MALTE WOYDT

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Redezwang

“Im übrigen, was ich Ihnen gestern über die sogenannte Sturmsonate gesagt habe, ist sicher interessant und ich bin auch sicher, daß, was ich Ihnen über diese sogenannte Sturmsonate gesagt habe, stimmt, aber ist doch wahrscheinlich für mich selbst interessanter, als für Sie. So ergeht es einem ja immer, daß man über ein Thema spricht, weil einen dieses Thema fasziniert, aber es fasziniert einen selber mehr als den, dem wir es letzten Endes doch mit aller krampfhaften Rücksichtslosigkeit, zu der wir fähig sind, aufzwingen. … Jeder hat seinen eigenen, seinen ureigenen Redezwang, und ich habe den musikwissenschaftlichen Redezwang schon mein ganzes musikwissenschaftliches Leben … Natürlich kann ich heute auch sagen, daß alles heute Unsinn ist, was ich gestern über die Sturmsonate gesagt habe, so wie ja alles Unsinn ist, was gesagt wird, aber wir sagen diesen Unsinn doch überzeugend, sagte Reger. Alles Gesagte stellt sich über kurz oder lang als Unsinn heraus, aber wenn wir es überzeugend sagen, mit der unglaublichsten Vehemenz, die uns möglich ist, ist es ja kein Verbrechen, sagte er. Was wir denken, sollten wir auch sagen, sagte Reger, und wir geben im Grunde so lange keine Ruhe, bis wir es gesagt haben, wenn wir es verschweigen, ersticken wir daran. Die Menschheit wäre längst erstickt, wenn sie ihren im Verlauf ihrer Geschichte gedachten Unsinn verschwiegen hätte, jeder einzelne, der zu lange schweigt, erstickt, auch die Menschheit kann nicht zu lange schweigen, denn dann erstickt sie, auch wenn es doch nur immer Unsinn ist, das der einzelne denkt, das die Menschheit denkt und das der einzelne jemals gedacht hat und das die Menschheit jemals gedacht hat. Einmal sind wir Redekünstler, einmal Schweigekünstler und wir perfektionieren diese Kunst bis zum Äußersten, sagte er, unser Leben ist genau in dem Grade interessant, in dem wir unsere Redekunst wie unsere Schweigekunst haben entwickeln können. … Gerade weil sie theoretisch an Musik tatsächlich gar nicht interessiert sind, sind Sie das ideale Opfer meiner Auseinandersetzungen mit der Musik, sagte Reger. Sie hören aufmerksam zu und widersprechen nicht, sagte er, Sie lassen meine Reden in Ruhe, das brauche ich, gleich was es wert ist, was ich sage, es ebnet mir nur den Weg durch diese fürchterliche, glauben Sie mir, doch tatsächlich sehr selten glücklich machende musikalische Existenz …”

aus: Thomas Bernhard: Alte Meister, Frankfurt (Main): Suhrkamp 1985, S. 185-189.

04/14

05/04/2014 (12:53) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

autolos

Autofahrer leben anders.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie das sein muß, sein Auto aufzugeben und plötzlich ein Leben ohne Auto zu führen.

Ich habe nie ein Auto gehabt, auch nie einen Führerschein gemacht. Was nicht heißen soll, daß mein Leben vollkommen autolos verlaufen wäre. Meine Eltern hatten immer ein Auto, ich fuhr auf der Rückbank mit, wir fuhren oft mit den Auto in Urlaub.

Als WIR unser zweites Kind erwarteten, hat meine Freundin mit damals 38 Jahren ein Auto (mit bereits draufmontiertem Fahrradträger!) gekauft und dann ihren Führerschein gemacht (das ist die Reihenfolge in der man das in Belgien macht). Das war eine wahnsinnig gute Entscheidung. Mit kleinem, todmüden Kind abends spät im Zug nach Hause fahren, war schon kein Geschenk, immer dieselben Fahrradtouren vom Haus aus machen zu müssen, weil man nie sicher sein kann, die Räder im Zug mitnehmen zu können, auch nicht. Und dann kam nicht nur ein zweites, sondern gleichzeitig ein drittes Kind!

