MALTE WOYDT

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Innerlichkeit

“‘Macht eine neue Erfindung’ – ruft Rahel aus – ‘die alten sind verbraucht!’ Ich fürchte nur, wir stehen an der Grenze unseres Witzes und sind alle für den Himmel reif, was NB. der schlechteste Zustand auf Erden ist. Unser Leben ist so innerlich geworden; es kann ohne ein Wunder nicht wieder äußerlich werden. Dies stete Bespiegeln und Auskundschaften unsrer selbst: wohin führt es? Nicht einmal zum Irrtum, höchstens zu einer verzweiflungsvollen Ahnung unserer eigenen schauerlichen Unendlichkeit, zu einem Punkt, wo uns das eigne Ich als das furchtbarste Gespenst gegenübertritt. Freilich ist hier Hunger und Sättigung eins, denn wir können keine neue Frage tun, ohne zuvor eine neue Anschauung gewonnen zu haben; aber es heißt doch, die Wahrheit durch die Tortur auspressen und mit dem Saft des Lebens den Baum der Erkenntnis düngen. Es ist etwas ganz, ganz anderes, ob die Welt, der Zufall, das Schicksal dem Menschen die Fragen vorlegt, oder ob er sich selbst fragt. Man kann sich selbst fremd werden, das ist der umgekehrte Wahnsinn und der letzte, d.h. tiefste Abgrund, in den man stürzen kann.”

aus: Friedrich Hebbel: Tagebücher, 1838. In: ders. Werk in zwei Bänden. 2. Bd., München: Hanser 1952, S.396/97.

Abb.: Johan Heartfield: O Tannenbaum, Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, 1934, im Internet.

11/15

12/11/2015 (22:52) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ondernemingszin

“Begrippen als creatief, initiatief, assertief, proactief, het heft in eigen handen nemen, zelfstandig zijn, zelfredzaam zijn, onafhankelijk worden… zijn tegenwoordig ontzettend populair. … Meer dan ooit tevoren dromen mensen ervan om ondernemer te worden; ze willen allemaal ‘voor zichzelf beginnen’. Maar dat gaat niet vanzelf. Als een van mijn cliënten die wens uitspreekt, vraag ik hem om eerst iets heel banaals te proberen. ‘Sluit in de supermarkt aan de kassa aan de langste rij aan en knoop met de persoon voor je een gesprek aan. Hou dat vol tot hij of zij afgerekend heeft.’ Zo goed als niemand ziet dat zitten. ‘Ik wou even testen tot wat je bereid bent, maar als dit al een brug te ver is, zit zelfstandig ondernemen er niet meteen in.'”

aus: Jeffrey Robert Wijnberg: De sleur van het leven is geweldig. Interviewt durch Jan Stevens, De Morgen 2.11.15

11/15

06/11/2015 (11:40) Schlagworte: Lesebuch,NL ::

Erwachsenwerden

“Ich kenne niemanden, mich selbst eingeschlossen, der … [seine Jugendjahre]  wiederholen möchte, die meisten Menschen empfinden das, was danach kommt, als befriedigender.”

“[Als Jugendlicher hat man] so viele Ängste. Man muss sich beweisen, man fürchtet, dass sich Möglichkeiten zerschlagen, von denen gesagt wurde, sie seien endlos. … Man hat noch nicht gelernt, dass man Fehler machen darf. Vor allem weiß man noch nicht, dass die anderen genauso unsicher sind wie man selbst.”

“Weshalb gibt es also in jeder westlichen Kultur, die ich kenne; den völlig unreflektierten Spruch ‘genieße die besten Jahre deines Lebens’. Wir machen diese Zeit für die jungen Leute noch schlimmer, wenn wir ständig betonen, dass ihnen noch viel Härteres bevorsteht. Ich denke, wir wollen junge Menschen so darauf vorbereiten, dass sie wenig vom Leben erwarten und verlangen sollen. Weil es uns nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die unsere Jugend gerne hineinwachsen möchte, idealisieren wir die Phasen der Kindheit und der Jugend.”

“Erwachsensein … [stellen wir] als einen Prozess des Niedergangs dar …: Erwachsene haben resigniert, sie haben ihre Träume aufgegeben, sie erleben keine Abenteuer mehr, kurz: Sie sind todlangweilig – und da steckt ja auch schon das Wort Tod drin.”

“Indem man das Erwachsensein so grau und öde aussehen lässt, dass niemand da mitmachen will, der Elan und Lebendigkeit in sich hat, überzeugen wir die Leute davon, infantilisiert zu bleiben.”

