MALTE WOYDT

HOME:    PRIVATHOME:    LESE- UND NOTIZBUCH

ANGE
BOTE
BEL
GIEN
ÜBER
MICH
FRA
GEN
LESE
BUCH
GALE
RIE
PAM
PHLETE
SCHAER
BEEK
GENEA
LOGIE

Trost

“Fand ich mich dumm und häßlich: die Herzogin in Alice im Wunderland war dümmer und häßlicher als ich; war ich todunglücklich verliebt: Anna Karenina und Emma Bovary waren allemal unglücklicher als ich; und fühlte ich mich schlecht, weil ich in einem Laden einen Lippenstift geklaut hatte, wußte ich: Raskolnikoff war schlechter, der hatte nur mal eben so gemordet, weil es sich gerade ergab. Kam mir zu Hause alles eng und klein vor und ich sehnte mich nach Schönheit, dann saß ich mit Mick aus Das Herz ist ein einsamer Jäger von Carson McCulles unter den Fenstern reicher Leute und hörte Mozart. Und wenn ich gar keinen Sinn mehr im Leben sah, dachte ich an Niels Lyhne, der alles falsch gemacht hatte und wenigstens stehend sterben wollte – eine bedenkenswerte Möglichkeit zum Heldentum noch ganz am Schluß. … Wie kommen Nichtleser überhaupt lebend über die Runden?”

aus: Elke Heidenreich: Wer nicht liest ist doof. In: Kursbuch 133, 1998, S.4.

Abb.: Tom Gauld: Monopoly for book lovers, The Guardian online, 26.11.22, im Internet.

12/10

26/12/2010 (1:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Machocultuur

“Daar liepen we dan, honderden leerlingen van Antwerpens monsterschool, allemaal blank en tegen racisme, scanderend van “Vlaams Blok, rot op!” en “Nie wieder Faschismus!” Gezellig. In de buurt liepen Marokkaanse jongeren van onze leeftijd. Het was de eerste keer dat ik ze van zo dichtbij zag.

Nou, dat was schrikken. Energiek dat ze waren! Ze renden door de rangen von de betoging en deden aan schaduwboksen, nepworstelen en schijnkarate. En ze liepen in zulke grote groepen! Ik had een of twee vrienden bij me, met wie ik rustig praatte en af en toe slogans riep. Zij waren met zijn twintigen, dertigen tegelijk, allemaal jongens (waar waren de meisjes?), en het leek alsof ze elk moment echt konden gaan vechten.

Wij waren blanke jongen uit de middenklasse. Wij hadden ouders die opgegroeid waren in de jaren zestig. Wij hadden niet geleerd om te gaan met die cultuur van mannelijkheid, fysieke kracht en opzichtige seksualiteit. Wij hadden geleerd dat mannelijkheid iets was waar je zeer mondjesmaat mee omsprong, iets dat leidde tot oorlog, moord en verkrachting. Onbewust minachten we het luidruchtige van de Marokkanen, hun brallerige haantjesgedrag.

Ik had het echt moeilijk, die dag. Ik was zestien en voorzitter van het zelf opgerichte Anti-Macho-Comité. Ik was schrijver van de brochure “De Macho. Herkenen en Ontwijken”. Ik had ze gekopieerd in vijftig exemplaren en op school uitgedeeld. (Oké, ik was raar.) En hier liep ik, op een betoging ter verdediging van macho’s!”

aus: Tom Naegels: Los. Antwerpen/Amsterdam: Meulenhoff/Manteau, 2005, S.78/79

04/10

19/12/2010 (12:03) Schlagworte: Lesebuch,NL ::

Antiquariatsbesucher

“Unsereiner fragt nicht in den Antiquariaten, was zu finden ist, unsereins findet – oder eben nicht. Gespräche mit den Menschen schon, aber nicht gleich und schon gar nicht über das, wonach man Ausschau hält. Hier sind wir Konkurrenten. Der eine möglichst einen guten Preis erzielen, der andere seine Trouvaille machen, und wenn überhaupt, dann verrät man seine Freude erst nach dem Kauf. Ansonsten gilt es, Ruhe zu bewahren, sich die Zeit zu geben. um ohne Hast die Regale so zu durchstöbern, zum wiederholtenmal die Raffinessen der Impressionsvermerke zu überprüfen und, in den überwiegenden Fällen, die zweite, dritte oder wievielte Ausgabe auch immer ins Regal zurückzustellen und den Glauben zu bewahren, daß die Originalausgabe sich schon noch finden läßt und dann zu einem Preis, der einem das Gefühl gibt, der Sieger dieses verschwiegenen Wettkampfes zu sein. Weil man sich in diesem bestimmten Segment der Literatur eben besser auskannte oder weil auch dem Antiquar einmal bei den Preisauszeichnungen die Zeilen des Impressums vor den Augen verschwammen. …

Es ist kein Diebstahl, gelegentlich mehr zu wissen als der Verkäufer, es ist immer ein Spiel. Der Antiquar kauft in “Losen” und bietet einen Preis fürs Ganze, er kauft bei jenem, der’s wieder loswerden will. Es ist seine Profession, die Ware zu kennen und einen angemessenen Preis festzusetzen. Es ist die Obsession des Sammlers, seiner Sucht die notwendige Würze zu geben. Bei alten Büchern gilt wie bei allem, was man sammeln kann: Dem einen ist das Objekt mehr wert als dem anderen. Parbleu! Hélas!