Versucht mal, Euch mit einem Zwillingskinderwagen durch die Stadt zu bewegen… Wir hatten fürs erste Kind schon die Straßenbahntüren ausgemessen (58 cm, weiß ich heute noch), um sicher einen Kinderwagen zu kaufen, der da durchpaßt, dann auch ein Zwillingsmodell genommen, bei dem die Kinder nicht nebeneinander, sondern einander gegenüber sitzen (sowieso besser, hat den beiden wahnsinnig viel Spaß gemacht, miteinander Späßchen machen zu können). Aber doch, wir hatten damals bei uns im Viertel nur eine Buslinie, deren Busse zugänglich waren für so ein Monstrum (inzwischen fahren besser geeignete Bus- und Straßenbahnmodelle auf etwas mehr Linien als damals).

Also das Auto war ein absolutes Muß für die geplagten Zwillingsbabyeltern. Auch zog meiner Freundin Arbeitgeber, der urspünglich 20 Min. zu Fuß von uns gewesen war, dann eine Zeitlang 20 Min. zu Fuß plus 20 Min. Eisenbahn von uns entfernt zu finden gewesen war, raus aufs Land: 1:15 Std. per Bus, mit einem oft verspäteten (oder verfrühtem…) Bus, der nur einmal die Stunde fährt! Mit dem Auto 20 Minuten entgegen dem Berufsverkehr. Sie fährt so gut wie jeden Tag mit dem Auto.

Das heißt aber nicht, daß wir uns mit den Kindern nicht weiterhin zu Fuß, mit Fahrradanhänger, später Fahrradsitzen, Follow-me und inzwischen eigenen Fahrrädern, und öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt bewegten. Mit dem Auto in die Innenstadt zu fahren, macht nämlich keinen Spaß, Parkhäuser sind teuer und zurück zu Hause findet man keinen Parkplatz, der näher als 800 m am Haus dran wäre…

Wie gesagt, habe ich selber auch immer noch keinen Führerschein. Das hat mir eigentlich nur einmal richtig wehgetan: als meine Mutter ins Altersheim umzog, hätte ich die Haushaltsauflösung mit Führerschein und Auto viel besser erledigen können.

Autofahrer fragen immer: Aber wie macht Ihr Eure Einkäufe? Na, zu Fuß mit dem Rucksack! Wie das? Na, wir wohnen 300m von einer Straße mit 4 (!) Supermärkten enfernt, in 50m Entfernung ist ein Grünhöker, in 100m der Schlachter, in 150m mehrere Bäcker. Wir gehen mehrmals die Woche einkaufen, Fleisch vom Schlachter, Obst und Gemüse an der Ecke, den Rest (und Schweinefleisch, das führt unser Schlachter nicht) in einem der Supermärkte. “Na, da habt Ihr aber Glück, daß Ihr das so nah dran habt” – Wieso Glück? Wenn man als Nicht-Autofahrer eine Wohnung oder ein Haus sucht, achtet man darauf, wie nah die Geschäfte sind. Unser Haus ist inzwischen teurer als Häuser mit Garage aber ohne Supermarkt. Das ist nicht Glück, das sind andere Prioritäten, das ist eine andere Lebensweise.

Autofahrer leben anders. Das erste Mal fiel mir das auf, als ich in Hamburg mit frischen Führerscheinbesitzern ausging: Die Leute entschieden sich nicht für ein Stadtviertel in das sie ausgehen wollten, wie ich das gemacht hätte. Nein, sie schauten erst in Pöseldorf in ein Lokal, war zu langweilig, hop ins Auto nach Altona. Und so weiter… Ähnliche Situation: Vetter und Cousine aus Kempten nahmen meine Schwester und mich mit in die Disko. Die Kemptener Discos gefielen ihnen nicht, wir fuhren also nach Isny. Während des Studiums in Mannheim hatte ich Nachbarn, die fuhren ständig ins Schwimmbad, offenbar eine Disko in Heidelberg. Für mich war Heidelberg gleichbedeutend mit dem Nachtzug von 2:00 morgens, Ankunft in Mannheim 2:14. Davor fuhr der letzte Zug irgendwann um 22 Uhr oder so. Das heißt, ich war abends so gut wie nie in Heidelberg. Gab in Mannheim genug zu tun. Ich war einmal auf einer Geburtstagsparty mit lauter Autofahrern. Die diskutierten über die Preise von Fitnessclubs. So ein Blödsinn, mit dem Rad zur Arbeit fahren und zurück, und ihr braucht keinen Fitnessclub!

