MALTE WOYDT

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Zwangsdemokraten

“Der ‘Zwangsdemokrat’ führt kein leichtes Leben, muß er doch dauernd taktieren zwischen dem, was er eigentlich will, und dem, was er darüber äußert – ohne sich zu enttarnen. Die Welt um ihn herum, der Staat, die Gesellschaft, sie sehen ganz anders aus, als er sie haben möchte, da er fortwährend auf Schranken stößt, die er nicht ohne weiteres durchbrechen kann. Aber gegen sie anlaufen, mit dem Zepter der Demokratie in der Hand, das kann er. Und das tut er auch, sozusagen fortwährend testend, wie belastbar sie ist und wie weit die Verfassung sich dehnen läßt. …

Es gibt ihn lokal, regional und national, in Kommunalgremien, in Landesparlamenten und im Bundestag – dort verfügt er, auf dem Bildschirm, über sein größtes Publikum und das höchste Maß an Öffentlichkeit und Wirksamkeit. Dort in Bonn, in Regierung und Opposition ist er in vollster Aktion, muß er aber auch am vorsichtigsten sein, steht er da doch seinen kritischsten und scharfäugigsten Gegnern gegenüber. Dennoch verrät er sich, denn verbergen kann der ‘Zwangsdemokrat’ bei aller Taktik sein eigentliches Credo schließlich doch nicht. … Der Mechanismus dieses Typs läuft darauf hinaus, immer etwas radikaler zu sein als der ‘konventionelle’ Konservativismus und die Verfassungswirklichkeit in diese Richtung zu drücken. …

Nun existieren im politischen System der Bundesrepublik zahlreiche Variationen von Nicht- und Antidemokraten, die das ohne weiteres zugeben und gar nicht erst einen falschen Schein erwecken wollen. Nicht so der ‘Zwangsdemokrat’. Es ist ein fester Bestandteil seines Programms, Vorstöße, mit deren Hilfe die Demokratie eingeengt werden soll, als ihrem Wohle dienend zu erklären. Daß sie in Gefahr sei, davon redet niemand so häufig wie er. Und natürlich kommt diese Gefahr immer von der gegnerischen Partei, die es leider nun einmal gibt. …

Alle Kriterien, die auf den Zwangsdemokraten zutreffen, individualisieren sich unverkennbar in der Person von Franz Josef Strauß …”

aus: Ralph Giordano: Die Zweite Schuld, oder von der Last, Deutscher zu sein. Hamburg 1987, S.249-253.

abb.: Klaus Staeck: Juso beißt wehrloses Kind, 1972, Edition Staeck, im Internet.

03/92

05/10/2007 (0:21) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ursachen des Zweiten Weltkrieges

“Nichts zeigt die unwirkliche Qualität der deutschen ‘Realpolitik’ besser als die deutschen Kriegsziele. Obwohl sich die jeweiligen Führungsgruppen in den zwei deutschen Kriegen des 20. Jahrhunderts ihrer sozialen Herkunft nach beträchtlich voneinander unterschieden, waren die Kriegsziele im wesentlichen fast identisch … ein deutsches Kolonialreich in Europa. …

Nicht nur das ungünstige Zahlenverhältnis, sondern auch die relativ geringe Überlegenheit der Bildung oder Ausbildung hätte den Deutschen kaum eine Chance gelassen, daß aus ihren imperialen Bestrebungen eine einigermaßen dauerhafte politische Struktur hervorging. …

Die Führer eines Landes, das sich im Krieg befindet, sind häufig so damit beschäftigt, ihren Krieg zu gewinnen, daß sie die Probleme der Nachkriegszeit, des wahrscheinlichen Staatsgefüges nach ihrem Sieg, nur vergleichsweise unscharf sehen. …

Hitlers ganze Vorstellungswelt … trug noch immer ein vorindustrielles Gepräge. Er dachte zunächst und vor allem an die Eroberung von Siedlungsland für Bauern. …

Die Traditionen der deutschen Gesellschaft brachten oft ein eher schwaches individuelles Gewissen hervor. Auch bei Erwachsenen blieb die Funktionsfähigkeit des individuellen Gewissens … davon abhängig, daß jemand von außen aufpaßt. … Die Deutschen hörten nie auf zu gehorchen. …