…. Mit einer vollen Plastiktüte verlasse ich den Laden. Jetzt steht mir der Schweiß auf der Stirn, ein Plätzchen im Schatten und die Gitane in den Mundwinkeln – durchatmen, mein Lieber! Zeit zum Freuen, ohne Häme und ganz für mich. Jeden der braunen Bände nacheinander in die Hände genommen, geblättert, gelesen. Und irgendwann wieder zurück in die Realität … und trotz des Fundes noch immer skeptisch auf dem Weg zum nächsten Antiquariat. …

Viele Besucher. Man steht sich im Weg beim Suchen und hört die Gespräche der anderen zwangsläufig mit, erkennt jedoch schnell genug, daß es keiner Spionage bedarf, denn sie suchen anderes. …”

aus: Veit Heinichen: Schätze im Olivenberg, Süddeutsche Zeitung, 16./17.9.1995, S.III

09/95

18/12/2010 (17:15) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Bibliotheken

“Modell einer schlechten Bibliothek in 19 Punkten …

1) Die Kataloge müssen so weit wie möglich aufgeteilt werden: man verwende größte Sorgfalt darauf, den Katalog der Bücher von dem der Zeitschriften zu trennen und den der Zeitschriften vom Schlagwort- oder Sachkatalog, desgleichen den Katalog der neuerworbenen Bücher von dem der älteren Bestände. Nach Möglichkeit sollte die Orthographie in den beiden Bücherkatalogen (Neuerwerbungen und alter Bestand) verschieden sein: beispielsweise Begriffe wie “Code” in dem einen mit C in dem anderen mit K oder Eigennamen wie Tschaikowsky bei Neuerwerbungen mit einem Č, bei den anderen mal mit Ch, mal mit Tch.

2) Die Schlagworte müssen vom Bibliothekar bestimmt werden. Die Bücher dürfen … im Impressum keinen Hinweis auf die Schlagworte tragen, unter denen sie aufgeführt werden sollen.

3) Die Signaturen müssen so beschaffen sein, daß man sie nicht korrekt abschreiben kann, nach Möglichkeit so viele Ziffern und Buchstaben, daß man beim Ausfüllen des Bestellzettels nie genug Platz für die letzte Chiffre hat und sie für unwichtig hält; so daß dann der Schalterbeamte den Zettel als unvollständig ausgefüllt zurückgeben kann.

4) Die Zeit zwischen Bestellung und Aushändigung eines Buches muß sehr lang sein.

5) Es darf immer nur ein Buch auf einmal ausgehändigt werden.

6) Die ausgehändigten Bücher dürfen, da mit Leihschein bestellt, nicht in den Lesesaal mitgenommen werden, so daß man sein Leben in zwei Teile aufspalten muß, einen für die Lektüre zu Hause und einen für die Konsultation im Lesesaal. Die Bibliothek muss das kreuzweise Lesen mehrerer Bücher erschweren, da es zum Schielen führt.

7) Es sollte möglichst überhaupt keine Fotokopierer geben; falls doch einer da ist, muß der Zugang weit und beschwerlich sein, der Preis für eine Kopie muß höher sein als im nächsten Papiergeschäft und die Zahl der Kopien begrenzt auf höchstens zwei bis drei Seiten.

8) Der Bibliothekar muss den Leser als einen Feind betrachten, als Nichtstuer (andernfalls wäre er bei der Arbeit) und als potentiellen Dieb.

9) Fast das ganze Personal muß an irgendwelchen körperlichen Gebrechen leiden. … Gewisse Tätigkeiten in einer Bibliothek … [wie] das Klettern auf Leitern, das Tragen schwerer Lasten etc. [müssen ihm unmöglich sein] …

10) Die Auskunft muß unerreichbar sein.

11) Das Ausleihverfahren muß abschreckend sein.

12) Die Fernleihe sollte unmöglich sein oder jedenfalls Monate dauern; am besten, man sorgt dafür, daß der Benutzer gar nicht erst erfahren kann, was es in anderen Bibliotheken gibt.

13) Infolge all dessen muß Diebstahl möglichst leichtgemacht werden.

14) Die Öffnungszeiten müssen genau mit den Arbeitszeiten zusammenfallen, also vorsorglich mit den Gewerkschaften abgestimmt werden: totale Schließung an allen Samstagen, Sonntagen, abends und während der Mittagspausen. Der größte Feind jeder Bibliothek ist der Werkstudent, ihr bester Freund einer … der seine eigene Bibliothek besitzt, also keine öffentliche aufsuchen muß und dieser die seine bei seinem Ableben hinterläßt.

