MALTE WOYDT

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Eia popeia

“In Landsknechts- und Matrosenliedern kommen aufgelesene fremde Sprachfetzen der weit herumgereisten Leute als scheinbare Nonsenseinlagen vor, die aber oft übersetzbar sind. Ähnlich verhält es sich mit den Worten ‘eia popeia’ oder ‘Heidi popeidi’ in Kinderliedern, und mit der Bezeichnung ‘In die Heia gehen’ für ‘Schlafengehen’. Als das weströmische Reich zusammengebrochen war, holten sich Fürsten und Herzöge Kinderfrauen aus dem einzigen noch übrigen alten Kulturzentrum, aus Konstantinopel. Und die sangen den Kindern griechische Schlaflieder. ‘Eide popeion’ (in griechischen Dialekten, die den Spirtus asper nicht als ‘h’ aussprachen) oder ‘heidi popeion’ heißt ‘Schlaf Püppchen’, und wenn es mehrere Püppchen waren, dann hieß es ‘popeia’. Und immer mehr Frauen sangen ihren Kindern die Lieder vor, die zuerst einem Königs- oder Fürstenkind vorgesungen wurden.”

aus: Erich Fried: Nonsensdichtung und Montage. (1980). Hier in: Ders.: Die Muse hat Kanten. Berlin: Wagenbach 1995, S. 54/55.

05/19

11/05/2019 (17:54) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Freiheit 3

“‘Die Welt war seit den Römern leer, nur das Andenken an sie ist heute die Prophezeiung der Freiheit‘, rief Saint-Just aus und schon vor ihm hatte Thomas Paine prophezeit: ‘Amerika wird in vergrößertem Maßstab sein, was Athen in Miniatur war’. …

Ohne das klassische Vorbild dafür, was Politik sein und was die Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten für das Glück der Menschen bedeuten konnte, hätte keiner der Männer der Revolutionen den Mut zu dem gehabt, was als beispielloses Vorgehen erschien. …

Zweifellos ist es offenkundig und von großer Tragweite, dass diese Leidenschaft für die Freiheit um ihrer selbst willen bei Müßiggängern erwachte und von diesen genährt wurde, von hommes de lettres, die keinen Herrn hatten und nicht immer eifrig dabei waren, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Mit anderen Worten: Sie genossen die Privilegien athenischer und römischer Bürger, ohne sich an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, mit denen die Freien in der Antike so sehr befasst waren. Unnötig zu erwähnen, dass man dort, wo Menschen in wirklich elenden Verhältnissen leben, diese Leidenschaft für die Freiheit nicht kennt. …

Die Amerikanische Revolution … verdankte ihren Erfolg zu einem Gutteil dem Fehlen verzweifelter Armut unter den Freien und der Unsichtbarkeit der Sklaven. …

[In Frankreich schien] mit amerikanischen Augen betrachtet … eine republikanische Regierung … ‘so unnatürlich, irrational und undurchführbar wie in der königlichen Menagerie in Versailles unter Elefanten, Löwen, Tigern, Panthern, Wölfen und Bären’ (John Adams). Der Grund warum der Versuch dazu trotzdem unternommen wurde, ist der, dass diejenigen, die ihn unternahmen, les hommes de lettres, sich nicht groß von ihren amerikanischen Kollegen unterschieden, erst im Verlauf der Französischen Revolution merkten sie, dass sie unter vollkommen anderen Umständen agierten. …

Eine der wichtigen Konsequenzen der Revolution in Frankreich war es, dass sie zum ersten Mal in der Geschichte le peuple auf die Straßen brachte. …  Und wenn Saint-Just unter dem Eindruck dessen, was er mit eigenen Augen sah, ausrief: ‘Les malheureux sont la puissance de la terre’, so meinte er den großen ‘torrent révolutionnaire’ (Desmoulins), von dessen gewaltigen Wgen die Handelnden getragen und mitgerissen wurden. … Was geschah … erteilte den Menschen eine Lektion, die weder in Hoffnung noch in Angst je vergessen wurde. Diese Lehre, die ebenso schlicht wie neu und unerwartet war, hat Saint-Just so formuliert: ‘Wenn man eine Republik gründen will, muss man zunächst das Volk aus seiner elenden Lage befreien, die es verdirbt. Ohne Stolz gibt es keine politischen Tugenden, und wer unglücklich ist, kann keinen Stolz haben.’