“Das Problem ist, dass die Gesellschaft eigentlich keine Erwachsenen will. Erwachsene sind schwierig, sie denken für sich selbst.”

“Die Gesellschaft produziert Bedürfnisse, um uns von Strukturen abhängig zu machen, die unsere Freiheit unterminieren.”

“Je hebt als kind geen andere keuze dan alles te geloven. De adolescentie breekt aan als je ontdekt dat de wereld niet zo is als ze zou moeten zijn. Je wordt boos en verontwaardigd, denkt alles te kunnen ontmaskeren. Als volwassene vind je ten slotte een balans in beide houdingen.”

“Opgroeien betekent dat je leert leven met onzekerheden, maar dat je desondanks niet stopt met het streven naar zekerheden. Veel mensen blijven steken in het moeras van de adolescentie. Sluit de wereld niet aan bij hun idealen? Jammer dan voor die idealen.”

“Wer nicht auf irgendeine Weise das Gefühl hat, die Welt mitzugestalten, kann nicht erwachsen werden. Er wird sich immer unmündig fühlen.”

“Was es heute unter anderem schwierig macht, erwachsen zu werden, ist das Internet. … Erstens entfremdet uns die permanente Aufforderung zur Selbstdarstellung in den sozialen Medien vom eigenen Selbst. Statt um eine gesunde Selbstliebe geht es darum, sich zu verkaufen. Man muss sich permanent durch die Augen der anderen betrachten. … Es ist sehr schwer, sich dem Druck zu entziehen.

“Wir müssen Selbstliebe lernen, die nicht von den Augen anderer abhängt. Wer nicht weiss, wer er ist, kann auch nicht selbständig denken.”

“Das zweite Problem mit dem Internet sind die Möglichkeiten der Zerstreuung …”

aus: Wir Berufsjugendlichen. Susan Neiman interviewt durch Ulrike Frenkel, Stuttgarter Zeitung, 7.3.15 [im Scan auf der Webseite der Interviewten],
und aus: Muss Erwachsenwerden wehtun? (Eva Illouz und) Susan Neiman interviewt durch Caspar Shaller und Lars Weisbrod, Zeit 3.9.15, Zeit-Online 17.9.15 [bei Zeit-Online]
und aus: Wer will denn nochmal 18 sein! Susan Neiman imInterview mit Regula Freuler, Neue Züricher Zeitung, 24.2.15 [bei NZZ online]
und aus: De vijf beste volgens Susan Neiman. Befragt durch Toske Andreoli, De Groene Amsterdammer, 01.12.14 [online]
und aus: Je jeugd is zeker niet de beste tijd van je leven. Susan Neiman interviewt durch Mischa Cohen, Vrij Nederland, 20.11.14 [online]
hier von mir um- und zusammengestellt …

Abb.: Arman Jamparing: Grow Up, 2013, indoartnow, im Internet.

09/15

21/09/2015 (0:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ablasshandel

“Das gute Gewissen ist … käuflich geworden. Mit Produkten aus einem Bio-Supermarkt oder Eine-Welt-Laden kann man … eine Portion davon erwerben. … Je größer die Preisdifferenz zu Produkten ohne Gewissensfaktor ist, desto größer ist das Potential dafür, zum guten Menschen zu werden. … Für … [die Ärmeren] bleibt das gute Gewissen ein knappes Gut, womit sie einmal mehr in ein gesellschaftliches Abseits zu geraten drohen, während andere immer mehr Gewissenswohlstand anhäufen können. Letztere sind also in einer ähnlichen Position wie im Mittelalter die Käufer von Ablassbriefen. … Man … will sich als guten Menschen erfahren und … ein wenig Seelenheil für sich verbuchen …

… warum ist das gute Gewissen überhaupt ein so begehrtes Gut und konnte zu einem zentralen Gegenstand der Werbung werden? Das setzt voraus, dass heutzutage viele Menschen … von schlechtem Gewissen geplagt sind. … Sie treibt das Gefühl um, so viel Komfort, Freiheit und Abwechslung … könnten nicht wirklich verdient sein. …

