MALTE WOYDT

HOME:    PRIVATHOME:    LESE- UND NOTIZBUCH

ANGE
BOTE
BEL
GIEN
ÜBER
MICH
FRA
GEN
LESE
BUCH
GALE
RIE
PAM
PHLETE
SCHAER
BEEK
GENEA
LOGIE

Marxismus

(FR EN NL)

“Waren daher die Urheber dieser Systeme auch in vieler Beziehung revolutionär, so bilden ihre Schüler jedes Mal reaktionäre Sekten. Sie halten die alten Anschauungen der Meister fest gegenüber der geschichtlichen Fortentwicklung des Proletariats. …

Allmählig fallen sie in die Categorie der oben geschilderten reaktionären oder konservativen Socialisten, und unterscheiden sich nur mehr von ihnen durch mehr systematische Pedanterie, durch den fanatischen Aberglauben an die Wunderwirkungen ihrer socialen Wissenschaft.”

Karl Marx / Friedrich Engels: Das Manifest der kommunistischen Partei. ND Trier o.J. (Brüssel 1848), S.28, auch im Internet.

Abb.: Florin Mitroi: V, 1992, im Internet.

08/10/2007 (20:43) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Intellektuelle

“Gegen die systematische Verwechslung von Meinungsbildung mit Informationsverarbeitung anzusprechen, wäre eigentlich die wichtigste Aufgabe der Intellektuellen. Das setzt allerdings Sachkenntnisse voraus. Sachkenntnis ist aber ein knappes und sehr teures Gut. Sie verlangt hohe Investitionen an Zeit und Kraft, die sich allenfalls langfristig “rechnen”. Speziell die Medienintellektuellen ohne institutionelle Verankerung, die nun einmal darauf angewiesen sind, ihr Einkommen durch regelmäßiges Meinen zu verdienen, können sich selbsterworbene Kenntnisse häufig nicht leisten. Es kommt zur Flucht in die Kolportage fremden Wissens. Auf diese Weise funktioniert der Marktintellektuelle, der eigentlich die Aufgabe hätte, auf der Grundlage erworbenen Wissens zu problematisieren (anstatt zu vereinfachen) und Komplexitäten aufzubauen (anstatt sie zu reduzieren) bloß noch als Sortiermaschine im öffentlichen ‘Diskurs‘.”

Bruno Preisendörfer: Das große Schlingern auf dem Meinungsmeer. Tagesspiegel, 29. April 1999. Quelle im Internet.

Abb.: Werbung, im Internet.

08/10/2007 (12:01) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Leseschlaf

“Was ich später so oft empfunden habe, das ahnte ich damals irgendwie voraus: daß man nicht das Recht hatte, ein Buch aufzuschlagen, wenn man sich nicht verpflichtete, alle zu lesen. Mit jeder Zeile brach man die Welt an. Vor den Büchern war sie heil und vielleicht wieder ganz dahinter. Wie aber sollte ich, der nicht lesen konnte, es mit allen aufnehmen? Da standen sie, selbst in diesem bescheidenen Bücherzimmer, in so aussichtsloser Überzahl und hielten zusammen. Ich stürzte mich trotzig und verzweifelt von Buch zu Buch und schlug mich durch die Seiten durch wie einer, der etwas Unverhältnismäßiges zu leisten hat. …

In späteren Jahren geschah es mir zuweilen nachts, daß ich aufwachte, und die Sterne standen so wirklich da und gingen so bedeutend vor, und ich konnte nicht begreifen, wie man es über sich brachte, so viel Welt zu versäumen. So ähnlich war mir, glaub ich, zumut, sooft ich von den Büchern aufsah und hinaus, wo der Sommer war, wo Abelone rief. Es kam uns sehr unerwartet, daß sie rufen mußte und daß ich nicht einmal antwortete. Es fiel mitten in unsere seligste Zeit. Aber da es mich nun einmal erfaßt hatte, hielt ich mich krampfhaft ans Lesen und verbarg mich, wichtig und eigensinnig, vor unseren täglichen Feiertagen. Ungeschickt wie ich war, die vielen oft unscheinbaren Gelegenheiten eines natürlichen Glücks auszunutzen, ließ ich mir nicht ungern von dem anwachsenden Zerwürfnis künftige Versöhnungen versprechen, die desto reizender wurden, je weiter man sie hinausschob.

Übrigens war mein Leseschlaf eines Tages so plötzlich zu Ende, wie er begonnen hatte; und da erzürnten wir einander gründlich. …”

Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Frankfurt: 1991 (1910), S.184/185.

