MALTE WOYDT

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Islam en schuld

“Vander Taelen haalt een gesprek met zijn ex-partijvoorzitter Meyrem Almaci aan, die hem ‘in een moment van politiek eerlijk dialoog’ eens zei: ‘In mijn Turkse gemeenschap is het besef van schuld en boete ondergeschikt aan eer en schande.’ ‘De islam, de complottheorieën, het misplaatste eergevoel, het steeds weer excuses verzinnen én van ons ook krijgen over hun eigen falen, het begint zo langzamerhand een omvattend wereldbeeld te worden. …’

aus: Christophe Degreef: De grote verwarring van Luckas Vander Taelen, Brussel deze Week 24.3.16, www.brusselnieuws.be 23.3.16.

Abb.: Olaf Metzel: Turkish Delight, 2006, hier in “Der bewohnte Garten”, im Internet.

03/16

05/04/2016 (1:02) Schlagworte: Lesebuch,NL ::

Merkel-Wir

“… Denn wer ist das Wir im Merkel-Satz wie in den Parolen der AfD?

Das Wir bei Merkel ist die Zivilgesellschaft, die mit großem Einsatz den überforderten staatlichen Strukturen hilft. Dieses Wir ist eine Spende der Millionen Helfer an die Staatskasse … Denn hätten alle diese Helfer auch nur den Mindestlohn erhalten, hätte es ein gigantisches Jobprogramm gegeben und eben auch hohe Staatsausgaben bedeutet. Aber die sind, das weiß inzwischen jedes Kind, im Neoliberalismus nicht mehr vorgesehen. Darum ist das ‘Wir schaffen das’ eine besonders perfide Variante der Umverteilung. Die Hilfsbereitschaft wird dafür instrumentalisiert, die falsche Austeritätspolitik voranzubringen.

Denkt man über die ersten Monate der Begrüßungseuphorie hinaus, offenbart die Frage nach dem Wir erst den wahren politischen Gehalt. Denn dann wird aus dem Wir eine klar benennbare Klasse in unserer Gesellschaft: die Geringverdiener und diejenigen, die schon jetzt am unteren Rand leben. Hier entbrennt der Konkurrenzkampf um die weniger qualifizierten Jobs, bezahlbaren Wohnraum und die letzten öffentlichen Orte, an denen man sich ohne Geld aufhalten darf. Der moralische Anspruch kommt endlich dort an, wo er die ganze Zeit hinwollte: bei den Verlierern. Die Kosten der Moral werden an die Ränder verteilt, wo es den Gewinnern nicht wehtut und sie weiterhin im Wohlgefühl ihres eigenen Gutseins leben können. …

Worin besteht nun der politische Schachzug, der es der Regierung Merkel bis jetzt erlaubt, all diese Folgen auszublenden und weiterhin als einzige humanitäre Instanz dazustehen? Die moralische Wertung ist mit der politischen Aufforderung so fest verklebt, dass jede Kritik an den Folgen der Willkommenskultur automatisch unmoralisch wirkt … Wenn es nicht mehr möglich ist, eine andere Meinung als die Kanzlerin zu haben, ohne als rechtsradikal zu gelten, dann wird der eine oder andere eben rechtsradikal. Die Folgen der Alternativlosigkeit, die bisher nur bei den europäischen Nachbarn zu beobachten waren, sind nun auch bei uns angekommen. Das Erstarken radikaler Kräfte aufgrund der Merkelschen Austeritätspolitik schlägt auf Deutschland zurück. …

Wenn man als Akademiker in einer Eigentumswohnung lebt, ist es sehr gratismutig, eine Willkommenskultur zu fordern und die Nase über diejenigen zu rümpfen, die gegen ein Flüchtlingsheim protestieren, das in ihrem Wohngetto gebaut wird. Dass sich hinter der Propaganda der Weltoffenheit auch die Abschaffung aller sozialen Regeln, die den Kapitalismus ein wenig gezähmt haben, verbirgt, kann nur noch um den Preis, als ein Gestriger zu gelten, formuliert werden, oder wie im Falle der Willkommenskultur um den Preis, ein Rechter zu sein. …

