MALTE WOYDT

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Gelassenheit

“Man [kann] die Ordnung der Welt nicht zum Guten verändern …, ohne sich selbst verändern zu müssen. Das Überwinden ist nur fruchtbar, wenn es mit Selbstüberwindung verbunden ist.

Der Friede in mir ist eng mit dem Frieden in der Welt verbunden. Auch er ist Forderung. Es ist schwer ihr zu folgen, weil sie zugleich Zufriedenheit und Nichtzufriedensein verlangt. Zufriedensein: ein Element des Friedens. Sich nicht zufriedengeben: unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung des Friedens. …

Zum inneren Frieden, zur Gelassenheit und zur Freude, die nötig sind, um tatkräftig zu sein, gehören sowohl der beglückte Blick auf die weißen Segel, die in der Hamburger Abendsonne die blaue Alster mit dem blauen Himmel verbinden, wie der Blick nach innen, bei dem die Zeit stillsteht und die Umwelt verschwindet.”

Alfred Grosser: Die Doppelnatur des Friedens. Laudatio für Marion Gräfin Dönhoff bei der Verleihung des Friedenspreises des Börsenvereins des deutschen Buchhandels in der Paulskirche, Frankfurt(Main), 17.10.1971. In: ders.: Wider den Strom, München: Hanser 1975, S.32

Abb.: Max Liebermann: Alster, 1910, im Internet.

08/10/2007 (11:08) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Gegenwart 1

“Vor allem müssen wir deutlich erkennen, daß die Form der Erscheinung des Willens, also die Form des Lebens oder der Realität, eigentlich nur die Gegenwart ist, nicht Zukunft noch Vergangenheit; diese sind nur im Begriff, sind nur im Zusammenhange der Erkenntnis da, sofern sie dem Satz zum Grunde folgt. In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt und in der Gegenwart wird nie einer leben, sondern die Gegenwart allein ist die Form alles Lebens, ist aber auch kein sicherer Besitz, der ihm nie entrissen werden kann. …

Unsere eigene Vergangenheit, auch die nächste und der gestrige Tag, ist nur noch ein nichtiger Traum der Phantasie, und dasselbe ist die Vergangenheit aller jener Millionen. … reale Objekte giebt es aber nur in der Gegenwart: Vergangenheit und Zukunft enthalten bloße Begriffe und Phantasmen, daher ist die Gegenwart die wesentliche Form der Erscheinung des Willens und von dieser unzertrennlich. …

Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise vergleichen: die stets sinkende Hälfte wäre Vergangenheit, die stets steigende die Zukunft; oben aber der unteilbare Punkt, der die Tangente berührt, wäre die ausdehnungslose Gegenwart; wie die Tangente nicht mit fortrollt, so auch nicht die Gegenwart, der Berührungspunkt des Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt, das keine Form hat, weil es nicht zum Erkennbaren gehört, sondern Bedingung alles Erkennbaren ist. …

… und wie dem Willen das Leben, seine eigene Erscheinung, gewiß ist, so ist es auch die Gegenwart, die einzige Form des wirklichen Lebens. Wir haben demnach nicht nach der Vergangenheit vor dem Leben, noch nach der Zukunft nach dem Tode zu forschen, vielmehr haben wir als die einzige Form, in welcher der Wille sich erscheint, die Gegenwart zu erkennen; sie wird ihm nicht entrinnen, aber er ihr wahrlich auch nicht.”

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Halle: Hendel o.J. (1859), I,§54

08/10/2007 (11:07) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

History 1

(DE) (NL)

“[Hegel] … planted in the generations leavened by him that admiration for the ‘Power of History’, which transforms practically every moment into a naked admiration of success and leads to idolatrous worship of the factual. For this service people nowadays commonly repeat the very mythological and, in addition, the truly German expression ‘to carry the bill of facts

But the person who has first learned to stoop down and to bow his head before the ‘Power of History’, finally nods his agreement mechanically, in the Chinese fashion, to that power, whether it is a government or public opinion or a numerical majority, and moves his limbs precisely to the beat of strings plucked by some ‘power’ or other. …

Create in yourselves a picture to which the future is to correspond, and forget the myth that you are epigones. You have enough to plan and to invent when you imagine that future life for yourselves. But in considering history do not ask that she show you the ‘How?’ and the ‘With what?'”

aus: Friedrich Nietzsche: On the Use and Abuse of History for Life (1874). translated by Ian C. Johnston 1998, Volltext im Internet.