Dieser neue Freiheitsbegriff, der auf der Befreiung von Armut beruhte, veränderte sowohl Richtung als auch Ziel der Revolution. …

Die Französische Revolution mündete in eine Katastrophe und wurde zu einem Wendepunkt der Weltgeschichte; die Amerikanische Revolution war ein triumphaler Erfolg und blieb eine lokale Angelegenheit, was zum Teil damit zu tun hatte, dass die soziale Lage auf der Welt insgesamt eher der in Frankreich ähnelte …”

aus: Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein. München: dtv 2018 (Vortrag gehalten 1967): S. 20-32, hier etwas umgestellt.

Abb.: Mirko Ilic: Statue of Liberty kissing Justice ; ), digital art 2004, im Internet.

05/19

11/05/2019 (14:05) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Weißsein 1

“Wie soll ich white privilege definieren? Es ist so schwierig, eine Leerstelle zu beschreiben, etwas, das abwesend ist. Und white privilege ist die Abwesenheit der negativen Folgen von Rassismus. …

White privilege ist die Tatsache, dass deine Hautfarbe, wenn du weiß bist, den Verlauf deines Lebens mit großer Sicherheit positiv beeinflussen wird. Und du wirst es wahrscheinlich nicht einmal bemerken. …

Das Konzept von white privilege zwingt Weiße, die nicht aktiv rassistisch sind, sich mit ihrer eigenen Komplizenschaft bei der Aufrechterhaltung seiner Existenz zu konfrontieren. White privilege ist stumpfsinnige, zermürbende Selbstgefälligkeit. Sie steht für eine Welt, in der drastische Ungleichheit aufgrund der Hautfarbe die Norm ist, die mit einem Schulterzucken abgetan wird. …

White privilege manifestiert sich in allen und niemandem. Jeder ist Komplize, aber keiner will die Verantwortung übernehmen. Es infrage zu stellen kann reale soziale Folgen haben. Weil es eine vielköpfige Hydra ist, muss man vorsichtig sein, welchen Weißen man vertraut, wenn es zu einer Diskussion über Hautfarbe und Rassismus kommt. …

Man weiß nie, wann sich ein Gespräch über Rassismus und Hautfarbe in eine Diskussion verwandelt, bei der man um die eigene körperliche Unversehrtheit und soziale Position fürchten muss.

White privilege ist eine manipulative, luftundurchlässige Decke der Macht, die wie Schnee alles bedeckt, was wir kennen. Es ist brutal und erdrückend und nötigt dazu, aus Angst, geliebte Menschen, den Job oder die Wohnung zu verlieren, nichts zu sagen. Es jagt dir Angst ein, bis du verstummst …

White privilege ist die perverse Situation, dass du dich mit offen rassistischen, rechten Extremisten wohler fühlst, weil du dann wenigstens weißt, woran du bist; die Grenzen sind klar.

Heimtücke ist viel schwieriger. Du lernst, mit ihr zu rechnen, aber du lernst nie, dich damit abzufinden. Du lernst, vorsichtig zu streiten, weil dich die Leute sonst für grundlos zornig halten. Für eine Unruhestifterin, die ernst zu nehmen sich nicht lohnt, eine zornige schwarze Frau, besessen vom Thema Hautfarbe.”

aus: Reni Eddo-Lodge: Ausgeschlossen vom Menschsein, ZEIT Online, 27.1.19, im Internet.

Abb.: Richard Bell: All Lives Matter (pt.2),t 2022, documenta15.

01/19

27/01/2019 (20:34) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Privatisiert

“Das Private ist politisch. Das ist heute kein Slogan mehr, sondern eine Tautologie. Es müsste vielmehr heißen: Das Politische ist privatisiert. Zwar wird immer noch demonstriert oder im Gespräch mit der Nachbarin über „die da oben“ geschimpft. Aber die Menschen sind gefangen in der Vorstellung, auf sich allein gestellt zu sein. … allen ist gemeinsam, dass sie sich zwar über Bezahlung, prekäre Bedingungen oder Stress im Job beschweren, das alles aber gleichzeitig irgendwie hinzunehmen scheinen. Die Verzweiflung wird oft zynisch weggelächelt oder man gibt sich selbst die Schuld. Selten wird die persönliche Misere als Indikator für den Zustand der Gesellschaft verstanden.