In einem politischen System, in dem alle etablierten Parteien, mit Ausnahme der Linkspartei, auf derselben Basis von Ideologie argumentieren, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich eine Gegenkraft bildet, die den Konsens aufkündigt. Dass diese Radikalopposition sich in unserer Gegenwart aus den Quellen von Ressentiment und Populismus speist, zeigt, wie verkümmert das politische Denken und Argumentieren der linken Parteien heute ist. Sie vermochten es schon in der Weltfinanzkrise von 2008 nicht, Alternativen für die Wirtschaft zu formulieren, und sie vermögen es heute nicht, die neoliberale Ideologie der Merkelschen Politik von ihrem moralischen Schleier zu befreien. …”

aus: Bernd Stegemann: Die andere Hälfte der Wahrheit, Zeit Online 3.4.16 [im Internet].

04/16

03/04/2016 (21:38) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

AfD

“Nach REP, DVU und NPD hat sie nun endlich die Form, die Sprache und die Ästhetik gefunden, die einen Maximalkonsens zwischen Ost- und Westrassisten, städtischen und dörflichen, männlichen und weiblichen Rassisten vereint. Zwischen akademischen Rassisten und nicht akademischen. Es ist ein alter schwelender Konflikt. Er wird als dringender empfunden, je mehr die Minderheiten selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft werden. Dieser Konflikt handelt vor allem anderen von Identität. Nicht von bezahlbarem Wohnraum. Wirklich nicht. Obwohl auch Rassisten Rente wollen. …

Was die AfD sexy macht, ist keine sozialpolitische Vision, sondern ihr Menschenhass. …

Völlig selbstverständlich sehen wir abends in der Tagesschau, wie Mitbürger, das, was wir Regierung nennen, Volksverräter nennen. Was wir Bundeskanzlerin nennen, nennen sie Fotze. …

Der erste Schritt, AfD-Wähler ernst zu nehmen, ist zu begreifen: Auch wenn man niemals zuvor in seinem Leben eine rassistische Bemerkung gemacht hat – man tut es, sobald man sein Kreuz bei Rassisten setzt.”

aus: Mely Kiyak: Auch Rassisten wollen Rente, Zeit-Online, 16.3.2016.

Abb.: ruth__lol auf Instagramm, 8.5.25

03/16

18/03/2016 (22:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Decolonization 1

“The colonial state was not about being of service to the colonized. It was about exploitation and extraction of resources. The post-colonial state is exactly the same. … They are building a system of apartheid in which the poor are separated from the rich and the rich are connected to the West, to the metropolis. … Decolonization was a necessary step but not a sufficient one. … I don’t think that we are going through a process of recolonization because we never really went through the process of decolonization. … Globalization has increased the number of buyers and sellers in our countries. Nothing else has changed. …”

aus: Eqbal Ahmad: Confronting Empire. Interviews with David Barsamian. Cambridge, Mass.: South End 2000, S.112/13.

Abb.: Michael Cook: Civilised #6, 2012, im Internet.

03/16

13/03/2016 (2:42) Schlagworte: EN,Lesebuch ::

PLO

“There was a big meeting organized by Arabs living in the United States, soon after the emergence of the Palestinian Liberation Organization (PLO) [in 1967]. … Some Arab students invited me to give the keynote address at this conference… I argued that armed struggle was supremely unsuited to the Palestinian condition, that it was a mistake to put such an emphasis on it. … A successful armed struggle proceeds to out-administer the adversary and not to out-fight him. … This out-administration occurs when you identify the primary contradiction of your adversary and expose that contradiction … to the world at large, and more important, to the people of the adversary country itself.