Studien belegen, dass Menschen, sobald sie Bio-Produkte oder Artikel, auf denen Moral-Vokabeln zu lesen sind, auch nur sehen, rigider und intoleranter in ihren Urteilen werden. Offenbar fühlen sie sich dann zu mehr Härte, aber ebenso zu größerer sozialer Gleichgültigkeit berechtigt, verheißt ihnen ihr Produktumfeld doch, selbst auf der richtigen Seite zu stehen. Entsprechend trifft man bei Gewissenskonsumenten immer wieder auf Spitzen und abschätzige Bemerkungen gegenüber den Menschen aus einfacheren Milieus. Deren Lebensstil wird mit Viel-Fernsehen, Computerspielen und Dickwerden assoziiert und … diskreditiert. …

Solange … [die gewissensstolzen Konsumbürger] zur Verschärfung sozialer Differenzen beitragen, … produzieren … [sie] mit ihrer Fixierung auf das gute Gewissen … Gegenbewegungen. … Konsumproletarier werden … die um sich greifenden Rauchverbote genauso als gegen sich gerichtet interpretieren wie Überlegungen, die Höhe der Krankenkassenbeiträge von Ernährungsgewohnheiten abhängig zu machen. Und sie werden sich für die Marken interessieren, die von Gewissensbürgern zu Symbolen des Bösen gebrandmarkt wurden. …

Doch auch bei den Gewissenskonsumenten selbst sind Rebound-Effekte wahrscheinlich. Gerade weil es so leicht ist, viel gutes Gewissen zu erwerben, kann der Eindruck entstehen, zwischendurch sei ein wenig Sünde erlaubt. … Auf diese Weise etabliert sich bei Konsumenten ein Schuld-Sühne-System, bei dem schlechtes Konsumverhalten durch gutes heilbar erscheint, eine verantwortungsvolle Kaufentscheidung aber auch als Lizenz für eine leichtfertige fungiert oder sogar Lust darauf macht.”

aus: Wolfgang Ullrich: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung. Berlin: Wagenbach 2013, S.127-157.

Abb.: Eko Nugroho: Ancient Mentality, artjog 11/2018, oumagz, im Internet.

09/15

14/09/2015 (1:30) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Energie

“Mittlerweile … ist von Energie und Power auch bei Haargel und Deos, manchmal sogar bei Fahrradhelmen und Skiern die Rede, also bei Produkttypen, die nicht direkt auf den Stoffwechsel einwirken. … Alles, was dem Konsumenten mehr Selbstvertrauen geben kann oder ein Ungenügen behebt, wird als aufbauend empfunden und lässt sich zum Energieschub verklären. Dabei … reduziert … [die Energie-Metaphorik] Gefühle des Unwohlseins auf Treibstoffmängel, so als ob sei ein Organismus eine Maschine, die nur mit den richtigen Substanzen versorgt werden muss, um tadellos zu funktionieren. Der Mensch wird zum Akku, den man aufladen kann. …

… ähnliche Symptome des Unwohlseins [wurden] um die Wende zum 20. Jahrhundert noch anders interpretiert. Damals deutete man Konzentrationsschwäche, Unruhe, Lethargie oder Dauermüdigkeit als Beleg dafür, dass der Körper für die moderne Arbeits– und Technikwelt generell nicht geschaffen sei …

Die antimodernistische Diagnose einer Maßlosigkeit blieb … über mehr als ein Jahrhundert hinweg unverändert, doch wurde sie einmal so interpretiert, dass das Individuum zu viel aufnehmen muss, das andere Mal hingegen damit erklärt, dass es zu viel geben muss. …

So kann man beim französischen Soziologen und Psychologen Alain Ehrenberg, dessen 1998 erschienenes Buch Das erschöpfte Selbst mittlerweile als maßgebliche Analyse von Burnout-Syndrom und Depression gilt, nachlesen, der darunter Leidende ‘hat keine Energie …’ … Doch woraus die nötige Energie bestehen soll, ob und wie sie messbar ist, ja, wie man auf sie Einfluss nehmen kann, blendet Ehrenberg aus. …

Wer Ehrenberg liest, wird sich danach genauso von Energiearmut bedroht sehen wie jemand, der von einem Werbetexter eingeredet bekommt, endlich mehr für seinen Energiehaushalt tun zu müssen. …”

aus: Wolfgang Ullrich: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung. Berlin: Wagenbach 2013, S.111-114.

Abb.: Luc Schuiten, in: ders.: Vers une cité végétale, Wavre: Mardaga 2010, S.31.

