MALTE WOYDT

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Aufrichtigkeit 2

“Begeisterten Trump-Anhängern sind Enthüllungen über die Ungenauigkeit seiner Aussagen völlig egal, weil sie glauben, dass diese Äußerungen aufrichtig und damit in einem tieferen Sinne ‘wahr‘ sind. Trump verbreitet ständig ganz offenkundige Lügen. In einem Punkt aber ist er immer ganz offen gewesen: Alles, was er tut, und dazu gehört auch das Lügen, soll ihm helfen, zu ‘gewinnen’. Das sagt er ganz klar. Wenn seine Unterstützer ihn also lügen hören, wissen sie, dass er das um eines strategischen Vorteils willen tut, denn genau das hat er angekündigt. Da seine Lügen ihrer Vermutung nach diesem ehrlich ausgedrückten Zweck dienen, sind sie also in einem indirekten Sinn im Grunde wahrhaftig.”

aus: Ivan Krastev / Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Berlin: Ullstein 2021 (engl. Originalausg. 2019), S. 262.

Abb.: Pawel Kuczynski: President, im Internet.

08/23

10/08/2023 (14:50) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Demografische Panik

“Die demografische Panik in Mittel- und Osteuropa speist sich vermutlich aus einer Kombination aus alternder Bevölkerung, niedrigen Geburtenraten und einem endlosen Abwanderungsstrom. …

Die Hysterie rund um nicht existierende Immigranten, die drauf und dran sind, das Land zu überrennen, ist die Substitution einer echten Gefahr (Entvölkerung und demografischer Kollaps), über die man nicht zu sprechen wagt, durch eine scheinbare (Immigration). …

Es ist verräterisch, wenn Orbán sagt: ‘Migration ist für uns so etwas wie eine Kapitulation (…) wir wollen ungarische Kinder.’ Seine Nachwuchspolitik ist ein besserer Indikator für die tatsächlichen Ängste seiner Regierung als das ganze Anti-Immigranten-Gerede ohne Immigranten. …

Gerade einmal 1,6 Prozent der Bürger Polens sind gegenwärtig außerhalb des Landes geboren worden, muslimisch-polnische Bürger machen weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung aus. Und dennoch gelten in den politischen Fieberfantasien der Region ethnische und kulturelle Vielfalt als existentielle Bedrohung. Und während die Polen in ihrem Heimatland nie mit Muslimen in Kontakt kommen, passiert das ihren Landsleuten in Großbritannien durchaus. Dort lebende Polen … [bewohnen] oft dieselben Stadtviertel … wie muslimische Immigranten, mit denen sie um dieselben Jobs konkurrieren. … [Das trägt] – in den sozialen Medien zu Hause nachlesbar – spürbar zu überreizten anti-muslimischen Haltungen in der Region bei …

Hier fällt ins Auge, wie radikal die Werte umgedeutet werden: Jetzt sind die Westeuropäer nicht mehr weit vorn und Mittel- und Osteuropäer weit zurück. In der Rhetorik der fremdenfeindlichen Populisten werden die Westeuropäer nun vielmehr als diejenigen beschrieben, die ihre kulturelle Identität verloren haben. …

Doch wie will man junge Ungarn davon überzeugen, dass es kein besseres ‘Heimatland’ im Westen gebe? Zumal ja gerade Orbàns Politik fast alle Chancen, zu Hause ein kreatives und einträgliches Leben zu führen, zerstört? …

Einwanderungsfeindliche Rhetorik … erscheint als der verzweifelte Versuch, eine Art Loyalitäts-Mauer zu bauen, die das demografische Ausbluten stoppen und die Mittel- und Osteuropäer in ihren Heimatländern halten soll. …

Anders als viele Theoretiker heute meinen, richtet sich der populistische Zorn weniger gegen den Multikulturalismus als vielmehr gegen den postnationalen Individualismus und Kosmopolitismus.”

aus: Ivan Krastev / Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Berlin: Ullstein 2021 (engl. Originalausg. 2019), S. 59-65.

Abb.: Gyula Szabó: The pool of memories, 2018, im Internet.