Autofahrer, die es einmal ohne Auto versuchen (müssen), finden Tram und Busse schrecklich: Die Promiskurität, der fehlende Sitzplatz, die langen Wartezeiten. ICH habe IMMER was zum Lesen im Rucksack: Zeitung oder Buch. Ob ich mein Buch jetzt zu Hause lese oder an der Straßenbahnhaltestelle ist doch egal? Gut, ich muß nur selten im Berufsverkehr durch die Stadt, habe also oft einen Sitzplatz. Aber mit dem Auto im Stau könnte ich mein Buch auch nicht lesen.

Autofahrer, die es einmal per Rad versuchen, finden ausgerechnet den Autoverkehr zu laut, zu stinkig zu gefährlich, um sich darin mit dem Fahrrad zu bewegen. Wie kommt das nun? Ich begegne nicht vielen Autos in der Stadt. Autofahrer, die aufs Fahrrad umsteigen, machen das auf denselben Hauptverkehrsachsen, die sie auch mit dem Auto nehmen, und begegnen dort … Autos! Man sollte schon ruhigere Seitenstraßen probieren, in Brüssel gibt es dafür Extra-Rad-Stadtpläne und – bisher leider immer noch unvollständige – Wegweiser in der ganzen Stadt.

Belgier finden im Allgemeinen, mit Kindern könne man nicht in der Stadt leben. Kinder brauchen ein Haus mit Garten außerhalb der Stadt, mit Carport oder Doppelgarage. So ein Quatsch. Ich war und bin oft mit den Kindern in der Stadt unterwegs. Es gibt immer Mäuerchen zum Draufspringen, Stadtmobiliar zum Fangen- und Versteckspielen, sogar ab und zu Spielplätze. Es gibt Open-Air-Konzerte, Straßentheater, Flohmärkte, Stadtteilfeste mit Kinderanimationen, Museen, Spielecafés und andere Dinge zu entdecken. Die Kinder haben immer Spiele, Spiel- oder Malzeug im Rucksack dabei. Die Kinder können morgens alleine in die Schule gehen (aus Sicht anderer belgischer Eltern sind wir also Rabeneltern!), und Musikschule sowie Sportaktivitäten finden wir alle auf dem Schulweg. Auf dem Land bräuchte man für die außerschulischen Aktivitäten unserer Kinder drei Autos und mithelfende Großeltern. In der Stadt geht das alles zu Fuß und mit dem Fahrrad. Wir haben jetzt so einen Ledersitz für den Gepäckträger, auf dem man auch größere Kinder, die erschöpft aus dem Training kommen, nach Hause bekommt…

Normale Menschen in unserer Situation hätten zwei Autos, sehen wir auch bei Nachbarn (die sich, obwohl sie in der Stadt wohnen, verhalten wie Landbewohner), wir nur eines. Was uns das Auto weniger kostet? Einen Familienurlaub mehr im Jahr, jippie!

Autofahrer leben anders, mit weniger Auto lebt sich’s besser.

Malte Woydt, geschrieben für einen Blog zum “Mobilitätsfasten”

Abb.: Einsendung von ? zum Deutschen Karikaturpreis 2019.

02/13

27/02/2014 (19:48) Schlagworte: DE,Notizbuch ::

Autofahrer

(FR)

 

“Rad- und Autofahrer: Warum soviel gegenseitiges Unverständnis?

… Autofahrer folgen … präzisen unausgesprochenen Regeln, die nur für sie gelten. Diese Regeln sind nicht mit der “offiziellen” Straßenverkehrsordnung zu verwechseln, teils ergänzen sie diese, teils stehen sie im Widerspruch zu derselben. Viele Mißverstände rühren daher, daß Autofahrer vergessen, daß sich diese Regeln in keiner Weise auf Radfahrer übertragen lassen.

Das beste Beispiel ist wohl die unausgesprochene Regel “Respekt für die Warteschlange”. Ein Autofahrer bewegt sich in der Stadt von Warteschlange zu Warteschlange… insbesondere im Berufsverkehr, der heutzutage den größten Teil des Tages in Beschlag nimmt. Meistens steht der Autofahrer in der Schlange, ohne zu wissen, warum, außer daß er durch das Auto vor ihm blockiert ist. Sobald es möglich ist, gibt er wieder Gas, um sich so gut wie möglich in der nächsten Warteschlange zu positionieren. Schon ein Platz weiter vorne kann ihm eine Rotphase ersparen oder sogar zwei, wenn die Kreuzung ganz verstopft ist wie so oft.