Hitler war im Kern ein innovativer politischer Medizinmann. … Die elementare Einfachheit des Glaubens vieler Deutschen an den Führer … werden oft durch intellektuelle Argumente verdunkelt, die anzunehmen scheinen, daß die Masse des deutschen … Volkes über ein artikuliertes und hoch integriertes Glaubenssystem verfügte, wie man es in Büchern dargelegt findet, daß die Deutschen entweder überzeugte Nationalsozialisten waren oder, wenn nicht, überzeugte Demokraten und Gegner der Nationalsozialisten. … Ihre Grundlage waren letztlich die einfachen Bedürfnisse einfacher Menschen, die durch ihre Hilflosigkeit gegenüber den Großereignissen der Weltpolitik dahin gebracht wurden, sich einem Mann zuzuwenden, der in ihrer Vorstellung den Nimbus eines Erlösers hatte. …

Daß sich Deutschland, obwohl politisch zweigeteilt, zumindest in Teilen völlig erholt hat, ist einer der schlagensten Belege für die Sinn- und Nutzlosigkeit von Kriegen in unserer Zeit.”

aus: Norbert Elias: Der Zusammenbruch der Zivilisation. (1961) In: ders.: Studien über die Deutschen. Frankfurt(Main): Suhrkamp 1989, S.472-514

Abb.: Julius Klinger: Ö Treffer Anleihe, 1933, Wikimedia, im Internet.

05/10/2007 (0:21) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Amours 1

“S’aimer aujourd’hui ce n’est pas regarder ensemble dans la même direction, car les partenaires ont la vue de plus en plus basse : L’amour n’est pas aveugle, l’amour est myope ; il ne voit pas plus loin que le bout de son nez, et se refuse même, de manière presque superstitieuse, à faire des projets à trop long terme. …

Les conjoints dits modernes … répriment d’autant moins les caprices de l’amour qu’ils ne sont plus des associés, et ne dépendent pas l’un de l’autre pour assurer leur propre survie. Avec la généralisation du salariat, les couples ont cessé de se vouer à la protection et à l’agrandissement du patrimoine familial. Il suffisait, d’autre part, que les femmes accèdent en masse à l’indépendance économique pour qu’amour et toujours ne riment plus automatiquement. …

Nous vieillissons sans mûrir, car nos amours ne nous apprennent rien ; nulle éducation sentimentale ne couronne jamais leur succession confuse. …

Jadis toutes les histoires d’amour naissaient du conflit entre le couple et la collectivité; aujourd’hui c’est la figure du Désastre (maladie ou accident) qui, dans nos romances tristes, remplace celle du Conflit. Car nous avons changé de monde : une aventure sentimentale supposait trois protagonistes : Roméo, Juliette et les Autres. Seuls désormais les soupirants restent en présence. Sauf cas exceptionnel, sauf anachronisme flagrant, les Autres n’ont plus assez de puissance ou de cohésion pour s’intégrer au drame et jouer un rôle décisif dans la liaison qui se noue. …

Maintenant que l’approche amoureuse échappe à la supervision collective, l’étiquette s’est simplifiée, la drague … n’a plus qu’un destinataire. Pesait sur les amours anciennes, la cruauté des calculs familiaux; une autre cruauté préside à la drague … Le ‘non‘ qu’ils subissent est d’autant plus cuisant qu’ils ne peuvent s’en décharger sur une instance extérieur. …

Personne ne nous force à rester chez nous, notre séjour n’y est pas répressif, mais quotidien – dicté simultanément par le plaisir d’être avec qui l’on aime, par la fatigue, le confort, la peur frileuse du crime et du dehors, la nuit, ou même le charme insidieux de la télévision. Ce sont des forces hétérogènes qui ont promu le chez-soi au centre de notre vie. Il reste qu’un jour, peut-être, on ne dira plus vie conjugale, car cette expression fera pléonasme.”

aus: Bruckner, Pascal / Finkielkraut, Alain: Au coin de la rue, l’aventure. Paris: Seuil 1979, S.87-93.

Abb.: Yanuar Ikhsan P: Amorfati, 2019, indoartnow, im Internet.