15) Es muß unmöglich sein, sich innerhalb der Bibliothek irgendwie leiblich zu stärken, und es muß auch unmöglich sein, sich außerhalb der Bibliothek zu stärken, ohne zuvor alle ausgeliehenen Bücher zurückgegeben zu haben, um sie dann nach der Kaffeepause erneut zu bestellen.

16) Es muß unmöglich sein, das einmal ausgeliehene Buch am nächsten Tag wiederzufinden.

17) Es muß unmöglich sein zu erfahren, wer das fehlende Buch ausgeliehen hat.

18) Es darf möglichst keine Toiletten geben.

19) Ideal wäre schließlich, wenn der Benutzer die Bibliothek gar nicht erst betreten könnte; betritt er sie aber doch, stur und pedantisch auf einem Recht beharrend, das ihm aufgrund der Prinzipien von 1789 konzediert worden ist, aber noch nicht Eingang ins kollektive Bewußtsein gefunden hat, so darf er auf keinen Fall, nie und nimmer, außer bei seinen kurzen Besuchen im Lesesaal, Zugang zu den Bücherregalen selbst haben.

aus: Umberto Eco: Die Bibliothek. München, Wien: Hanser 1987, S.15-19

Abb.: Hubertus Gojowczyk: Tür zur Bibliothek, Documenta6, Kassel, 1977, im Internet.

12/10

18/12/2010 (14:57) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Literaturwissenschaft

“Jaja, ich habe auch all das kluge Zeug gelernt – daß der Mensch der Aufklärung durch Literatur erzogen wurde, daß die Literatur der Romantik auf die Nachtseiten, auf das Unkodierte hinweist; daß die realistische Literatur die Komplexität unseres Daseins abbildet; daß die Moderne so modern ist, daß es nichts geben darf, was es woanders schon gegeben hat; daß die Dekonstruktion so lange die inneren Widersprüche eines Textes (!) sucht, bis sich die Lektüre gegen die Struktur des Textes selbst richtet, und spätestens da macht nun alles keinen Spaß mehr. Aber dann greifen wir eben einfach zu Tolstois Krieg und Frieden und lesen den ersten Satz: ‘Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich.’ Und vergessen ist die Literaturtheorie.”

aus: Elke Heidenreich: Wer nicht liest, ist doof! In: Kursbuch 133, 1998, S.1-7

12/10

12/12/2010 (0:01) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Nichtleser

“Wer nicht liest ist doof. … Die Lust an der Literatur ist auch die Lust am Leben. Die Kunst zu lesen, in ein Buch hineinzufallen, darin zu versinken, kaum noch auftauchen zu können, ist ein Stück Lebenskunst. Das setzt natürlich den Willen voraus, sich auf Geschichten einzulassen, sich aktiv ins Buch hinein zu begeben, sich bewußt von den Reizen und Zerstreuungen anderer Medien abzuwenden. Dann kann es eine wunderbare ewige Liebesgeschichte werden – die zwischen einem Buch und einem leidenschaftlichen Leser. Und sind die nicht blöde, die der Liebe ausweichen, wenn sie uns begegnet? …

Und doch, es ist tatsächlich so: nicht jeder kann lesen. Man muß für das Lesen eine Begabung haben wie für das Malen und das Klavierspielen – sonst wird nichts Rechtes daraus. Es gibt Menschen, die macht die stille Konfrontation mit dem Buch kribbelig. … Wir können diese Menschen ein wenig bedauern, wir möchten auch nicht unbedingt lange Abende mit ihnen verbringen, wir müssen sie aber nicht verachten. Verachtenswert hingegen sind die Bildungskoketteure, die in ihrer Kindheit gelesen haben und jetzt seufzen: ‘Ach, wie ich Sie beneide, weil Sie soviel lesen! Das möchte ich auch, aber ich komm einfach nicht mehr dazu.’ Und auf die, nur auf die, trifft die Behauptung zu, daß, wer nicht (mehr) liest), auch irgendwie doof ist – deshalb heißt es hier: rote Karte, Platzverweis, Liebesentzug. Sie kommen, Verehrsteste(r), zum Friseurbesuch, zum Stadtbummel, zum Autowaschen, Sie strampeln für Ihre Karriere, Sie verbringen lange Abende über Hirschragout an Preiselbeerschaum oder mit der Bohrmaschine im Bastelkeller, Sie trainieren sich fit und sitzen vorm Fernseher, um das Literarische Quartett zu ertragen, und dann kaufen Sie die dort wie auch immer ‘besprochenen‘ Bücher, stapeln sie auf dem Nachttisch, aber zum Lesen kommen Sie nicht? Wer es braucht, tut’s auch, so einfach ist das. Wer es nicht braucht, tut‘s nicht und ist und bleibt – naja: ziemlich doof!”

aus: Elke Heidenreich: Wer nicht liest ist doof. In: Kursbuch 133, 1998, S.1-8.

Abb.: Su Blackwell: Treasure Island, 2013, im Internet.

12/10

11/12/2010 (23:53) Schlagworte: DE,Lesebuch ::