Dabei hatte doch der anfangs zitierte 68er-Aphorismus dazu beitragen wollen, die Probleme des Individuums mit der Gesellschaft zu verschalten. Die größte Errungenschaft dieser Bewegung war es, die Gesellschaft als Kategorie ins Bewusstsein zu holen und den verrückten, abweichenden, sexuell befreiten Menschen nicht als Solitär, sondern als ein mit anderen verbundenes Wesen zu verstehen.

Dieser Gedanke aber scheint immer weniger anschlussfähig. … Wir leben in einer Welt, für die der Satz Margaret Thatchers immer noch gilt: ‘Es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen.’

Die deutsche Gesellschaft hat sich spätestens seit der Agenda 2010 mit ihren Kernzielen Senkung der Lohnnebenkosten, Flexibilisierung der Arbeit, massive Kürzung staatlicher Leistungen in ein Regime der individuellen Autonomie, persönlichen Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung entwickelt. Wir sind immer mehr auf uns selbst zurückgeworfen. …

War die Hinwendung zum Eigenen mal ein Versprechen auf Selbstbefreiung, ist es heute geradezu ein Muss, sich selbst zu sein. Die Sozialen Medien machen uns zu hypernervösen Kuratoren der eigenen Identität

Jener Individualismus ist mehr als ein Kollateralschaden aus den Konflikten der wilden Siebziger, er ist auch die perfekte Voraussetzung für eine Umwelt, die davon profitiert, dass Menschen sich als Einzelkämpfer verstehen. Das spiegelt sich wiederum in einer Wettbewerbskultur, die einen neurotischen Individualismus produziert …, ein ständiges Konkurrenzgefühl.

Das Politische wird damit weniger zur Frage des Ichs, das sich zum Wir öffnet, sondern eine des Ichs, das sich um sich selbst dreht. So könnte in der Privatisierung des Politischen auch eine der Ursachen dafür liegen, dass sich große Teile der Bevölkerung nicht mehr ‘angesprochen’ fühlen oder sie aus Frust antiliberale rechtspopulistische Parteien wählen. …

Gewiefte Demagogen haben dieses Wir-Vakuum erkannt und arbeiten emsig daran, die individuell erfahrene Ohnmacht in kollektive, fremdenfeindliche Machtfantasien zu bündeln. Dass dies in einer Zeit passiert, in der Öffentlichkeit als Raum, der verhindert, dass Menschen „gleichsam über- und ineinanderfallen“, wie die Philosophin Hannah Arendt schrieb, einer zunehmenden Erosion öffentlicher Institutionen zum Opfer fällt, scheint nicht zu verwundern. Denn die Öffentlichkeit kommt heute eher zu uns als wir zu ihr. Wir sitzen zwar alleine am Schreibtisch, sind aber zugleich „connectet“.

Jenes vernetzte Einsiedlertum zeigt sich auch in einem auseinanderdriftenden Alltagswissen. Stehen in Zeitungen als Organ politischer Willensbildung noch relativ ähnliche Inhalte über den Ist-Zustand der Welt, sehen die Timelines … alle unterschiedlich aus. Auf kuriose Weise hat sich das bei den Demos der Gelbwesten in Paris gezeigt. Dort haben sich Millionen Menschen aus ihrer Vereinzelung bewegt, doch eint sie oft nicht mehr als das Symbol, das sie tragen. … Aufrufe auf Facebook haben sie mobilisiert, doch ihre Begründungen sind sehr unterschiedlich, weil die Filterblasen allen die passenden Erklärungen liefern.

Und jetzt? Um das Politische wieder zu sozialisieren, wäre viel gewonnen, wenn die neoliberale Fiktion überwunden werden würde, nach der wir auf uns alleine gestellt sind. Menschen sind keine atomisierten, sondern molekulare, also miteinander verbundene Wesen. …

Großes Potenzial birgt neben der Klassen- auch die Mietfrage, die in Großstädten zur existenziellen Bedrohung wird. … Hier könnte das alte, eigentlich nichtliberale Phänomen der Solidarität helfen. … Ohne Ich gibt es keine Gemeinschaft, aber ohne Wir keine Gesellschaft.”

aus: Philipp Rhensius: Das Politische ist privatisiert. taz online, 6.1.19, im Internet.