08/23

10/08/2023 (2:57) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Corona 2

“Die Coronapandemie hat bei allen Altersgruppen zu schweren Einschnitten des normalen Lebensrhythmus geführt. Viele Menschen haben das Gefühl, aus dem Tritt geraten zu sein, die Kontrolle verloren zu haben, sie sind erschöpft. Man kann eine Analogie zum Krankheitsbild der posttraumatischen Belastungsstörung ziehen. …

Da weiß man, dass das wahre Ausmaß einer Belastung sich erst zeigt, wenn man die akute Krise eigentlich schon hinter sich hat. Einen solchen Effekt beobachten wir in allen Altersgruppen, bei jungen Leuten besonders stark. Wir haben es mit einer psychisch sehr belasteten, sehr erschöpften Bevölkerung zu tun. Die bräuchte jetzt eigentlich Ruhe. Aber stattdessen stehen wir vor den nächsten Krisen: Klima, Krieg, Inflation, vielleicht auch noch eine Fluchtbewegung. Auch diese Krisen können von einem Individuum nicht mit eigenen Ressourcen bewältigt werden. Es ist die nächste Überforderung. …

Die Belastungssymptome gehen in drei Richtungen. …

[1] nach innen … Angst- und Essstörungen und Depressionen. …

[2] nach draußen, … Aggressivität, … politisch extreme Haltungen. …

[3] Sucht als Ausweichstrategie, um sich Entlastung zu verschaffen … [auch] Verschwörungstheorie zum Beispiel, … Die gibt mir Sicherheit, weil ich weiß, woran es liegt. Ich habe die Ursache gefunden … ich kenne den Schuldigen … ich kann also nichts tun. …

Nach dem Konzept der Salutogenese des Soziologen Aaron Antonovsky braucht der Mensch … drei Dinge …:

[1] das Gefühl … ich kann die Welt verstehen,

[2] dass … die Herausforderungen, die vor mir liegen, machbar sind,

[3] dass … es sich … lohnt, in die Zukunft zu investieren. …

Wenn dieses Gefühl Schaden nimmt, dann werde ich pessimistisch, glaube weder an mich noch an die Gesellschaft und suche nach rettenden Strohhalmen. …

Notwendig ist eine ermutigende und ermächtigende Politik, das, was im Englischen so schön Empowerment heißt. …

Alle Erfahrungen aus der Psychiatrie sagen, dass eine posttraumatische Belastungsstörung heilbar ist. Das braucht Zeit, der wichtigste Schritt ist, wieder die Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen. Dazu muss ich das Trauma, was mich umgeworfen hat, verstehen. Ich muss anerkennen, dass es jetzt Bestandteil meines Lebens ist und ich damit leben muss. Wichtig ist dabei, dass ich nicht ständig an das Ohnmachtsgefühl erinnert werde. Deswegen ist es bei den großen politischen Herausforderungen jetzt so wichtig, dass die Regierung mit der Bevölkerung einen Minimalkonsens herstellt. … Alle … müssten zeigen, dass sie in der Lage sind, eine große Herausforderung gemeinsam zu lösen. Auf keinen Fall getroffene Vereinbarungen wieder infrage stellen, das unterhöhlt jede Glaubwürdigkeit und jede Verlässlichkeit. Ich glaube, das ist das Schlimmste, was der Ampel passiert ist.”

aus: Klaus Hurrelmann: Die Bevölkerung ist erschöpft, interviewt durch Sabine am Orde, taz online, 3.8.23, im Internet.

Abb.: RF Art: Corona, 2021, im Internet.

07/23

06/08/2023 (2:53) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Lowtech

“Mit Blick auf den Ressourcenverbrauch und die zunehmenden Cybergefahren erscheint Lowtech gegenüber Hightech als resilienteres und nachhaltigeres Mittel, um den Planeten zu retten: Fahrrad statt Auto, begrünte Fassaden statt Klimaanlagen, eiweißbasierte statt künstlicher Intelligenz.