08/10/2007 (10:19) Schlagworte: EN,Lesebuch ::

Geschichte 1

(EN) (NL)

“[Hegel] hat … in die von ihm durchsäuerten Generationen jene Bewunderung vor der ‘Macht der Geschichte’ gepflanzt, die praktisch alle Augenblicke in nackte Bewunderung des Erfolges umschlägt und zum Götzendienste des Tatsächlichen führt: für welchen Dienst man sich jetzt die sehr mythologische und außerdem recht gut deutsche Wendung ‘den Tatsachen Rechnung tragen’ allgemein eingeübt hat.

Wer aber erst gelernt hat, vor der ‘Macht der Geschichte‘ den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaft-mechanisch sein ‘Ja’ zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlen-Majorität, und bewegt seine Glieder genau in dem Takte, in dem irgendeine ‘Macht’ am Faden zieht.”

“Formt in Euch ein Bild, dem die Zukunft entsprechen soll, und vergeßt den Aberglauben, Epigonen zu sein. Ihr habt genug zu ersinnen und zu erfinden, indem ihr auf jenes zukünftige Leben sinnt; aber fragt nicht bei der Geschichte an, daß sie euch das Wie? das Womit? zeige.”

Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie. (1874) In: ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen. München Goldmann 1992, S.127,115

08/10/2007 (10:19) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Fundamentalismus 1

“Die Moderne bietet dem, der seiner gewiß ist und die gebotenen Chancen zu nutzen vermag, Voraussetzungen und Spielraum wie keine Epoche zuvor. Sie kann aber dem, der nach Halt, Geborgenheit, Orientierung oder Tröstung fragt, nach einer verwirrenden Fülle hinhaltender Zwischenbescheide am Ende nichts anderes bieten, als stets die Rückverweisung auf ihn selbst. … Sie setzt für die Entfaltung ihrer Möglichkeiten eben jene Ich-Stärke, Orientierungssicherheit und Selbstgewißheit voraus, deren zuverlässige und breitenwirksame Ausbildung sie ohne Absicht fortwährend untergräbt.

Die Widersprüche zwischen den Verheißungen, die ihr geschichtliches Programm enthält, und den Zumutungen, die sie dem Einzelnen aufbürdet, leisten der verzweifelten Regression in Gewißheiten und Tröstungen Vorschub, für die Vernunft keine Gründe nennen kann. Die Versuchung zum fundamentalistischen Rückfall ist die andere Seite im Janusgesicht der Moderne. …

Fundamentalismus ist [die Flucht] … in die Sicherheit und Geschlossenheit selbsterkorener absoluter Fundamente. Vor ihnen soll dann wieder alles Fragen halt machen, damit sie absoluten Halt geben können, genauso wie vor ihnen wieder alles andere relativ werden soll, damit sie der Relativierung entzogen bleiben. Die Argumente, Zweifel, Interessen und Rechte desjenigen, der sich nicht auf ihren Boden stellt, sollen nicht mehr berücksichtigt werden. …

Kultureller Fundamentalismus ist die Flucht des einzelnen aus dem selbstverantworteten Lebensentwurf in die Hörigkeit geschlossener Kollektive. Intellektueller Fundamentalismus ist die Flucht aus dem offenen, unabschließbaren Diskurs in die unbegründbaren und grundlosen Geheimnisse seiner vermeintlichen Fundamente. Politischer Fundamentalismus ist Metapolitik, die aus einer absoluten Mehrheit von oben oder von innen her das Recht beansprucht, den Regeln der Demokratie, des politischen Relativismus, der Unantastbarkeit der Menschenrechte, den Gesetzen der Toleranz, des Pluralismus und der Irrtumsfähigkeit enthoben zu sein. …”

aus: Thomas Meyer: Fundamentalismus. Die andere Dialektik der Aufklärung. In: ders.: Fundamentalismus in der modernen Welt. Die Internationale der Unvernunft, Frankfurt(Main) 1989, S.17-22.

Abb.: Mounir Fatmi: Le paradoxe, 2013, im Internet.