10/04

05/10/2007 (0:20) Schlagworte: FR,Lesebuch ::

Literatuur

…… “volgens [Heiner] Müller zijn kunst, theater, literatuur er niet om het publiek over geschiedenis of welke feiten dan ook te informeren. ‘Het gaat niet om informatie, maar om de mededeling van een gevoeligheid. Door de manier waarop hij formuleert kan een schrijver meedelen hoe het met hem staat. Dat is rijker dan informatie, dan een vreemd voorwerp door middel of met behulp van de tekst te transporteren. Want je eigen gevoeligheid op een andere manier waarnemen, dát helpt. Buiten de syntactische ordening om wordt iets meegedeeld dat niet mededeelbaar is. Daar moet de lezer aan werken, om het op zichzelf te betrekken, want hij weet niet wat hem daar wordt meegedeeld. Maar dan weet hij ook niet meer wie hij is. En wie niet weet wie, wat en waar hij is, die moet zich roeren. Dat is het revolutionaire moment in dat soort teksten, ze brengen verandering teweeg.'”

aus: Geert van Istendael: Alle Uitbarstingen. Amsterdam/Antwerpen: Atlas 2001, S.329

08/06

05/10/2007 (0:20) Schlagworte: Lesebuch,NL ::

Vaterland

über die auf ihre Heimfahrt wartenden Rußlandheimkehrer in Estland: “Irgendein Herr ruft in deutscher Sprache: ‘Die Angehörigen der ungarischen Republik nach links, die Österreicher nach rechts, die Tschechoslowaken in die Mitte, die Rumänen zum Tore!’ Eine schreckliche Verwirrung beginnt. Vor der Kanzlei steht irgendein ehemaliger Kadett und heult. Ein Beamter des Roten Kreuzes spricht auf ihn ein, er möge doch sagen, wohin er gehöre. Man führt in in die Kanzlei zur Landkarte. Dort sucht man Koloswar, und schließlich stellt man fest, daß der Kadett auf Grund des Versailler Friedensvertrages Rumäne geworden ist. Der Kadett heult noch stärker und eine Rotkreuzschwester gibt ihm Baldriantropfen auf Zucker..”

aus: Jaroslav Hasek: Er schüttelte den Staub von seinen Schuhen, zit. bei: Ekkehart Krippendorf: Politische Interpretationen. Frankfurt(Main): Suhrkamp 1990, S.113

Abb.: Reste eines ungarischen Trianon-Denkmals, 2016, im Internet.

05/10/2007 (0:19) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Untertan

“‘Ich werde also nicht vom Fürsten sprechen, sondern vom Untertan, den er sich formt; nicht von Wilhelm dem Zweiten, sondern vom Zeugen Heßling. Sie haben ihn gesehen! Ein Durchschnittsmensch mit gewöhnlichem Verstand, abhängig von Umgebung und Gelegenheit, mutlos, solange hier die Dinge schlecht für ihn standen, und von großem Selbstbewußtsein, sobald sie sich gewendet hatten.’ …

‘Wie er’, sagte Buck, ‘waren zu jeder Zeit viele Tausende, die ihr Geschäft versahen und eine politische Meinung hatten. Was hinzukommt und ihn zu einem neuen Typus macht, ist einzig die Geste: das Prahlerische des Auftretens, die Kampfstimmung einer vorgeblichen Persönlichkeit, das Wirkenwollen um jeden Preis, wäre er auch von anderen zu bezahlen. Die Andersdenkenden sollen Feinde der Nation heißen, und wären sie zwei Drittel der Nation. Klasseninteressen, mag sein, aber umgelogen durch Romantik. Eine romantische Prostation vor einem Herrn, der seinem Untertan von seiner Macht das Nötige leihen soll, um die noch Kleineren niederzuhalten. Und da es in Wirklichkeit und im Gesetz weder den Herrn noch den Untertan gibt, erhält das öffentliche Leben einen Anstrich schlechten Komödiantentums. Die Gesinnung trägt Kostüm, Reden fallen wie vor Kreuzrittern, indes man Blech erzeugt oder Papier, und das Pappschwert wird gezogen für einen Begriff wie den der Majestät, den doch kein Mensch mehr, außer in Märchenbüchern, ernsthaft erlebt. …

