf Instagramm, 8.5.25

03/16

18/03/2016 (22:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ich 1

“… Doch ich hatte vergessen, mich auf das Wichtigste vorzubereiten: auf die Studenten. Ich glaubte, sie seien so ähnlich wie ‘wir’. … Ich merkte: Es gab nicht einmal eine brauchbare Hypothese zu den Zweit- und Drittsemestern, die da im Frühjahr 2000 vor mir saßen. Nirgends stand geschrieben, dass sie sich weniger um die Belüftung des politischen Prozesses als um den Flüssigkeitshaushalt ihres Körpers sorgen würden. …

Politisches nehmen die jungen Erwachsenen, die einen erweiterten Politikbegriff einklagen, nur dann wahr, wenn es an ihr Gefühl appelliert und nicht an ihre Pflicht. … Vielleicht fing alles damit an, dass im Wetterbericht … die Meteo-Moderatoren begannen, von gefühlter Temperatur zu faseln. Die nächste Stufe ist das gefühlte Wahlergebnis. …

Diese Altersgruppe will nicht die Macht verstehen, sie will sie auch nicht unbedingt erobern, sie will sich verstanden fühlen. Nur das Persönliche ist politisch. …

Was lässt die Studenten so schonend mit ihren Rederessourcen umgehen? Sicherlich ihr Sinn für Effizienz, aber auch ihre Verletzlichkeit. … Als ich auf der Meinungsseite der ZEIT im Mai 2012 über meine Erfahrungen nach gut zehn Jahren an der Uni geschrieben habe … reagierten auffallend viele studentische Leser nicht argumentativ, sondern schrieben in Mails und Kommentaren ‘Der Text hat mich verletzt‘. Das Lob für den Artikel fiel ähnlich gefühlsbeladen aus. …

Das ‘Ich’ war früher in Zeitungsartikeln tabu … Heute gilt das Ich mit Recht als Voraussetzung dafür, dass ein Artikel überhaupt wahrgenommen wird. … Das Ich betont die Einzigartigkeit und macht doch alle gleich. Jeder ist mit Jedem auf Augenhöhe. … Dass schon vor unserer Zeit kluge Menschen diesen Planeten bevölkert haben, dass Studieren einen davon entlastet, alles aus dem eigenen Selbst zu schöpfen, wirkt wie eine unbrauchbare Botschaft von gestern. Originaltexte stehen im Verdacht, Originalitätsbremsen für die Genies von heute zu sein. … Das Standardwerk zur Regierungslehre, das noch nicht geschrieben ist, müsste heißen: ‘Ich. Und das Regierungssystem der Bundesrepublik‘. …

Die Erwartungen der Studenten sind einerseits pragmatisch-bescheiden, andererseits unerfüllbar groß. Erwartet wird nicht weniger als Anleitung zum sinnvollen Sein. … Sinn und Nutzen sind deckungsgleich geworden, und gerade deshalb klafft eine Bildungslücke. Studenten erwarten, dass Wissen sofort verwertbar ist. …

Ich hatte die Studenten zu Akteuren erklärt, obwohl sie sich als Opfer empfinden. Als unsere Opfer. Sie tun brav das, was wir Dozenten von ihnen erwarten und müssen sich nun auch noch in einem bildungsbürgerlichen Blatt für ihre Anpassungsleistung kritisieren lassen. …

Das Gros der Studenten arbeitet Referate und Hausarbeiten ab wie einen Bestellauftrag des Dozenten. Verve gilt als Relikt unbelehrbarer Revolte-Romantiker. Doch wissenschaftliche Leidenschaft meint nichts anderes als das Ringen um einen eigenen Standpunkt, eine Überzeugung. Das Ziel ist Individualität und nicht Ich-Hätschelei. …

Als Bürger kommen sich junge Erwachsene oft ohnmächtig vor, als Konsumenten fühlen sie sich mächtig. … Junge Erwachsene vertrauen Waren mehr als Ideen. … ‘Wohlstand für alle’ war Ludwig Erhards Slogan, ‘Wohlbefinden für dich’ müsste der aktuelle lauten.”

aus: Christiane Florin: Warum unsere Studenten so angepasst sind. Reinbek: Rowohlt 2014, S. 14-75

02/16

23/02/2016 (12:52) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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