Und sie haben gute Gründe so zu denken: Autofahrer finden, sie haben das Recht, ihren Platz in der Warteschlange zu behalten, selbst mitten auf der Kreuzung. Dafür muß man Autofahrer, die aus anderen Richtungen kommen, daran hindern, vor einem in eine Lücke zu stoßen. Das Recht, seinen Platz in der Warteschlange zu behalten, kommt also vor allen Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung, da es einem (de facto) erlaubt, eine Kreuzung zu blockieren, ohne daß das die anderen Autofahrer aufregt. Im Gegenteil, wenn sich ein Autofahrer weigert, auf eine besetzte Kreuzung zu fahren, hupt man ihn (zumindest) aus. Meistens sind Autofahrer erleichtert, wenn vor ihnen jemand bei Rot über die Kreuzung fährt, da sie dadurch einen Platz aufrücken. (Aber ein Radfahrer, der bei Rot fährt, macht keinen Platz frei, der ist ein mieser Egoist!). Kurz, Autofahrer sind ständig damit beschäftigt, ihren Platz in der Schlange behalten zu wollen, darüber wird nicht viel nachgedacht. Autofahrer beachten diese Regel selbst auf der Autobahn, wo sie vollkommen ineffizient ist und gefährlich für sie selber und die anderen.

In diesem Zusammenhang wird klar, daß Radfahrer Provokateure sind, da sie die Warteschlange nicht respektieren, ein Otto-Normalautofahrer weiß nicht, daß die Straßenverkehrsordnung Radfahrern erlaubt, an wartenden Autos vorbeizufahren. Aber, eines ist sicher, er findet dieses Verhalten völlig inakzeptabel! Radfahrer werden nicht durch die skrupulöse Einhaltung der offiziellen Straßenverkehrsordnung aufhören, als Anarchisten angesehen zu werden …”

aus: Quentin Wibaut: Cyclistes vs. automobilistes : pouquoi tant d’incompréhension? In: Ville à Vélo 144, Bruxelles, Sept./Oct. 2009, S.12; Übersetzung Malte Woydt.

Abb.: Brandalism, 2020?, im Internet.

09/09

13/02/2014 (0:57) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Liberalismus

“Der Begriff ‘Liberalismus’ ist so schlüpfrig, wie ein politischer Begriff nur sein kann. Heute tendiert er desto mehr nach links, je weiter man sich westwärts bewegt. …

Um diese Bedeutungsvielfalt zu verstehen, müssen wir ins 17. und 18. Jahrhundert zurückgehen. Damit erhob sich Kritik an der Allmacht von Monarchen, Adligen, Päpsten und Bischöfen. … Keiner dieser Mächtigen mochte zugestehen, daß jeder Mensch über naturgegebene Rechte verfügt; in ihren Augen gab es lediglich Privilegien und detailliert spezifizierte Freiheiten, die nur sie selbst einräumen und jederzeit wieder entziehen konnten. …

Die Forderung der Kaufleute, die Märkte dem Zugriff weltlicher und geistlicher Autoritäten zu entziehen, die an der Vergabe von Handelsmonopolen erhebliche Profite zogen, vereinte sich mit dem allgemeinen Ruf nach Freiheit als einem unersetzlichen, unteilbaren, unwiderruflichen Menschenrecht. Da sich die bestehenden Machtverhältnisse in Kirche, Staat und in der Klasse der Grundeigentümer nicht einfach wegwischen ließen, führte das Streben nach mehr Freiheit in der Praxis zu vielfältigen Separationen: der Trennung von Wirtschaft und Politik, von Kirche und Staat sowie der Loslösung der individuellen Lebensführung von jeglicher kollektiver Moral. … Durch die so bewerkstelligte Aufteilung des Lebens in ‘Lebensbereiche’ ließ sich der Einfluß der bislang Mächtigen zurückdrängen; individuelle Freiräume entstanden. …

Am Ende des 19. Jahrhunderts waren das bürgerliche Eigentum und die mit ihm einhergehenden liberalen Rechte auf den Privatbesitz an Produktionsmitteln und die Beschäftigung von Arbeitnehmern ihrerseits Quellen von Macht und Dominanz geworden, … Die Tradition des Liberalismus zerfiel in zwei Stränge. …

Der sozialliberale Strang konzentrierte sich auf die Rechte der arbeitenden Massen … So fanden sich die Sozialliberalen nicht selten in der unbehaglichen Gesellschaft von Sozialisten wieder, welche die Macht des Staates nutzen wollten, um das Privateigentum an den Produktionsmitteln abzuschaffen.