Mehr Veränderung als alle Wirtschaftsgesetze erzeugt in der Welt das Beispiel eines großen Mannes. Und wehe, wenn es ein falsch verstandenes Beispiel war! Dann kann es geschehen, daß über das Land sich ein neuer Typus verbreitet, der in Härte und Unterdrückung nicht den traurigen Durchgang zu menschlicheren Zuständen sieht, sondern den Sinn des Lebens selbst. Schwach und friedfertig von Natur, übt er sich, eisern zu scheinen, weil in seiner Vorstellung Bismarck es war. Und mit unberechtigter Berufung auf einen noch Höheren wird er lärmend und unsolide. Kein Zweifel: die Siege seiner Eitelkeit werden geschäftlichen Zwecken dienen. Zuerst bringt die Komödie seiner Gesinnung einen Majestätsbeleidiger ins Gefängnis. Später findet sich, was damit zu verdienen ist …'”

aus: Heinrich Mann: Der Untertan. Taschenbuchausgabe München 1965, S.180-183.

07/92

05/10/2007 (0:19) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Staat 1

“Um das Problem etwas zu vereinfachen, werde ich den Staat erst einmal verdreifachen. Nicht, weil mir dreimal Staat angenehmer wäre als nur einmal, sondern weil mein Verhältnis zum Staat dreigeteilt ist und weil die drei Bestandteile dieses Verhältnisses nicht so recht zusammenpassen wollen.

Die drei Staaten, von denen ich hier rede, sind

  • erstens der Staat, der einfach nur mein Feind ist, mit dem ich nichts zu schaffen haben will und den ich lieber heute als morgen aufgelöst sähe [der Staat, der Umweltzerstörung legalisiert, Frigen als Teibgas nicht verbieten will, immer einen Feind weiß, gegen den es aufzurüsten gilt, Waffen exportiert, eine Demonstration zusammenknüppeln läßt …];
  • zweitens der Staat, von dem ich etwas will, von dem ich Leistungen, Gesetze, Taten erwarte [Er soll z.B. Vergewaltigung auch in der Ehe verfolgen, die Gleichstellung von Frauen und Männern endlich rechtlich garantieren, soll Fahrverbote bei Smog erlassen…];
  • und drittens der Staat, den ich mit (oft klammheimlichem) Wohlwollen zur Kenntnis nehme [einen Staat, der mich beruhigt und erleichtert, wo immer er in Erscheinung tritt, obwohl gerade dieser Staat fast nur im Form mehr oder weniger bewaffneter Staatsgewalt sichtbar wird. … das kann eine Schlägerei auf der Straße sein, die eine herbeigerufene Streife beendet, eine Vergewaltigung, bei der ich mir viel mehr Polizei rechtzeitig in der Nähe wünschte – zusammengefaßt vielleicht alles, wo ich für mich oder andere Angst habe vor anderen Menschen.] …

Es ist unmittelbar einsichtig, welcher Art mein Verhältnis im einzelnen zu diesen drei Staaten ist: den ersten will ich abschaffen; den zweiten hätte ich gern unter meiner Kontrolle …; über den dritten rede ich nur ungern. …

Tatsächlich ist es aber nur ein Staat. … Die Trennung in drei Staaten vollziehe ich … nur in meinem Kopf, um mir selber das Leben mit den Widersprüchen zu vereinfachen.

Gar zu leicht hört die Staatsfeindlichkeit da auf oder nimmt eine äußerst seltsame Gestalt an, wo der Staat in der Form von ‘Staatsknete’ auftritt. … Unsere Staatsfeindlichkeit … [drückt] sich auch darin aus …, ‘den Staat zu schädigen, wo immer es möglich ist’ – und wenn dieses Schädigen uns selber nützt, um so besser …

Abschaffen läßt sich am Ende nur ein Staat, den keiner mehr braucht.”

aus: Peter Gäng: Von einigen Widersprüchen des staatsfernen Lebens. In: Schmid, Thomas: Entstaatlichung. Neue Perspektiven auf das Gemeinwesen. Berlin: Wagenbach 1988, S.75-87. In eckigen Klammern wurde wiedergegeben, was weiter unten im Originaltext als Erläuterung steht.