I argued that Israel‘s fundamental contradiction was that it was founded as a symbol of the suffering of humanity … at the expense of another people who were innocent of guilt. It’s this contradiction that you have to bring out. And you don’t bring it out by armed struggle. In fact, you suppress this contradiction by armed struggle. The Israeli Zionist organizations continue to portray the Jews as victims of Arab violence. …

If I hadn’t gone through the Algerian experience, I wouldn’t have reached this conclusion. After seeing what I saw in Algeria, I couldn’t romanticize armed struggle. … The Algerians lost the war militarily, but won it politically. They were successful in isolating France morally. … When I had finished, there was considerable discomfort on the part of the young Arab students. They were shocked, the expert on guerilla warfare, the man from Algeria, the anti-Vietnam War leader is arguing the exact reverse of what we believe in. …

Obviously, you couldn’t morally isolate the regimes of Hitler or Stalin. A strategy of moral isolation assumes that the adversary has based its own legitimacy on moral grounds. … Between 1967 and now, Israel society has in some ways worsened. Likud [and its coalition partners] … are much less susceptible to moral arguments. [In 1967] centrist Zionism’s primary contradiction was its principles of legitimacy were moral and its practices were immoral. And it is that which had to be fully used. Opportunities were lost in the 1970s, once the PLO had become a quasi-state in Lebanon. …

But if you don’t have a leadership, then what do you do? I have spoken to Arafat about this line in great detail probably five or six times. He always took notes, always promised to do things, always did nothing …

It’s hierarchical, but not Leninist. Once we use the word ‘Leninist’ other images come in, such as discipline, austerity, and genuine sacrifice. The PLO took on the slogan of armed struggle, understanding it merely as the use of arms. They took on the slogan of political organization or parallel hierarchy only to distribute patronage. It’s a traditional political Arab organization … Political bosses stay in control by distributing patronage, using gun-toting as a method for legitimation. Their gun-toting stopped once it stopped serving their purpose. …

In 1975 or 1976, several leaders of the PLO … were in New York for a UN session … the PLO delegation to the U.N. called me and Chomsky and asked if we would come to talk to these leaders. … We talked about the importance of … reaching various wings of American civil society. … There was one man there … who understood and agreed with us. The rest justified their positions. Some gave lectures that were essentially ignorant. … I was beyond depression by that time. I had seen enough. They defeated themselves more than the Israelis did. …

In 1980, I had made a second trip to the south of Lebanon, where PLO forces were concentrated … the PLO posture in Lebanon was much too tempting for an organised army of adversaries. I had written to Arafat saying ‘The way you are organized you will not be able to resist for more than five days.’ …

After the PLO had been driven out of Lebanon, … I argued with him that his single biggest need was to develop a clear-cut position … Announce that you have no problem recognizing the state of Israel. but ask which Israel you are being asked to recognize. Is it the Israel of 1948? … Is it the Israel of Israeli imagination? Because Israel is … the only member of the United Nations, that has refused to announce its boundaries

The violence they were practizing … fundamentally lacked the content of revolutionary violence. … It had no mobilizing content to it. … It was more an expression of a feeling that an expression of a program. … The PLO was not a revolutionary organisation. … [Finally] the PLO went to surrender. The most tragic point about the PLO is that Israel has not accepted its surrender.”

“Israel is a small country, 5.5 million people. The Arabs are many. … Someday, the Arabs will have to organize themselves. Once they have done that, you will see a different history beginning again, and it won’t be a pretty one. In fact, I’m scared of it.”

aus: Eqbal Ahmad: Confronting Empire. Interviews with David Barsamian. Cambridge, Mass.: South End 2000, S.29-35, 98, 57.

Abb.: Pejac in Al-Hussein, a Palestinian refugee camp in Amman, Jordan, StreetArtNews, 21.4.16, im Internet.