Abb.: Rene Magritte: Golconda, 1953, Menil Collection, Houston, TX, US, hier wikiart, im Internet.

01/19

09/01/2019 (2:29) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Spenden

“Wenn Arme und Hungernde betroffen sind, bitten die Regierungen um Spenden. Bei Bankenrettung bittet niemand um Spenden. Da werden Steuergelder verwendet.”

aus. Mely Kiyak: Briefe an die Nation und andere Ungereimtheiten. Frankfurt(Main): Fischer 2013, S.208 (ursprünglich vom 23.7.2011).

Abb.: Hugo Leon Morales: Man on a mattress, im Internet.

 

12/18

12/12/2018 (11:07) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Haltung

“Mein Bedürfnis, mich … zu positionieren, ist längst erloschen. Ebenso mein Wunsch, ‘Farbe zu bekennen’. Jetzt noch mutig sein und aussprechen, was ohnehin für jedermann sichtbar ist? … Ich bin weder bestürzt noch empört. Nicht mehr. Jegliches Gefühl des Entsetzens hat sich längst abgenutzt. …

Ich bin … durch eine Phase tiefen Grolls gegangen, eine Phase, die zugleich geprägt war von der Lust auf Widerspruch. ….. Zehn Jahre lang, Woche für Woche … meinte ich, durch meine Tätigkeit als politische Kommentatorin unmittelbaren Einfluß auf den Meinungsbildungsprozeß nehmen zu müssen. …

Langsam stellte sich aber heraus, dass die Dynamik des Rechtsrucks gerade aus diesem Reaktionsmuster erwächst. … Schweigt man, käme es einer Duldung gleich. Wenn man aber reagiert, hat man das Spiel in Kenntnis der Methode mitgespielt. Wie also Einspruch erheben? Der Schlüssel ist, die Methode Widerspruch ohne Konsequenz in Widerspruch durch Konsequenz zu ändern. …

All denen, die meinen, mit Haltung in Form von permanentem, rhetorischen Widerstand gegen Demokratiefeinde auf der Gewinnerseite zu stehen, sei gesagt: Vergesst es! Indem wir uns ständig mit ihnen beschäftigen und versuchen, sie zu integrieren, sorgen wir nicht dafür, dass sie klüger und offener werden. Sie wollen uns zermürben. … Sie arbeiten seit Jahrzehnten unermüdlich und strategisch an der Umsetzung ihrer Ideen. … Sie wollen, dass wir aufhören, selbstständig zu denken. Zu träumen. Sie wollen, dass wir ein schlechtes Gewissen bekommen, weil wir lieben, statt zu hassen. … Kurz: Sie wollen, dass wir genauso abgestumpfte Idioten werden wie sie. …

Alles, was ich über das Menschsein weiß, verdanke ich letztlich einer Handvoll Leute. … Die Haltung, die ihrem Handeln zugrunde liegt, ist wie ein Licht. Es beleuchtet ihr Tun, wo sie auch stehen, wo sie auch gehen. Zufall oder nicht: Sie teilen eine Charaktereigenschaft, die sie für mich erhaben und würdevoll strahlen lässt – sie sind großzügig und zurückhaltend. …

Was … ist Haltung? Inwiefern unterscheidet sie sich von Meinung und Gesinnung? … Für Aristoteles handelte es sich bei Haltung um Tugenden, die durch Erziehung und Gewöhnung angeeignet werden. … Man handelt aus Grundüberzeugungen, die man Haltung nennt und die sich auf unser Denken, Fühlen und Handeln auswirken. …