03/04

05/10/2007 (0:19) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Linke

(FR)

“Das politische Engagement derer, die sich nicht an linke Fleischtöpfe gesetzt hatten, sondern die Welt retten wollten, verlagerte sich von den roten Fahnen auf die grüne Bewegung. … Hinter der Sicherheit, mit der die Vertreter der Orthodoxie Häretiker denunzieren, verbirgt sich aber ebenfalls eine Angst vor Heimatlosigkeit, die auf ihrer Seite viel größer ist als auf der Seite der Denunzierten, die andere Wurzeln geschlagen oder sich in die Tatsache hineingefunden haben, daß man als denkender Mensch die Einsamkeit akzeptieren muß.

Überprüfen wir von dem Set an Ideen, der den Marxismus ausmachte, einige Bestandteile daraufhin, ob sie noch zu der gehüteten Orthodoxie gehören oder nicht:

  • Die Forderung nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel, ohne die man nichts Gutes erwarten durfte, hat man fallengelassen, wie eine heiße Kartoffel. …
  • Auch wenn man nicht mehr an die aufeinanderfolgende Stufenreihe der Produktionsverhältnisse glaubt, so hält man doch an der Vorstellung einer den Abläufen innewohnenden Eigendynamik fest…
  • Von der Fähigkeit übergeordneter Ideen, eine gesellschaftliche Leitfunktion zu haben, hielt man im dialektischen Materialismus nichts, und man hat jetzt dank der Systemtheorie die Gelegenheit, an der Ablehnung all dessen, was man früher als ideologischen Überbau der bürgerlichen Gesellschaft geringgeachtet hat, festzuhalten.
  • Parteilichkeit … Menschen mußten … zugunsten des Proletariats die Forderung nach der Aufhebung seiner Unterprivilegierung erheben. Dabei kam es nicht darauf an, die Stabilität des Gesamtsystems im Auge zu haben, sondern im Gegenteil darauf, partikulare Interessen zur Durchsetzung zu bringen. … Man nimmt [heute] nach wie vor Partei und denkt nicht daran, in staatsbürgerlicher Verantwortung für das Ganze den Bestand der Polis zu schützen. Man nimmt aber nicht mehr für die Massen Partei; man hat sie aus der Klientel verstoßen und sich benachteiligte Minderheiten gesucht, für die man streitet [:] … Frauen, … Ausländer
  • Treue zu den Massen … Das … sozialethische Motiv im Marxismus erweist sich als zu schwach, als daß die Sympathie für Unterprivilegierte es aushalten könnte, wenn diese sich unter neue Fahnen stellen.
  • Ablehnung der Rechtsstruktur … angestrebt wurde eine neue Ordnung, die gerecht war, ohne Individuen subjektive, gegeneinander antagonistische Rechte zu garantieren. … Es war antiliberal und antirechtsstaatlich. Diese Haltungen werden heute im Kommunitarismus fortgesetzt. [auch im Feminismus] …
  • Das beste Element im Marxismus war das ethische. Im Unterschied zu dem philosophischen blieb das ethische Element versteckt; es wurde tatsächlich von der materialistischen Philosophie erstickt, die Ethik nicht duldete und das Gute nicht als eine von Menschen zu verwirklichende Idee ansah, sondern als das Endergebnis eines materiell initiierten Prozesses ausgab. … in dieser Frage … kam es dann zur Abspaltung des Revisionismus in der sich entwickelnden SPD. …
  • Wenn jemand gewisse Schweinereien nicht begeht, weil er seine Identität ‘links’ ansiedelt, drückt sich darin eine – oberflächlich betrachtet – diffuse, genau genommen aber doch spezifische Auffassung vom ‘Links-Sein’ aus.
  • Obwohl … der Marxismus kein Programm der Gewaltlosigkeit vertrat, war für viele Linke der Pazifismus doch eine Haltung, die sie mit ihrem Links-Sein in Zusammenhang brachten. Diese Haltung bereitete sich eine letzte große Feier im Protest gegen den Golfkrieg, die eine überraschende und scharfe Gegenposition innerhalb der eigenen Reihen provozierte. …

Es zeigt sich: Vom Links-Sein ist nichts übriggeblieben als ein gewisser Anti-Idealismus, eine gewisse Parteilichkeit, die sich aber von der Masse auf Minderheiten verschoben hat, etwas Mißtrauen gegen den liberalen Rechtsstaat und einige ideologisch ungebündelte Fünkchen von ethischem Humanismus. Diese heterogenen Elemente sind in sich zu widersprüchlich, als daß sie als Orthodoxie auftreten könnten; das Band, das einige Linke noch zusammenhält, hat lediglich soziologischen Charakter und eine Funktion in der Seilschaft, die sie verbindet.”