Daneben gab es aber auch einen wirtschaftsliberalen Strang, der auf die Freiheit der Arbeitgeber, Investoren und des Marktes setzte. Wirtschaftsliberale fanden sich zunehmend an der Seite ihrer alten konservativen Gegner wieder. …

In den zwanziger Jahren hatte die freie, von staatlicher Intervention weitgehend verschonte kapitalistische Marktwirtschaft versagt und der Welt die Große Depression eingebracht. Zu Beginn der dreißiger Jahre versprachen drei alternative Ansätze zur Organisation der Wirtschaft weit mehr Effizienz und Wachstum: der in der UdSSR praktizierte Kommunismus, der deutsche und italienische Faschismus bzw. Nationalsozialismus sowie diverse Kombinationen von staatlicher Nachfragesteuerung und sozialstaatlicher Intervention, die in den USA und Skandinavien … erprobt wurden. …

Nach dem Krieg war eines dieser Modelle, das faschistische, bzw. nationalsozialistische, am Ende [es blieben die anderen beiden] …

Das alte liberale Ideal einer von staatlichen Eingriffen freien Marktwirtschaft schien tot und begraben.

Der Liberalismus selbst überlebte in seiner sozialliberalen Variante als Forderung nach diversen Rechten und Freiheiten – wobei er auf die eine grundlegende Forderung nach einer von staatlichen Eingriffen uneingeschränkten Verfügung über im Privatbesitz befindliche Produktionsmittel verzichtete. …

Die Forderung nach uneingeschränkten Eigentümerrechten … bliebt für die Wohlhabenden natürlich attraktiv. Sie standen stets bereit, um die intellektuellen Projekte des Wirtschaftsliberalismus zu finanzieren und seinen Protagonisten über die mageren Jahre hinwegzuhelfen. … Unter Führung des berüchtigten Senators Eugene McCarthy wurde dabei der Wirtschaftsliberalismus mit dem Verzicht auf jegliche Liberalität verteidigt. Auch das trug dazu bei, daß der Begriff ‘liberal’ heute in den USA für das Gegenteil dessen steht, was er in Europa bedeutet, nämlich das Eintreten für den Sozialstaat und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft. …

Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwarfen einige deutsche und österreichische Liberale eine Wirtschaftsordnung für das befreite Deutschland. … Diesen Liberalen gefiel es nicht, daß der ungehemmte Wettbewerb sich oftmals selbst abschafft, indem der am Markt Erfolgreichste seine Konkurrenz aufkauft, wodurch riesige Konzerne und Monopole entstehen. Sie orientieren sich daher an der amerikanischen Antitrustpolitik … Statt schrankenloser Marktwirtschaft befürworteten sie den sogenannten Ordoliberalismus, bei dem die Einhaltung einer vom Staat festgelegten Wettbewerbsordung behördlich überwacht wird. Dieses Modell, später als ‘soziale Marktwirtschaft’ bezeichnet, bestimmt lange die deutsche Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit. Infolge einer weiteren schicksalshaften Umkehrung politischer Begriffe wurde es dann, obwohl ursprünglich von Wirtschaftsliberalen im Kampf gegen den interventionistischen Sozialstaat erdacht, in den achtziger Jahren mit diesem gleichgesetzt.

Die neuen Wirtschaftsliberalen gestanden Eingriffe in den Markt … zu, sahen die Aufgabe des Staates, vor allem der Justiz, … allein darauf beschränkt, dessen reibungsloses Funktionieren zu gewährleisten. Diese Idee fand in den USA breiten Widerhall, wo man sie als neoliberal bezeichnete, da man unter Liberalismus inzwischen linke Politik verstand. …

Die Geschwindigkeit, mit der der Keynesianismus und andere Modelle staatlicher Unterstützung der Ökonomie in den Wirtschaftswissenschaften durch monetaristische und andere neoliberale Ideen verdrängt wurden, war atemberaubend. 1974 ging der Nobelpreis für Wirtschaft noch zu gleichen Teilen an Friedrich von Hayek, einen der Schöpfer des deutschen Ordoliberalismus, und Gunnar Myrdal, einen der Begründer der modernen schwedischen Sozialdemokratie. Bereits 1976 ging er an Milton Friedman …”

aus: Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Frankfurt(Main): Suhrkamp 2011, S.21-37.