In dem, was ich über Haltung las, ging es häufig darum, wie man etwas tut oder warum man etwas tut. Ich glaube aber, dass leben an sich auch schon eine Haltung darstellt. … Man stelle sich eine Gruppe von Menschen vor, die einen Kollegen mobben. … Alle machen mit … bis auf einen. Er stellt sich weder schützend vor das Opfer, noch greift er anderweitig ein. … Ja vielleicht ist er sogar ein armseliges, feiges Würstchen. Dennoch hat auch dieses Würstchen für sich eine Grenze definiert: Er will nicht Teil einer Gruppe sein, deren Verhalten er falsch findet … vielleicht zieht er sich auch nur intuitiv zurück. Trotzdem beweist er Haltung, indem er eine Entscheidung trifft, nämlich die, nicht mitzumachen. Damit hat er bei aller Schwäche dutzendfach mehr Rückgrat bewiesen als die ganze Abteilung. …

Ich wünsche Mut zum Leisesein.”

aus: Mely Kiyak: Haltung. Berlin: Duden 2018.

Abb.: Philippe Dereux: Les conjurés, 1974, Musée de l’Art Brut, Montpellier

12/18

 

12/12/2018 (10:03) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Rassismus 3

Deutsche beschweren sich regelmäßig über einen angeblich übermäßigen Gebrauch des Wortes “Rassismus“. Deutsche gebrauchen den Begriff weniger schnell als Engländer, oder Franzosen. Das ist wie mit den Eskimos. Die Eskimos haben offenbar 20 verschiedene Worte für Schnee, sie sind echte Experten in Schnee. Die Deutschen haben dann halt 20 verschiedene Worte für Rassismus

Malte Woydt

Abb.: Le monde de Pénélope: La haine rassiste sur Internet, 2004, im Internet.

12/18

12/12/2018 (2:20) Schlagworte: DE,Notizbuch ::

Mittelstandsgesellschaft

“Die “nivellierte Mittelstandsgesellschaft”, in der sich unter einem guten Leben alle das vorstellen, was ARD und ZDF im Vorabendprogramm zeigen, gibt es nicht mehr. Kulturell ist sie von der Globalisierung erledigt worden. Ökonomisch wurde sie von einer Politik zerquetscht, die Friedrich Merz immer favorisiert hat.”

Tobias Haberkorn: Der Mentalitätsmittelschichtler, ZEIT Online 18.11.18, im Internet

11/18

18/11/2018 (19:14) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Antimoralismus

“… ‘Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral‘”, dieser berühmte Satz aus Brechts Dreigroschenoper will nicht das unmoralische Verhalten der Armen und Unterdrückten entschuldigen, er ist vielmehr ein Vorwurf an die Mächtigen. Diese könnten sich ihre tugendhaften Predigten nur deshalb leisten, weil sie von einer zutiefst ungerechten Gesellschaftsordnung profitierten. …

… diese Kritik bleibt … relevant. Ein Statussymbol der gegenwärtigen Mittelschicht ist zum Beispiel der bewusste, ethische Konsum. …[Aber] diese kleinen, privaten Akte der Tugendhaftigkeit [sind] nur ein Tropfen auf den heißen Stein der globalen Wirtschaftsordnung. … Der unpolitische, privatistische Moralismus der Mittelschicht gibt sich engagiert und kritisch, dient dabei aber auch und vor allem dem psychologischen Nebeneffekt der Gewissenserleichterung. … Die “liberalen Eliten” … sind gegen Diskriminierung von Migranten, aber nicht gegen den Niedriglohnsektor, in dem viele Migranten arbeiten. …

Wie passen … [aber] die Texte der Aufstehen-Initiatoren in dieses Schema? … [Sie] kritisieren [gar] nicht, sondern affirmieren vielmehr die gängigsten rechtspopulistischen Argumentationsmuster. … Es ist ein gefährlicher Irrtum, die rechten Antimoralisten beim Wort zu nehmen: als ginge es diesen Leuten nur um eine emotionsfreie, rationale, offene Debatte und eine “realistischere” Staatspolitik. Der antimoralistische Affekt der Rechtspopulisten ist keine Reaktion auf den Hypermoralismus der Eliten, denn diesen gibt es überhaupt nicht. … die Forderung, dass in Zukunft wieder einmal Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa kommen sollen, ist und war immer eine völlig marginalisierte Außenseiterposition. …