04/92

08/10/2007 (10:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Fünf vor zwölf

“In den Kolumnen der Szene hält sich hartnäckig die Wendung, es sei ‘5 vor zwölf’. Winfried Kretschmann, ein Grüner von der diesseitigen Sorte, ist der Ansicht, es sei eher erst ’12 vor fünf’. Ich neige zu der Auffassung, daß es ‘5 nach zehn’ ist. Aber vielleicht hat nur Joe die richtige Antwort gegeben, als er auf Sinatras Frage, wie spät es sei, antwortete: ‘Soviel du willst, Frank’.

Evolutionstheorie lehrt: exponentiell wachsende Systeme sind tendenziell instabil. Irgendwann müssen sie selbstregulativ Eigenkontrollen entwickeln, die diesen Wachstumsprozeß stoppen, andernfalls sind sie dem Untergang geweiht. Die Bevölkerung unserer Erde ist solch ein exponentiell wachsendes System. Wir kennen nur das Problem, aber nicht den Zeitpunkt, wann wir es lösen müssen.”

“Ein globales Ökosystem wie die Erde sollte man sich nicht als ein System vorstellen, dessen Subsysteme wie Bevölkerung, Rohstoffe usw. jeweils einen numerisch exakt prognostizierbaren Wert aufweisen, ab dem der Umschlag in die Instabilität beginnt. … [Der Schwellenwert] kann immer erst im nachhinein ermittelt werden.”

Jochen Reiche: Ökologie und Zivilisation. Der Mythos von den natürlichen Kreisläufen” In: “Die Linke neu denken”. Berlin: Wagenbach 1985, S.58/61.

08/10/2007 (10:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Friedensbewegung

“Hört ein Bürger unseres Staates das Wort ‘Frieden’, beginnt er zu gähnen. … Die Friedensbewegung wird [hier] präsentiert als ein Ausdruck der Tatsache, daß die Menschen im Westen den Kommunismus sowjetischer Prägung gar nicht mehr erwarten können. …

Die westliche Friedensbewegung hat realen Einfluß auf das Handeln der Parlamente und Regierungen. Und riskiert kein Gefänginis. Hier riskiert man Gefängnis. Und der Einfluß auf die Entscheidungen der Regierung ist – jedenfalls in diesem Punkt – gleich Null. … [Der Osteuropäer] kann es noch nicht einmal erreichen, daß er mit Rücksicht auf die Zähne und Seelen der Kinder von Nord- nach Südböhmen umziehen darf; wie sollte er da so eine Sache beeinflussen können wie Sternenkriege zwischen zwei Supermächten! …

Zu den Gefahren, für die der hiesige Geist eine besonders empfindliche Nase hat, gehört auch … die Gefahr daß die lebendige Idee als Werk und Zeichen sinnvollen Menschseins zur Utopie als technischer Anleitung zur Vergewaltigung des Lebens und Vertiefung seines Schmerzes versteinert. … Wer beunruhigt uns hier mit einer Utopie? Welche nächsten Katastrophen werden uns hier – in bester Absicht – wieder vorbereitet? …

Wir fühlen hier irgendwie stärker …, daß der, der sich zu ernst nimmt, bald lächerlich wird, und wer ständig über sich selbst lachen kann, nicht wirklich lächerlich sein kann. … Das hiesige Mißtrauen gegenüber jedem Empathismus und jedem Engagement, das nicht der Distanz zu sich selber fähig ist, hat wohl auch Einfluß auf jene Zurückhaltung, die ich hier zu analysieren versuche. …

Es gibt selbstverständlich auch weitere Gründe für die Zurückhaltung … Die Tschechoslowaken haben zu gut am eigenen Schicksal erfahren … wohin eine Politik des Appeasement führen kann. … Die Grunderfahrung, daß es nicht möglich ist, schweigend Gewalt zu dulden, in der Hoffnung, daß sie von selbst aufhört, gilt noch immer. …

Für uns ist es einfach schon unverständlich, wie man noch an die Möglichkeit der Abrüstung glauben kann, die den Menschen umgeht oder sogar mit seiner Versklavung erkauft wird.”