Abb.: The European.

01/14

06/01/2014 (2:08) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Populismus 1

“Die Realität zeigt, dass es .. durchaus verschiedene Betriebsmodi des populistischen, an der ‘etablierten’ Politik frustrierten Protests gibt, wobei oft sozialökonomische Motive keine allzu große Rolle spielen.

Hier gibt es, erstens, jene, die der Parteienanordnung als solcher zunehmend reserviert gegenüberstehen. … Die Kritik an den politischen Parteien aus dieser Perspektive lautet so, dass sie selbst einfachste praktische Lösungen für Probleme nicht mehr zu finden imstande ist, weil es den Parteien nur um taktische Vorteile für sie selbst oder allenfalls ihre Klientel geht und sie sich gegenseitig blockieren. … Wir können hier von einem Verdruss der bildungsbürgerlichen Mitte sprechen. …

Hier gibt es, zweitens, dann das was man provisorisch den unpolitischen Yuppie-Protest nennen könnte: Bürger, die den Staat als bürokratisches Monstrum betrachten, das von ‘den Parteien’ gekapert wurde, um es sich an seinen Futtertrögen gut gehen zu lassen. Motto: Die leben auf unsere Kosten. …

Den überwiegenden Zuspruch erhalten … [populistische Formationen] freilich aus dem dritten großen Milieu, in dem populistische Sentiments wachsen: dem Milieu der jeweiligen einheimischen Unterprivilegierten. … Nicht selten gibt es nicht einen Spitzenfunktionär, nicht eine Spitzenfunktionärin, von denen diese Bürger sagen würden: Ja, der ist so wie ich. … Die milieumäßige Verengung der demokratischen Parteien auf ein, zwei Funktionärstypen ist ein fruchtbarer Humus für Populisten. …

Bestimmte populistische Vorstellungsreihen [fallen] in bestimmten Milieus auf fruchtbareren Boden …, andere in anderen – und [schaukeln] sich gegenseitig [auf]. Das Ergebnis ist ein allgemeines, nebulöses, waberndes populistisches Klima. …

Dieses Wir-gegen-sie-Setting, diese symbolische Ordnung von ‘Wir, die normalen, einfachen Leute’ gegen ‘Die’, die Eliten, die da oben, die Politiker‘ ist das, was eigentlich der populistischen Konstellation Energie zuführt. …

Wer den populistischen Thesen widerspricht, wird nicht als jemand angesehen, der ein Argument vorbringt, sondern als jemand, der ein Tabu aufrechterhalten will. …

Es ist offensichtlich …, dass jüngere Entwicklungen der medialen Öffentlichkeit das Entstehen populistischer Stimmungen und den Aufstieg antietablierter politischer Formationen begünstigen …”

aus: Robert Misik: Ist unsere Politik noch zu retten? Wien: Picus 2013, S.34-39. (siehe auch Misik im Internet (externer Link!)

01/14

03/01/2014 (21:51) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Mitte 1

“Man denkt sich, es gäbe eine politische ‘Mitte‘. … Ganz links sind die mit den linken Auffassungen, ganz rechts die mit den rechten Haltungen und in der Mitte ist eben die Mitte, die in jeder Hinsicht gemäßigt ist. …

Die Parteien links der Mitte nehmen an, die Linken, ‘die haben wir ohnehin’, und die Menschen mit den rechten Auffassungen werden ohnehin die Parteien rechts der Mitte wählen. Aber beide Gruppen reichen nicht für eine Mehrheit. Eine Mehrheit wird der erkämpfen, dem es gelingt, die Mitte, uns mag sie noch so klein sein, auf seine Seite zu ziehen. …
Diese Vorstellung kann … im Endeffekt dazu führen, dass eine große politische Partei, die eine erhebliche Anhängerschaft hat, ihre Politik nicht auf diese Anhängerschaft ausrichtet, sondern auf eine ziemlich kleine Gruppe an Leuten, die sie als ‘die Mitte’ definiert – und die nicht zu ihrer Anhängerschaft zählt. …

Was ist daran falsch?

[1.] … Wenn man versucht, einer bestimmten Gruppe der Bürger und Bürgerinnen einfach nach dem Mund zu reden, dann merkt man das irgendwann. … Man wird dann damit mehr Leute abschrecken als man dadurch gewinnt.