03/16

13/03/2016 (2:07) Schlagworte: EN,Lesebuch ::

Terrorism 2

Terrorism should be defined in terms of the illegal use of violence for the purposes of influencing somebody’s behaviour, inflicting punishment, or taking revenge. … It has been practised on a larger scale, globally, both by governments and by private groups. Private groups fall into various categories. The political terrorist is only one category out of many others. …

For every lost by unofficial terrorism, a thousand have been lost by the official variety. … There was a rise of fascist governments in third-world countries, particularly throughout the 1970’s and 1980’s. All these fascist governments – in Indonesia, Zaire, Iran, South Korea, and elsewhere – were fully supported by one or the other of the superpowers. They have committed a huge amount of terrorist violence, the source of which is the state

Regarding the political private terrorists … there is … very little inquiry as to what they are about. If I had to identify a few factors explaining the roots of terrorism, I would say first of all the desire to be heard. … It’s normally undertaken by small helpless groupings that feel powerless. The Vietnamese never committed terror. The Algerians did not commit terror of this kind.

Secondly, terrorism is an expression of anger, of feeling helpless, angry, alone. you feel that you have to hit back. …

Another face is a sense of betrayal, which is connected to that tribal ethic of revenge. … Bin Laden … saw America as a friend; then he sees his country being occupied by the United States and feels betrayed …

Victims of violent abuse often become violent people. The only time when Jews produced terrorists in organised fashion was during and after the Holocaust. …

Finally, the absence of revolutionary ideology has been central to the spread of terror in our time. … The Marxists argued that the true revolutionary does not assassinate. … Social problems require social and political mobilization, and thus wars of independence are to be distinguished from terrorist organizations. The revolutionaries didn’t reject violence, but they rejected terror as a viable tactic of revolution. That revolutionary ideology has gone out of the movement. In the 1980s and 1990s, revolutionary ideology receded, giving in to the globalized individual. I’ve spoken in very general terms, but these are among the many forces that are behind modern terrorism.”

aus: Eqbal Ahmad: Confronting Empire. Interviews with David Barsamian. Cambridge, Mass.: South End 2000, S.95-98.

Abb.: Elisabetta Benassi: Casse-pipe, 2016, im Internet.

03/16

13/03/2016 (0:46) Schlagworte: EN,Lesebuch ::

Jihad 1

“The Soviet Union intervened in Afghanistan. … American operatives went about the Muslim world recruiting for the jihad in Afghanistan, because the U.S. saw it as an opportunity to mobilize the Muslim world against communism. That opportunity was exploited by recruiting mujahideen in Algeria, Sudan, Egypt, Yemen, and Palestine. From everywhere they came. They received training from the CIA. They received arms from the CIA. … the notion of jihad as ‘just struggle’ had not existed in the Muslim world since the tenth century until the United States revived it …”

aus: Eqbal Ahmad: Confronting Empire. Interviews with David Barsamian. Cambridge, Mass.: South End 2000, S.44

Abb.: Hamja Ahsan: Documenta fried chicken, Detail, documenta15, 2022.

 

03/16

13/03/2016 (0:13) Schlagworte: EN,Lesebuch ::

Ich 1

“… Doch ich hatte vergessen, mich auf das Wichtigste vorzubereiten: auf die Studenten. Ich glaubte, sie seien so ähnlich wie ‘wir’. … Ich merkte: Es gab nicht einmal eine brauchbare Hypothese zu den Zweit- und Drittsemestern, die da im Frühjahr 2000 vor mir saßen. Nirgends stand geschrieben, dass sie sich weniger um die Belüftung des politischen Prozesses als um den Flüssigkeitshaushalt ihres Körpers sorgen würden. …

Politisches nehmen die jungen Erwachsenen, die einen erweiterten Politikbegriff einklagen, nur dann wahr, wenn es an ihr Gefühl appelliert und nicht an ihre Pflicht. … Vielleicht fing alles damit an, dass im Wetterbericht … die Meteo-Moderatoren begannen, von gefühlter Temperatur zu faseln. Die nächste Stufe ist das gefühlte Wahlergebnis. …

Diese Altersgruppe will nicht die Macht verstehen, sie will sie auch nicht unbedingt erobern, sie will sich verstanden fühlen. Nur das Persönliche ist politisch. …