Das menschliche Gehirn verbraucht lediglich 20 Watt. Zum Vergleich: Die Jeopardy-Version von IBMs Supercomputer Watson benötigte 85.000 Watt, um bei der Rateshow zwei menschliche Spieler zu bezwingen. Vielleicht sollte man öfter mal den eigenen Denkapparat einschalten, anstatt Chatbots mit Fragen zu löchern. Es gibt nichts, was so umweltfreundlich ist wie das eigene Denken.”

aus: Adrian Lobe: Ökologischer Fußabdruck von KI: Die Klimakiller-Intelligenz, taz online, 28.7.23, im Internet.

07/23

28/07/2023 (11:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

“Künstliche Intelligenz”

“Aus der Perspektive von OpenAI ist Information frei/kostenlos, sodass das Unternehmen seine hungrigen Textgenerierungsmaschinen damit füttern kann. Aber wenn GPT-4 sie erst einmal verspeist hat, gehört das Ergebnis seinen Schöpfern. Es ist, als füttere man ein Nutztier mit geklautem Futter.”

aus: Christian Stöcker: Maschinen, die geklaute Bücher lesen, Spiegel Online, 16.7.23, im Internet.

07/23

16/07/2023 (20:27) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Anstand

“Lebensbedingt pendele ich aktuell öfter durch Europa, und auch sonst bin ich nett und fahre transnational oft Zug – als Freiberuflerin geht das, Festangestellte zahlen mit freien Tagen drauf. Gut, für Anstand in jeder Hinsicht draufzuzahlen ist im Kapitalismus ja schon Gewohnheit.”

aus: Alina Schwermer: Zugfahren ist zu oft eine Zumutung, taz online 13.7.23, im Internet.

Abb.: Mick Stevens, The New Yorker, 27.7.1987.

07/23

13/07/2023 (9:41) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Kapitalismus 2

Die verquere Idee, wir lebten “im” Kapitalismus hindert viele Menschen daran, zu korrekten politischen Analysen zu kommen. Kapitalismus scheint mir weniger ein “System” zu sein als denn ein Organisationsprinzip. Wir leben nicht “im” Kapitalismus. Viele Alltagshandlungen und zwischenmenschliche Beziehungen haben mit Kapitalismus nichts zu tun: Wenn man seine eigenen Kinder aufzieht, selber zu Essen kocht oder sich ehrenamtlich engagiert, sind das alles Tätigkeiten, die man kapitalistisch organisieren könnte, die es aber nicht sind.

So gibt es auch große Unterschiede zwischen vorgeblich allesamt gleich kapitalistischen Gesellschaften. In Hamburg gab es zu meiner Zeit nur private Musikschulen, Brüssel ist überzogen mit öffentlichen Musikschulen, die für einen Bruchteil der in Hamburg üblichen Beiträge Unterricht geben. In Belgien und Deutschland haben wir staatliche Rentensysteme, die ohne Kapitalbildung auskommen, weil die Beiträge der Einen die Bezüge der Anderen sind. In anderen Ländern gibt es Pensionsfonds, deren Investitionspolitik soziale Verheerungen anrichtet. Überall in Europa sind 50% der aktuellen Inflation auf Margenerhöhungen des Handels zurückzuführen, nur in Belgien beschränkt sich das auf 20% – weil der Lohnindex 30% der Inflation schluckt, also 30% der Inflation den Arbeitnehmern zu Gute kommen.

Malte Woydt

07/23

09/07/2023 (17:34) Schlagworte: DE,Notizbuch ::

Kindergartisierung

“Die Kindergartisierung Deutschlands, sie zeigt sich in den Debatten über die AfD, aber auch im Umgang mit der Klimakrise und den Maßnahmen dagegen, etwa dem Heizungsgesetz. Ständig müssen alle ‘mitgenommen’, darf niemand ‘überfordert’ werden. Ständig soll man ‘zuhören’, auch wenn da nur Geschrei kommt. Jegliche Zumutung des Lebens soll von den BürgerInnen ferngehalten werden, es könnte sie verunsichern. …

Es ist höchste Zeit, die AfD und ihre WählerInnen wie Erwachsene zu behandeln. Menschen wählen Rechtsextreme, weil sie rechtsextrem sind oder weil sie davon profitieren, wenn Rechtsextreme Macht erlangen. Rechtsextreme muss man ausgrenzen, bekämpfen, schlagen, mit allen Mitteln. Und wer nach Gründen für ihren Erfolg sucht, sollte sich nicht mit Kränkungen und Pädagogik beschäftigen, sondern mit den Grundlagen des Erfolgs. …

Rechtspopulismus ist europaweit auf dem Vormarsch. Wer eine Alternative zu ihm will, muss die Schwäche der Linken überwinden, Antifaschismus und Umverteilung organisieren. Auf die Parteien der Mitte kann man dabei nicht setzen. Sie haben nicht mehr anzubieten als Streicheleinheiten.”

aus: Kersten Augustin: Deutschland ist ein Kindergarten, taz online, 1.7.23, im Internet

Abb.: AFD-Fanshop online.