Abb.: Budi Santoso: Waktu Membaca (Reading time) 1, 2012, indoartnow, im Internet.

08/10/2007 (11:59) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Lesen 1

(ES FR EN)

“Schließlich versenkte er sich so tief in seine Bücher, daß ihm die Nächte vom Zwielicht bis zum Zwielicht und die Tage von der Dämmerung bis zur Dämmerung über dem Lesen hingingen; und so, vom wenigen Schlafen und vom vielen Lesen, trocknete ihm das Hirn so aus, daß er zuletzt den Verstand verlor.”

Miguel de Cervantes Saavedra: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha (Übersetzung von Braunfels 1848), München 1966: S.23.

Abb.: Pablo Picasso: Don Quixote, 1955

08/93

08/10/2007 (11:58) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Leidenschaft

“‘Es beruhigt mich außerordentlich’, sagte sie, … ‘ zu hören, daß Sie kein leidenschaftlicher Mensch sind. Übrigens, wie denn auch wohl? Sie müßten aus der Art geschlagen sein. Leidenschaft, das ist: um des Lebens willen leben. Aber es ist bekannt, daß Ihr um des Erlebnisses willen lebt. Leidenschaft, das ist Selbstvergessenheit. Aber Euch ist es um Selbstbereicherung zu tun…”

aus: Thomas Mann: Der Zauberberg, Dünndruckausgabe Berlin 1926, S.778. Siehe auch Thomas Manns Gesammelte Werke in japanischer Datenbank mit Volltextsuche

Abb.: Peter Mann: Horizontal, in: Zauberberg, woodcuts to Thomas Mann’s novel, The Magic Mountain, 2011, im Internet.

08/93

08/10/2007 (11:57) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Lebensästheten

“‘L’État, c’est moi. Jeder Lebensästhet ist ein Aristokrat. … Sein selbstgeschaffenes Fürstentum regiert er mit absoluter Souveränität. Seine Existenz ist nicht in erster Linie an weltlichen Zielen, an der tätigen Moral des Bürgertums orientiert, sondern dient vor allem der Ausgestaltung seines Herrschaftsbereichs. Sein Handeln entspringt nicht dem Lustprinzip, sondern der Verpflichtung gegenüber dem eigenen Ehrenkodex. Sein Ziel ist die Perfektionierung des Seins, der würdigen Ausstattung der Gegenwart und der Inszenierung einer glorreichen Geschichte.

Arbeit dient dem Lebensästheten so nicht als Selbstzweck, Freizeit nicht als Oase der Selbstverwirklichung. Die Verpflichtung gegenüber den selbstgewählten Kennzeichen seiner Würde ist vielmehr allumfassend. …

In Deutschland werden bis zum Jahr 2006 Vermögen in Höhe von 2,6 Billionen Mark vererbt. Für die Lebensästheten eröffnet sich damit tatsächlich auf breiter Front die Möglichkeit, dem tätigen Leben zu entsagen und, wenn auch in den meisten Fällen als bescheidene Existenz, ihr Dasein in erster Linie der Umsetzung des lebensästhetischen Imperativs zu widmen, anstatt die ökonomischen Zwänge der Lohnarbeit zum Lebenssinn verklären zu müssen. Doch auch die zunehmende Unterstützung durch Eltern, die das Treiben ihrer Sprößlinge mit bisher nicht gekannter Langmut auch in fortgeschrittenem Alter subventionieren, ja selbst der ungesicherte ‘Mac-Job’, der über das Geldverdienen hinaus keinerlei Identifikation erfordert, machen den Lebensästheten von der Ökonomie unabhängig. …

So groß die Souveränität im Innern auch sein mag, über die Weltgebäude seiner Mitmenschen will und kann der Lebensästhet keine Herrschaft erringen. Und so fehlt das unvermeidliche Pendant zum Herren, der Diener nämlich, in der Welt des Lebensästheten völlig. Das einzige Modell menschlichen Zusammenlebens ist das der Diplomatie zwischen souveränen Herrschern. …

Die Lebensästheten sind also kleine Despoten, die ihre eigene identitätsstiftende Nation errichtet haben. Eine Nation, die ihre Geschichte pflegt (Kindheit, eigene Biographie) und ihre spezifischen Symbole, Flaggen, Wappen, Uniformen (Wohnung, Styling etc.) stolz präsentiert. …