Was lässt die Studenten so schonend mit ihren Rederessourcen umgehen? Sicherlich ihr Sinn für Effizienz, aber auch ihre Verletzlichkeit. … Als ich auf der Meinungsseite der ZEIT im Mai 2012 über meine Erfahrungen nach gut zehn Jahren an der Uni geschrieben habe … reagierten auffallend viele studentische Leser nicht argumentativ, sondern schrieben in Mails und Kommentaren ‘Der Text hat mich verletzt‘. Das Lob für den Artikel fiel ähnlich gefühlsbeladen aus. …

Das ‘Ich’ war früher in Zeitungsartikeln tabu … Heute gilt das Ich mit Recht als Voraussetzung dafür, dass ein Artikel überhaupt wahrgenommen wird. … Das Ich betont die Einzigartigkeit und macht doch alle gleich. Jeder ist mit Jedem auf Augenhöhe. … Dass schon vor unserer Zeit kluge Menschen diesen Planeten bevölkert haben, dass Studieren einen davon entlastet, alles aus dem eigenen Selbst zu schöpfen, wirkt wie eine unbrauchbare Botschaft von gestern. Originaltexte stehen im Verdacht, Originalitätsbremsen für die Genies von heute zu sein. … Das Standardwerk zur Regierungslehre, das noch nicht geschrieben ist, müsste heißen: ‘Ich. Und das Regierungssystem der Bundesrepublik‘. …

Die Erwartungen der Studenten sind einerseits pragmatisch-bescheiden, andererseits unerfüllbar groß. Erwartet wird nicht weniger als Anleitung zum sinnvollen Sein. … Sinn und Nutzen sind deckungsgleich geworden, und gerade deshalb klafft eine Bildungslücke. Studenten erwarten, dass Wissen sofort verwertbar ist. …

Ich hatte die Studenten zu Akteuren erklärt, obwohl sie sich als Opfer empfinden. Als unsere Opfer. Sie tun brav das, was wir Dozenten von ihnen erwarten und müssen sich nun auch noch in einem bildungsbürgerlichen Blatt für ihre Anpassungsleistung kritisieren lassen. …

Das Gros der Studenten arbeitet Referate und Hausarbeiten ab wie einen Bestellauftrag des Dozenten. Verve gilt als Relikt unbelehrbarer Revolte-Romantiker. Doch wissenschaftliche Leidenschaft meint nichts anderes als das Ringen um einen eigenen Standpunkt, eine Überzeugung. Das Ziel ist Individualität und nicht Ich-Hätschelei. …

Als Bürger kommen sich junge Erwachsene oft ohnmächtig vor, als Konsumenten fühlen sie sich mächtig. … Junge Erwachsene vertrauen Waren mehr als Ideen. … ‘Wohlstand für alle’ war Ludwig Erhards Slogan, ‘Wohlbefinden für dich’ müsste der aktuelle lauten.”

aus: Christiane Florin: Warum unsere Studenten so angepasst sind. Reinbek: Rowohlt 2014, S. 14-75

02/16

23/02/2016 (12:52) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ökonomismus

“Unter dem Kapitalismus … entsteht ein Menschentyp, für den ein Baum nicht ein Baum, sondern Nutzholz ist. … Auf diese Weise kann man unser Innenleben von den ökonomichen Vorgängen her verstehen. Dies ist jedoch keineswegs die einzige Möglichkeit, unser Denken aus der Zeitgeschichte zu erklären. Unserer Ansicht nach gibt es viele soziale Bewegungen, die gar nichts mit der Wirtschaft zu tun haben.”

aus: Karl Mannheim: Mensch und Gesellschaft in Zeiten des Umbaus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1958 (dieser Teil ursprünglich Leiden 1935), S.22

02/16

22/02/2016 (18:33) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Barbarisierung

“Die übliche Verteidigung der Freiheit, der Demokratie und der Kultur kann man … ideologisch nennen, weil die Diskussion gewöhnlich mit dem Hinweis endet, Freiheit als solche sei besser als Reglementierung, Selbstbestimmung besser als Diktatur und kulturelles Eigenleben besser als Zensur. … Wir halten einen solchen Sieg jedoch für zu billig: Es geht heute nicht darum, ob irgendein theoretischer Begriff von Freiheit besser als irgendein theoretischer Begriff von Reglementierung ist. …