Was es durchaus gibt in unserer Gesellschaft, ist ein Konsens über gewisse liberale Grundsätze. Zum Beispiel soll jeder Mensch vor Diskriminierung geschützt werden und möglichst gleiche Chancen erhalten, etwas aus seinem Leben zu machen. Auch allgemeine Menschenrechte und das grundsätzliche Recht, Asyl zu beantragen, gehören noch zu diesem gesellschaftlichen Übereinkommen. Diese Moral zu überwinden, ist die Absicht der Rechten. …

Der angebliche Moralismus der Eliten, ihr Getue um Menschen- und Minderheitenrechte, bedeutet aus … [der] Perspektive [der Rechtspopulisten], dass ihnen die Interessen des ‘wahren Volkes‘ eben nicht so wichtig seien, dass sie sich mehr um Ausländer, Schwule, Schwarze oder Roma kümmern als um die ‘normalen Menschen’.

Wer in diesem Kontext als Linker behauptet, dass die moralischen Exzesse des Establishments eine Bedrohung für die Armen und Abgehängten seien, sollte sehr genau überlegen, was er da macht. Einem linken Aufbruch dient das jedenfalls nicht.”

aus: Johannes Simon: Die eigenen Privilegien stressfreier genießen, Die Zeit, 8.9.18, im Internet.

Abb.: Paolo Nazareth.

09/18

09/09/2018 (8:20) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Abendland

“Die Begriffsgeschichte kennt drei ideologisch formende Stationen: das Auftauchen im 16. Jahrhundert als Opposition zu Luthers ‘Morgenland’; sein Aufgreifen durch die deutsche Romantik mit der Tendenz zur Vereinnahmung für das Deutschtum; seine Verlagerung zum national und sogar rassistisch belasteten Begriff nach dem I. Weltkrieg und erneut nach 1945 mit der Tendenz der politischen Abgrenzung gegen den Osten hinter dem Eisernen Vorhang. … dieser Ausdruck weist einen Mangel an Eindeutigkeit auf; weder als historische Kategorie noch als kulturpolitischer Begriff ist ‘Abendland’ wirklich brauchbar. …

Was im 16. Jahrhundert räumlich gedacht wurde, verschob die Romantik zur kulturellen Bedeutung unter deutschem Vorzeichen. Die rassistische Verschiebung begann mit der Übersetzung der pseudowissenschaftlichen Schrift Houston Stewart Chamberlains: wo im Englischen ‘european’ steht, wurde übersetzt ‘abendländisch’. So bekam das Kap. II/5 gleich die Konnotation einer beabsichtigten Bedrohung: ‘Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte’

Das bedrohte ‘Abendland’ erklingt ganz kräftig in Alfred Rosenbergs gesteigert pseudowissenschaftlicher Schrift ‘Der Mythus des 20. Jahrhunderts …: ‘Daß alle Staaten des Abendlandes und ihre schöpferischen Werte von den Germanen erzeugt wurden, war zwar schon lange allgemeine Redensart gewesen, ohne daß daraus die notwendigen Folgerungen gezogen worden wären. Denn diese begreifen in sich die Erkenntnis, daß beim vollständigen Verschwinden dieses germanischen Blutes aus Europa … die gesamte Kultur des Abendlandes mit untergehen müßte.’

In andere Sprachen ist der Ausdruck unübersetzbar … Andere Sprachen kennen nur l’occident, west, tsch. západ, poln. zachód – man braucht keine dem ‘Abendlande’ ähnelden Begriff zur Identität und Selbststilisierung. …

In seiner Vision des ‘Weltgeistes’, der für eine Epoche ein ‘Herrschendes Volk’ auswählt und somit eine ‘spezielle Geschichte eines welthistorischen Volks’ aufbricht, benutzte Hegel entgegen dem ‘morgenländischen’ Bild des sich erneuernden Leibes das Oppositum: ‘Abendländisch ist, daß der Geist nicht bloß verjüngt hervorträte, sondern erhöht, verklärt.’ … Das Modell hatte seine Anziehungskraft: der ‘Geist’ erwählte für seine Entäußerung Deutschland, und das übertrug sich auf die Sendung seiner Kultur und vor allem – der deutschen Musik. …”

aus: Vladimir Karbusicky: Wie deutsch ist das Abendland? Hamburg: Brokel 1995, S.47/48

Abb.: Richard Bell: Prelude to a Trial (Bell’s Theorem) (2011), im Internet.

07/18

07/07/2018 (11:23) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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