[2.] … Man demotiviert und frustriert damit die eigene Anhängerschaft. …

[3.] … Diese Mitte, die zu alle Fragen moderate Auffassungen hat, und die auch noch starr und stabil ist, die gibt es gar nicht. … Die angebliche ‘Mitte’ besteht … zu einem erheblichen Teil aus Leuten, die eher so etwas wie ‘Doppelsinnige’ sind: progressiv in dieser, konservativ oder reaktionär in einer anderen Hinsicht. … Die gewinnt man aber, beispielsweise als Progressiver … indem man sie mit einer progressiven Haltung anspricht – in jenen Fragen, in denen sie progressiv ‘ticken’.

[4.] Von all dem abgesehen gibt es ja außerdem auch eine ganze Reihe von Fragen, bei denen es keinen vernünftigen Mittelweg gibt …: Entweder ist man der Auffassung, dass ein ordentlicher Wohlfahrtsstaat nützliche Auswirkungen hat, dann wird man ihn unterstützen, oder man meint, er sei schädlich, dann ist man für seinen Rückbau. Aber eine ‘moderate’ Haltung gibt es in diesem Sinn nicht. …

[5.] Letztendlich ist diese Vorstellung einer ‘politischen Mitte’ auch deshalb fragwürdig, weil eine Gesellschaft ein dynamisches System ist. Ein Meinungsklima kann sich ändern…: Erfolg werde ich … haben, wenn ich ‘die Mitte’ in die eine oder andere Richtung verschiebe…”

aus: Robert Misik: Ist unsere Politik noch zu retten? Wien: Picus 2013, S.55-58.

01/14

03/01/2014 (19:19) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Vernunftwesen 1

“Es ist dumm, ein Wort der Vernunft zu sprechen, wenn die Stunde der Vernunft nicht da ist. Heute Manifeste zu schreiben, Resolutionen für den Frieden zu fabrizieren, nichts Zweckloseres gibt es, nichts Belangloseres. Und wenn die internationale Sozialdemokratie jetzt phrasenvoll die ‘Schmach des Krieges brandmarkt’, wo die Genossen sich vielleicht schon zum Marschieren rüsten, sollte man die Führer auslachen oder auspeitschen. Denn allein die Pflichtvergessenheit armseliger Mandatsschacherer ist schuld, daß die Völker Europas noch heute (wie vor 50 Jahren) vor der Möglichkeit eines Weltbrandes zu bangen haben. Wäre die bombastisch quasselnde Viermillionenpartei nicht jahrzehntelang nationalistisch gedrillt worden, wir könnten heute jedes Kriegsgeheul heiter hinnehmen.

… Möglich, daß die Gefahr, zu neun Zehntel durch gewissenlose Preßpiraten genährt, noch diesmal vorübergeht. Wenn diese Zeilen im Druck erscheinen (ich schreibe sie den 27. Juli im extrablattlosen Ilsenburg), ist das große Massenmorden vielleicht schon wieder vertagt worden. Wir werden dennoch keinen Anlaß zum Jubel haben: das Bewußtsein bleibt: es kann jede Minute eine neue Gefahr kommen, der Chauvinismus ist die ständige Lebensgefahr der Menschheit. Er, allein er, kann über Nacht aus Millionen Vernunftwesen Besessene machen: dieser Gedanke muß uns wachhalten, auch wenn die Gefahr sich schnarchend stellt.”

aus: Franz Pfemfert: Die Besessenen. (erschienen 1. August 1914). In: Paul Raabe (Hg.): Ich schneide die Zeit aus. Expressionismus und Politik in Franz Pfemferts “Aktion”, München: dtv 1964, S.191.

Abb.: Eigenes Foto, 2024, Science Shop Freiburg, im Internet.

10/13

04/10/2013 (0:35) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Öffentlichkeit

“… Darum: wir sind zu hoffnungshungrig. Wir überschätzen die Agitationswerte des gedruckten Wortes, das nicht Parteiphrase ist. Da hat Heinrich Mann ein radikales, mutiges, funkelndes Manifest ‘Geist und Tat‘ ins Land geschleudert. Wir atmen tief auf: dieses unerhörte Ereignis, ‘der Einbruch der Literatur in die Politik’ muß, hoffen wir, die Geister Deutschlands aufpeitschen. Die Zeitungen werden ihrer Informationspflicht genügen müssen und ihren Lesern diesen Aufsatz übermitteln, werden (einer der Größten unter den lebenden Dichtern hatte gesprochen!) diese Tatsache nicht totschweigen können. Sie konnten es. Heinrich Manns Worte verhallten wirkungslos, da unser Blätterwald nur echot, was der Parteischablone gleicht.