… Wie oft hat man in den letzten paar Jahren die Bemerkung gehört, daß es völlig unverständlich sei, wie sich die Deutschen in so kurzer Zeit so völlig hätten verändern können. … Wer sich jedoch mit den Ursprüngen der nationalsozialistischen Bewegung beschäftigt hat, wird wissen, daß sich einerseits nicht alle Deutschen geändert haben und daß andererseits sogar schon zur Zeit der Weimarer Republik die ersten Anzeichen dieser neuen Weltanschauung und Welterstürmungsphilosophie … in Erscheinung traten. Durch den sozialen Aufstiegsprozeß in einer revolutionären Gesellschaft wurden die vorher verachteten Ideale der inzwischen zur Macht gekommenen Schichten zum Leitbild der gesamten Gemeinschaft. …

… durch die Ereignisse der letzten Jahre … scheinen gleichzeitig zwei Vorurteile zusammengebrochen zu sein: der Glaube an einen unveränderlichen ‘Volkscharakter’ und der Glaube an den ‘allmählichen Fortschritt der Vernunft in der Geschichte.’ …

… Das Furchtbarste an den Ereignissen der letzten Jahre liegt … darin, wie diese Ereignisse jene anderen Gruppen überwältigt haben, von denen man einen Widerstand gegen einen übertriebenen Irrationalismus erwartet hätte und die nun mit einem Schlage den Glauben an die gesellschaftsformende Macht der Vernunft verloren haben. …

… Wenn wir heute manchmal den Eindruck haben, daß die Welt in entscheidenden Augenblicken von Massenpsychosen regiert wird, so liegt das nicht daran, daß früher etwa weniger Unvernunft und Irrationalität in der Welt waren, sondern eher daran, daß diese sich früher in engeren Lebenskreisen und im privaten Bereich auswirken konnten und erst heute durch die allgemeine Aktivierung der industriellen Gesellschaft auch ins öffentliche Leben eindringen und dieses zu Zeiten sogar beherrschen. …

… Solange die Demokratie nur eine Pseudodemokratie war, insofern als sie zunächst nur eine kleine Schicht von Besitzenden und Gebildeten … zur politischen Geltung brachte, wirkte sie in Richtung auf eine Steigerung des rationalen Denkens … Seit es aber zu einer tatsächlichen Demokratie gekommen ist, das heißt, seitdem alle Schichten sich aktiv an ihr beteiligen, schlägt sie immer mehr in das um, was Max Scheler die ‘Stimmungsdemokratie’ genannt hat. Dabei kommen dann in ihr nicht mehr die Interessen der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen, sondern die plötzlichen Stimmungsaufwallungen der Massen zum Ausdruck. …

… In seinem Buch über Die Idee der Staatsraison zeigt Friedrich Meinecke … welche erschütternde moralische Spannung bei vielen Denkern auftrat, als sie entdeckten, daß die christliche und bürgerliche Moral für die zwischenstaatlichen Beziehungen nicht galt. … Im Laufe der Geschichte mehren sich die Autoren, die über diese Antinomie diskutieren, ohne mit ihr fertig zu werden. …

Während es früher in der Gesellschaft sozusagen eine moralische Arbeitsteilung gab, durch die der kleine Mann seine bürgerliche Anständigkeitsmoral bewahren konnte … tritt dieses Problem durch die Demokratisierung allmählich für alle auf. … Die langsame erzieherische Wirkung der Industrialisierung und des sozialen Aufstiegs ist völlig umsonst gewesen, wenn den breiten Massen demonstriert wird, daß die Grundlage der Staatenbildung und ihrer Erhaltung sowie der zwischenstaatlichen Beziehungen im Raub besteht und daß auch durch innerstaatlichen Raub ganze Gesellschaftsgruppen zu Erfolg und sozialem Aufstieg kommen konnten. Wenn die Gewalt einmal zum allgemeinen Grundsatz der gesellschaftlichen Moral wird, vernichtet sie damit fast automatisch die Früchte der Arbeitsethik und der Leistungskonkurrenz. …