Erst wenn Fremdherrschaft oder Eroberung (Bevormundung, institutionelle Zwänge) droht, werden selbst friedliche Gemeinwesen zu verschworenen Verteidigungsgemeinschaften. … Brennende Asylantenheime, Umweltkatastrophen, Kriege und Krisen in aller Welt werden auf ihr Bedrohungspotential für die Unversehrtheit des lebensästhetischen Projektes überprüft. Im Falle des Falles entscheiden sich die kleinen Kabinette zur Generalmobilmachung, greifen zur Kerze und halten Mahnwachen ab, boykottieren oder demonstrieren. Diese Blauhelmmissionen der souveränen Lebensästheten sind natürlich kurzlebige Aktionen. Verschwindet die Bedrohung, erlahmt auch sofort das Engagement. Auf den Mechanismus allerdings kann man sich verlassen.”

Johannes Goebel / Christoph Clermont: Die Tugend der Orientierungslosigkeit, zit. bei Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Frankfurt(Main): Suhrkamp 1997, S.246-249

Abb.: Sophie Calle: Birthday Ceremony (1991), Camden Art Centre: Double Game 1999, im Internet.

08/10/2007 (11:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Leben 1

(YI)

Wir leben ewig!

Wir leben ewig! Es brennt die Welt…
Wir leben ewig und ohne Geld
Denn unsere Feinde, ja die fürchten wir nicht
Wenn sie auch gern anschwärzen unser Gesicht.
Wir leben ewig, wir sind noch da
Und noch ein Jahr
Wir wollen leben, was erleben
schlechte Zeiten überleben
Wir leben ewig, wir sind da.

Lied eines jüdischen Kabaretts im Wilnaer Ghetto 1943 (deutsch von Peter Raben). In: Joshua Sobol: Ghetto, Schauspiel in drei Akten. Hg. von Harro Schweizer. Berlin: Quadriga-Verlag Severin 1984, S.118.

08/10/2007 (11:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Kunst 1

“… um sagen zu können, daß ein Maler schlecht ist, muß man eine Idee von der Kunst haben …

Wir sind es gewohnt, als Kunstwerke jene Objekte zu nehmen, die a) uns einerseits zwingen, ihre Machart zu bedenken, und die b) uns andererseits unruhig werden lassen, da es gar nicht so sicher ist, ob sie wirklich nur das ‘sagen wolllen’, was sie zu ‘sagen’ scheinen. In diesem Sinne … [bezeichnet] ‘Ambiguität’ … ein Phänomen wie ‘Sinnüberschuß’ … Das Werk ist da, ein Bild, ein Gedicht, ein Roman, es scheint uns zu sagen, es gebe da irgendwo eine Frau, eine Blume, einen Hügel, von dem aus man andere Hügel sieht, einen Dichter, der eine engelhafte Gestalt liebt, und doch spüren wir, daß es nicht nur dieses sagt, sondern noch etwas mehr suggeriert (und manchmal genau das Gegenteil dessen, was es zu sagen scheint).”

Umberto Eco: Über schlechte Malerei. In: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene. Deutsch von Burkhart Kroeber, München: dtv, 1988 (It. Erstveröff. 1984), S.105

Abb.: Daniel Buren, Manifestation, Mönchengladbach, 1971, im Internet, hier Ausschnitt.

10/02

08/10/2007 (11:29) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Kulturen 1

“Kulturen sind Organismen. Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie. Die ungeheure Geschichte der chinesischen oder antiken Kultur ist morphologisch das genaue Seitenstück zur Kleingeschichte des einzelnen Menschen, eines Tieres, eines Baumes oder einer Blume. Das ist für den faustischen Blick keine Forderung, sondern eine Erfahrung. … Im Schicksal der einzelnen, aufeinander folgenden, nebeneinander aufwachsenden, sich berührenden, überschattenden, erdrückenden Kulturen erschöpft sich der Gehalt aller Menschengeschichte. …

Ich unterscheide die Idee einer Kultur, den Inbegriff ihrer inneren Möglichkeiten, von ihrer sinnlichen Erscheinung im Bilde der Geschichte als der vollzogenen Verwirklichung. Es ist das Verhältnis der Seele zum lebenden Körper, ihrem Ausdruck inmitten der Lichtwelt unsrer Augen. Die Geschichte einer Kultur ist die fortschreitende Verwirklichung ihres Möglichen. Die Vollendung ist gleichbedeutend mit dem Ende. … Kultur ist das Urphänomen aller vergangenen und künftigen Weltgeschichte. …

Eine Kultur wird in dem Augenblick geboren, wo eine große Seele aus dem urseelenhaften Zustande ewig-kindlichen Menschentums erwacht, sich ablöst … Sie erblüht auf dem Boden einer genau abgrenzbaren Landschaft, an die sie pflanzenhaft gebunden bleibt. Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele die volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt. … Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Möglichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre Kräfte brechen – sie wird zur Zivilisation.”