Das ist so trostlos, so unsagbar trostlos; und es ist so niederdrückend erbärmlich. Unsere Presse hat längst aufgehört, eine Macht zu sein. Sie ist eine Gewalt, eine Gewalttätigkeit.

… Unsere Wirkung beschränkt sich auf einen kleinen Kreis; mögen es auch einige Zehntausend sein: die Parteipapiere beherrschen das Land …”

aus: Franz Pfempert: Die Presse. (10.04.1912). In: Paul Raabe (Hg.): Ich schneide die Zeit aus. Expressionismus und Politik in Franz Pfemferts “Aktion”, München: dtv 1964, S.61.

Abb.: Francis Alijs: Camgun #84, 2008, EMST Athen.

09/13

30/09/2013 (8:52) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Entwicklung 1

“Es ist zu fragen: Wir kann ein Mann unseres Verstandes den Entwicklungsschwindel stützen? (Man antwortet sich selbst: aus Güte versickernd in geduldetes Mißverständnis!)

Aber wo ist die berühmte ‘Entwicklung’ und – wo nicht?

Entwicklung – Jargon des 19. Jahrhunderts; gleich = Steigerung von Fähigkeiten aus einer Summierung von Mengen. (Qualitäten aus Quantitäten. Die Nuance als Stufe.) Wirkt re vera nur bei dem, was man, physikalisch gesprochen, ‘Masse’ nennt. Also in der Zivilisation. Alles Technische steht unter der Entwicklung; die beliebten Fabrikschornsteine, in den netten Beleuchtungen populärer Maler die Eisenbahnen (‘das gewaltige Schienennetz’), die Telephone, die Rekorde der Titanics, die Drahtlosikeiten, Seifen, Setzmaschinen, Kunstweine, die Gummiartikel, Photographien, Polizeiverwaltungen, die Kanonen, Luftschiffe, Konservenfabriken, Füllfederhalter. Mittagsblätter, die Anweisungen zu hypnotisieren, die gut imitierten Teppiche, Akkumulatoren, Gartentische, Gipsabdrücke, Rotationsdruck, Volksheere, Harrod, Duval, Aschinger und Sir Thomas Lipton – alle können sich entwickeln. Oder ist das ein ungenaues Wort? Etwa so: alle können sich verfeinern und vermannigfältigen; fortschreiten – Atome umlagern unter Druck und Widerdruck. Nur kann sich nicht entwickeln, was die Entwicklung macht; der – entschuldigen Sie – Geist. …

Zwischen der Idee, nun, des Luftschiffes und der Idee des Aeroplans gibt es weder eine Entwicklung noch einen Fortschritt. Sie sind ganz unabhängig voneinander. Ideen sind immer da, und immer neu. Und jede Idee ist eine Kathastrophe, wie jeder neue Mensch, den man kennen lernt.”

aus: Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik II. (05.06.1912). In: Paul Raabe (Hg.): Ich schneide die Zeit aus. Expressionismus und Politik in Franz Pfemferts “Aktion”, München: dtv 1964, S.70/71.

09/13

29/09/2013 (1:44) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Fortschritt 3

“Die Geschichte ist lächerlich. Wer in Deutschland die Öffentlichkeit besteigt, wird ‘fortschrittlich‘. Er fühlt nicht mehr die Verpflichtung zu helfen, sondern hat die Unverschämtheit erziehen zu wollen. Hier sagt, in der Öffentlichkeit politischer Läufte, kein Mensch mehr, wie er sich Dinge denkt, sondern wie er … wünscht … daß man verstehen soll … wohin eine Vorbereitung zielt … die bewirkt … daß man einmal verstehen wird … was er jetzt verschwiegen hat. Fortschritt.”

aus: Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik (22.05.1912). In: Paul Raabe (Hg.): Ich schneide die Zeit aus. Expressionismus und Politik in Franz Pfemferts “Aktion”, München: dtv 1964, S. 69.

09/13

29/09/2013 (1:11) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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