Während … ursprünglich Zynismus und Selbstironie sublimierte Formen einer Verlegenheit sind, Ausweichformen einer komplizierter gewordenen Seele, die Nichtverantwortbares doch verantworten will, wird der in die Massen eingedrungen Zynismus zu einer Deckformel für das ungehemmte Ausleben der natürlichen Brutalität. …

.. Durch ihr massenhaftes Emporkommen gewinnt … nun die beschränkte Intelligenz des Durchschnittsmenschen öffentliche Geltung und Gewicht und wird mit einem Schlage sogar zum allgemeinen Vorbild. … Am Ende beginnt man sich der langher erworbenen Kultiviertheit zu schämen und sie als Weiblichkeit und Feigheit zu betrachten. …

… [es gilt dann] als höhere Weisheit, überhaupt keine Aussagen mehr zu machen, die Rationalität in Bezug auf die Zukunft schlechthin zu verachten … blinden Glauben zu verlangen … und gleichzeitig hemmungslos alle verneinenden Formen des Hasses und Ressentiments im eigenen Interesse mobilisieren zu können …

Die [immer vorhandene, aber] verborgene Spannung zwischen Kapital und Arbeit [wird] akut, sobald die versteckte Feindseligkeit der großen Massen durch eine strukturelle Arbeitslosigkeit in Verzweiflung verwandelt wird. … Selbst wenn die unmittelbaren Lebensbedürfnisse durch Arbeitslosenunterstützung befriedigt werden, sind doch die ganze Lebensordnung und die Hoffnungen und Erwartungen der Familien vernichtet. Man braucht sich nur daran zu erinnern, wieviel Triebbegierden in einer kapitalistischen Gesellschaft normalerweise in sozialem Ehrgeiz aufgehen, um zu begreifen, was dies bedeutet. …

… Unter solchen sozialen Umständen werden alte Ideologien entlarvt und wird die Geltung der herrschenden Prinzipien und Werte angezweifelt. … Die Panik erreicht ihren Höhepunkt, wenn sich der Einzelne darüber klar wird, daß es sich nicht nur um eine persönliche Unsicherheit handelt, sondern daß er sie mit ganzen Scharen von Menschen in derselben Lage teilt und daß es keine gesellschaftliche Autorität mehr gibt, die unbestrittene Normen setzen und sein Verhalten bestimmen kann. …

… Das Kennzeichen einer revolutionären Periode [besteht] darin, daß gleichzeitig bei Hunderttausenden von Menschen die ursprünglichen Erwartungen nicht erfüllt werden, daß man auf der Suche nach Ersatzzielen die gleichen Wege geht und nun gemeinsam darüber bestimmt, was wirklich und was unwirklich ist. Wenn viele Menschen der Ansicht sind, daß es besser ist, Kanonen statt Butter zu haben, wird es für den Einzelnen viel leichter, den Übergang vom einen zum anderen Wertsystem zu finden, als wenn er diese Umstellung ganz allein hätte vollziehen müssen. … Wir gehen im Voraus davon aus, daß es zum Krieg kommen wird. … Man weiß nur noch nicht, wer gegen wen kämpft und warum er das tun wird. … Selten war eine Generation so wenig zu kleinen Opfern bereit und stand zugleich so nahe am größten Opfer, ohne überhaupt recht zu wissen, warum.”

aus: Karl Mannheim: Mensch und Gesellschaft in Zeiten des Umbaus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1958 (dieser Teil ursprünglich Leiden 1935), S.10, 27, 28, 45, 46, 52, 53, 83, 84, 85, 121, 112, 113, 131, 132, 151, 155, 157, 160, 171.

Abb.: Wilchar: Ceci n’est pas une matraque, o.J., in: Wilchar Superstar, Ausstellungskatalog Gent 2001, S.125

02/16

22/02/2016 (17:15) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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