Sibylle Tönnies: Die Gemeinschaft der Heiligen. In: Kursbuch 116 “Verräter” Juni 1994, S.19-24

Abb.: Ruth_Lol, Instagramm, im Internet.

08/93

05/10/2007 (0:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Literaturkritik

“Kritiker sind sehr oft keine bösen Menschen, sondern, dank den ungünstigen Zeitumständen, gewesene Lyriker, die ihr Herz an etwas hängen müssen, um sich aussprechen zu können; sie sind Kriegs– oder Liebeslyriker, je nach dem inneren Erträgnis, das sie günstig anbringen müssen, und es ist begreiflich, daß sie dazu lieber das Buch eines Großschriftstellers als das eines gewöhnlichen Schriftstellers wählen. Nun hat natürlich jeder Mensch nur eine begrenzte Arbeitsfähigkeit, deren beste Ergebnisse verteilen sich leicht auf die jährlichen Neuerscheinungen aus Großschriftstellerfedern, und so werden diese zu Sparkassen des nationalen Geisteswohlstandes, indem jede von ihnen kritische Interpretationen nach sich zieht, die keineswegs nur Auslegungen, vielmehr geradezu Einlagen sind, während für alles übrige entsprechend wenig übrig bleibt. Ins Größte wächst das aber erst durch die Essayisten, Biographen und Schnellhistoriker, die ihr Bedürfnis an einem großen Mann verrichten. Mit Respekt zu sagen, Hunde ziehen zu ihren recht gemeinen Zwecken eine belebte Ecke einem einsamen Felsen vor; wie sollten da nicht Menschen, die den höheren Drang haben, ihren Namen öffentlich zu hinterlassen, einen Fels wählen, der offenkundig einsam ist? Ehe er sichs dessen versieht, ist so der Großschriftsteller kein Wesen mehr für sich allein, sondern eine Symbiose, das Ergebnis nationaler Arbeitsgemeinschaft im zartesten Sinn und erlebt die schönste Versicherung, die das Dasein zu geben vermag, daß sein Gedeihen mit dem Gedeihen zahlloser anderer Menschen auf das innigste verflochten ist.”

aus: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Ausg. Reinbek: Rowohlt 1978, Bd.I, S.430/31.

Abb.: Charles Joseph Traviès de Villers: La Critique. Hier aus dem Tageanzeiger Online, im Internet.

 

05/10/2007 (0:17) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Wissenschaftler

“Es wird immer Menschen geben, die lieber Wissenschaftler als Herren ihres Schicksals sind und sich gern der übelsten (geistigen und institutionellen) Sklaverei unterwerfen, wenn sie nur gut bezahlt werden und von Menschen umgeben sind, die ihre Bücher und Aufsätze lesen und preisen. Griechenland entwickelte sich und machte Fortschritte, weil es auf die Dienste unfreiwilliger Sklaven zurückgreifen konnte. Wir werden uns entwickeln und Fortschritte machen mit Hilfe der zahlreichen freiwilligen Sklaven in Universitäten und Laboratorien, die uns Pillen, Benzin, elektrischen Strom, Atombomben, tiefgefrorene Lebensmittel und gelegentlich ein paar interessante Märchen liefern. Wir werden diese Sklaven gut behandeln, wir werden ihnen sogar zuhören, denn sie könnten etwas Interessantes zu sagen haben, aber wir werden … ihnen nicht erlauben, die Phantasiegebilde der Wissenschaft zu lehren, als wären sie die einzigen Tatsachenaussagen, die es gibt.”

aus: Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Frankfurt(Main): Suhrkamp 1976, S.398.

Abb.: Ernest Pignon Ernest: Promethée, 1982, im Internet.

05/10/2007 (0:17) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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