Vaclav Havel: Anatomie einer Zurückhaltung. In: Am Anfang war das Wort. Reinbek: Rowohlt 1990 (geschrieben 1985)

09/92

08/10/2007 (10:17) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Kindness

(DE)

“And yet we do know:
Even hatred of baseness
Contorts the features.
Even wrath against injustice
Makes the voice hoarse. Ah, we
Who wanted to prepare the ground for friendship
Were ourselves unable to be friendly.”

out of: Bertolt Brecht: To the Coming Generations. Complete version on the internet under lots of adresses, for example in Berkeley.

Abb.: Sophie Täuber-Arp: Dada-Kopf, 1920, im Internet.

08/10/2007 (10:17) Schlagworte: EN,Lesebuch ::

Freundlichkeit

(EN)

“Dabei wissen wir doch:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.”

aus: Bertolt Brecht: An die Nachgeborenen. Vollständig im Internet unter vielen Adressen, beispielsweise in Berkeley.

Abb.: Sophie Täuber-Arp: Dada-Kopf, 1920, im Internet.

08/10/2007 (10:16) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Emanzipation 1

“Wie es so oft geschieht, wurde die Schlacht eher zufällig gewonnen – ohne gezielten Kampf oder ein Programm. Keine der alten Apostel der Frauenrechtsbewegung hätte einen so verschlafen-benommenen Siegeszug ihrer Ideale erträumt. Der große Zauberer, der diesen Wechsel vollbrachte, war die Inflation. …

Der Krieg zerstörte die konventionelle Sexualmoral … als die Männer aus dem Krieg zurückkehrten; in Berlin und später in allen großen Städten kam … [die Liquidation] in der Form von Kostümbällen an, in denen all das Begehren einer lange unterdrückten Vitalität mit orgiastischer Vehemenz ausbrach. In jenem Winter wurde die alte Moral von Konfettischlangen unter Begleitung von Geigen und Klarinetten erdrosselt. Die neuen Prinzipien waren einfach genug: wir wollen leben, und das Leben ist kurz …

Dann kamen die drei Jahre der Inflation, … sie enteignete die Schicht, die seit einem Jahrhundert der Träger der deutschen Zivilisation gewesen war und ihre ethischen Normen zu Gesetzen kristallisiert hatte. Vermögen zerbrachen zwischen Morgen und Abend. … Dann marschierte eine neue, erbärmliche Armee von Parvenüs auf diesem Ruin wie in eine eroberte Stadt und zog die Frauen aus den eroberten Häusern wie Marketenderinnen mit sich. Es gab einen nie dagewesenen Ausverkauf der gesammelten Moralvorstellungen eines Jahrhunderts. Gute, stabil verheiratete Frauen, die die Last tragen mußten, ihre Familie am Leben zu halten, verkauften sich für bare Münze, und ihre Ehemänner schauten weg, sofern sie nicht selbst das Management dieses Geschäftes übernahmen. Wohlbehütete Mädchen, in deren Gegenwart niemals ein unziemliches Wort gesprochen worden war, verkauften sich; ihre Eltern schwiegen, sofern sie nicht zu Kupplern wurden. …

Heute hat sich der neue Status etabliert. Frauen sind ein inniger Bestandteil des industriellen Lebens und selbst jene, die es nicht nötig hätten, suchen sich einen Beruf. Das gute, nichtstuende Heimchen, das herumgeführt wurde von der heiligen Allianz der Tanten und Verwandten und auf einen Ehemann nach Wahl ihrer Eltern warten mußte, ist gänzlich verschwunden. Die Zahl der Ehefrauen, die so von ihren Ehemännern abhängig sind, daß sie deren üble Launen aushalten müssen, ist deutlich zurückgegangen. Einen außerordentlich großen Zuwachs gab es bei der Zahl der freien Verbindungen, die ohne große äußerliche Schwierigkeiten gelöst werden können. Der Trend zu erotischer Selbstbestimmung hat bei den Frauen den Sieg davongetragen…”

Carl von Ossietzky, Die Revolte der deutschen Frauen, ursprünglich auf englisch erschienen in The Nation, 7.1.1928. Hier übersetzt durch Dirk Grathoff, in: Carl von Ossietzky Lesebuch, Reinbek: Rowohlt, 1994, S.174/175.

Abb.: Frans Masereel: Die Stadt. 1925.

10/02

08/10/2007 (10:16) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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