07/23

01/07/2023 (18:58) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Historische Methode

“Daß Unwahrheiten Eingang in historische Nachrichten finden, ist naturgemäß und hat verschiedene Ursachen:

[1] die Parteinahme für bestimmte Meinungen und Schulen. … Sympathie und Parteinahme trüben … [den] scharfen Blick für Kritik sowie eine genaue Untersuchung …

[2] … blindes Vertrauen in die Überlieferung. …

[3] daß die Zwecksetzungen historischer Nachrichten zu wenig beachtet werden.  Ein Großteil der Überlieferer begreift nicht den Zweck dessen, was er selbst gesehen oder gehört hat und vermittelt Nachrichten nach seinem Verständnis und seiner Mutmaßung weiter …

[4] … die Einbildung, die Wahrheit zu besitzen …

[5] fehlendes Wissen darüber, in welcher Beziehung die einzelnen Zustände (in der menschlichen Kultur) zu den tatsächlichen Ereignissen stehen …

[6] sich die Menschen gern um die Gunst großer und hochstehender Persönlichkeiten bemühen, indem sie Lob und Preis anstimmen …

[7] Unkenntnis über das Wesen der einzelnen Zustände in der menschlichen Kultur … Man muß erwägen, ob es im Bereich des Möglichen liegt, daß die Ereignisse geschehen konnten. Das ist wichtiger, als die kritische Beurteilung von Personen vorzunehmen, und muß dieser vorausgehen. … ”

aus: Ibn Khaldun: Das Buch der Beispiele. Einführung in die Weltgeschichte. Ditzingen: Reclam 2016 (arabische Originalausgabe 1377), S.39-43.

ca. 06/18

17/05/2023 (0:40) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ökologischer Fußabdruck 3

“Nach über einem Jahr Ampel wird sichtbar, auf was grüne Politik im Bund abzielt, wenn sie Gestaltungsspielraum erhält: auf den Lebensstil der Mittelschicht. Ihr gehören all jene an, die sich von ihrem Gehalt gerade so eine schöne Wohnung, ein- bis zweimal im Jahr einen Urlaub und vielleicht ein Auto leisten können, bis zu solchen, die es zu einem Eigenheim und Fernreisen bringen.

Sie machen noch immer deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus. Im Vergleich zu ihren Vorfahren und zu Zeitgenossen in vielen Teilen der Welt leben sie ein Leben in Luxus. Denn eine durchschnittliche Wohnfläche von rund 48 Quadratmetern pro Kopf, ein unüberschaubares Angebot an Lebensmitteln jeden Tag und jährlich 11.000 gefahrene Kilometer im Auto sind genau das: ressourcenfressender Luxus. So kann das nicht bleiben.

Was bedeutet das? Wer das Privileg hat, im eigenen Haus zu wohnen, wird sich in den nächsten Jahren Geld für eine klimaneutrale Heizung zurücklegen müssen – auch wenn dies Urlaub in der Eifel oder im Garten bedeutet. Statt in Reisen oder Elektronik wird Einkommen in Energieeffizienz und umweltfreundliche Produktion fließen. Die Armen leben schon heute gezwungenermaßen umweltfreundlich, die richtig Reichen können sich Klimaschutz ohne Einbußen leisten. Verzichten muss die Mittelschicht. Das ist nicht schön, aber notwendig.”

aus: Heike Holdinghausen: Nervöse Mittelschicht, taz online, 15.5.23, im Internet Externer link-symbol

Abb.: World Inequality Report 2022, im Internet Externer link-symbol

05/23

16/05/2023 (11:08) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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