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München: Beck 1923, Bd.I, S.139-143.

Abb.: Arya Pandjalu: In Rice Paddy, 2012 (Synagoge, Mosque, Temple, Church), indoartnow, im Internet.

08/10/2007 (11:29) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Legalität

“Der Wahlausgang bestimmt über die Verabschiedung der Gesetze, aber er darf keine Rolle spielen bei ihrer Anwendung (oder Nichtbeachtung). Würde dies (es geschieht allzuoft) zur zerstörerischen Grundnorm der Ordnung, würden damit jene Regierenden beim Werben um Wähler bevorzugt, … die zum Beispiel bereit sind, drakonische Gesetze zu erlassen und deren Nichtanwendung als Tauschware beim Stimmenfang zu benutzen; ein System von Duldung und Schweigen, das bis in die letzten Verästelungen des sozialen Gefüges reicht. …”

“Wenn ein Gesetz einmal verabschiedet ist, wird seine Anwendung gegenüber dem Einzelnen … faktisch verhandelbar. … Wo Regierungen die Illegalität faktischer Machtpositionen tolerieren (oder ermutigen), wird jede Opposition de facto vom politischen Leben ausgeschlossen. Sie hat dann keine Alternative mehr anzubieten …, weil das alles auf dem Papier längst existiert. Der Antrag, bestehende Vorschriften endlich durchzusetzen, gleicht der frustrierenden Arbeit des Sisyphos, wird zum Regreß ad infinitum. (Ein Gesetz zur Beachtung bestehender, aber unbeachteter Gesetze, die ein vorher erlassenes Gesetz einschärfen…)”

“Der konservative Intellektuelle weist völlig richtig darauf hin, daß sich in der Demokratie alles um die Spielregeln dreht. Er vergißt hinzuzufügen, daß das Spiel ohne Mogeln gespielt werden muß … Eine Politik, die Gewalt, Einschüchterung, Stimmenkauf, Korruption toleriert, ist selbst dann antidemokratisch, wenn es Mehrheiten gibt, die sie unterstützen. Sie degradiert die Prozeduren bis hin zur Fälschung und macht damit das Prinzip: one man one vote null und nichtig. …”

“Man könnte … behaupten, daß die Revolution die Legalität zwar nie geliebt hat, daß eine Politik der Legalität heute die radikalste aller möglichen Revolutionen wäre. …”

“Die Notwendigkeit einer radikalen, sich immer weiter ausbreitenden Veränderung der Kultur und des durchschnittlichen Verhaltens darf nicht als Alibi verstanden werden für eine angebliche generelle Mitschuld (Wir alle sind dabeigewesen, als Komplizen mindestens, wir haben alle die Korrupten gewählt, die eine oder andere Ungesetzlichkeit haben wir alle begangen, den einen oder anderen Vorteil angenommen: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein…) – dies wäre nur das Vorspiel zu einer Generalabsolution für die Verbrechen der Herrschenden.”

Legalität ist die Macht der Machtlosen.”

“Von einer … demokratischen Politik kann nur die Rede sein, wenn es wenig oder nichts, jedenfalls immer weniger gibt, was man für die Stimme eintauschen kann.”

“Die Werte von 1789 schienen, bis gestern, beinahe in erreichbare Nähe gerückt. Jedenfalls rhetorisch … Seitdem stellen sich Rechts und Links, im Hinblick auf ein universales Gemeinsames, nicht so sehr als zwei verschiedene Parteien, vielmehr als zwei verschiedene Verhaltensweisen dar, die der Heuchelei und die der Kohärenz. … Das Fazit mag für Intellektuelle enttäuschend sein: Es gibt nichts Neues zu sagen, aber es bleibt fast alles zu tun.”

aus: Paolo Flors d’Arcais: Die Linke und das Individuum. Ein politisches Pamphlet. Berlin: Wagenbach 1997 [Originalausg. der darin versammelten Texte 1989-1994], S.14, 15, 24, 49, 57, 62, 64, 67 [anders zusammengesetzt]

10/06

08/10/2007 (11:25) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
« Previous PageNext Page »