09/15

14/09/2015 (0:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Mysterium

“Religion ist zunächst einmal eine sinnliche Erfahrung, nicht eine des Verstandes. Als Kinder erleben wir den Glauben in Sprache, Musik, Bildern und – denken Sie an den Weihrauch! – in Gerüchen. Vielleicht auch in der Zärtlichkeit, mit der die Mutter, der Vater am Bett mit uns das Nachtgebet gesprochen hat. Die Kulturleistung des Glaubens, die Vermittlung der Religion, funktioniert über die Sinne. …

Der Islam ist eine Religion des Ohres, weil Gott im Koran Sprache geworden ist, Klang. Aber Jesus Christus ist auf Erden erschienen, Gott ist im Christentum ein Mensch geworden, der nachgebildet und nachgeahmt wird. Auch im Islam gibt es Visuelles … aber doch tendenziell stets in der Abstraktion. …

Im Christentum ist dagegen das gegenständliche Bild so zentral, wie man das weder für den Islam noch für das Judentum sagen könnte. … Die Skulptur einer hilflosen, ratlosen, hemmungslos weinenden Mutter, die ihren erwachsenen, abgemagerten Sohn in den Armen hält, das verstehen wir auf einer unmittelbaren Ebene, selbst wenn wir gar nicht wüssten, dass es Maria und Jesus sind. Alles wirkt über die unmittelbar sinnliche Erfahrung. …

Vielleicht reagiere ich auf Bilder auch stärker, weil sie meiner Herkunft fremd waren: Ich bin nicht nur im Islam bilderlos aufgewachsen, sondern auch in meiner christlichen Umgebung, im damals noch sehr protestantischen Siegen. Dort ging es eher unsinnlich zu, Religion wurde mehr als eine ethische Botschaft verstanden. Hier im katholischen Köln erlebe ich das natürlich anders. …

Dieses protestantische Christentum, das ich auf einem Forum des Kirchentages höre oder das mir in der evangelischen Beilage der Zeitung begegnet, mag ja sympathisch sein, aber es lässt mich kalt. Es kommt mir oft wie eine Doppelung dessen vor, was uns der gesunde Menschenverstand ohnehin sagt. … Heute muss ich in die Philharmonie gehen, um religiös berückt zu werden.

Die Missachtung und Geringschätzung der Form finden Sie zwar auch in der katholischen Kirche, das finden Sie – und wie! – auch bei den Muslimen, die im 20. Jahrhundert eine Art Protestantisierung durchgemacht haben. Aber ich erinnere mich noch an die Faszination eines protestantischen Gottesdienstes mit der Lutherbibel, mit den Liedern, die auswendig gesungen und noch auf dem Nachhauseweg gesummt wurden. Gerade der Protestantismus, der mir heute oft so unsinnlich vorkommt, hätte sich ohne die poetische Kraft der Lutherbibel niemals ausgebreitet. …

Der Protestantismus hat vor allem versucht, Religion verstehbar zu machen: Dass jeder die Bibel versteht, war ein Leitgedanke, der auch absolut plausibel ist und eine notwendige Reaktion auf eine verknöcherte Orthodoxie war. Aber in der Bewegung, die der Protestantismus in Gang gesetzt hat, hat Religion zunehmend ihr Mysterium eingebüßt. … Das Geheimnis, das über uns steht, aber unser Schicksal bestimmt – das ist im Laufe des 20. Jahrhunderts sehr redlich ausgemerzt worden. … Je mächtiger der Mensch … wurde, desto geringer erschien ihm das Mysterium. Wir spüren nicht mehr im Alltag wie der Mensch vor tausend Jahren, dass es Dinge gibt, die außerhalb von uns sind, auf die wir keinen Einfluß haben. Und doch gibt es sie …”

aus: Navid Kermani: “Religion ist eine sinnliche Erfahrung”, Interviewt durch Alexander Cammann, Die Zeit, 20.08.15, S.37/38.

Abb.: Andrea Zrenner: Verwandlung, 2020, im Internet.

08/15

23/08/2015 (17:53) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Underground

“Während einer Party in einem kleinen Haus in einem Vorort von Philadelphia stellte mich eine Gruppe junger Amerikaner zur Rede und fragte, welche amerikanischen Schriftsteller ich kenne, welche Bücher, welche Zeitschriften ich lese, und als ich Auskunft gab, lachten sie mich aus und nannten alle diese Autoren – zum Beispiel Norman Mailer, oder Zeitungen wie die ‘New York Times’, ‘mainstream’, das heißt offizielle Strömung, Hauptströmung. Sie selber bekannten sich zu einer unabhängigen Strömung, zum Underground, ‘underground’. In der hiesigen Sprache bedeutet das, daß man in Zeitschriften mit niedriger Auflage (zum Beispiel 500 Exemplare) gedruckt wird, von denen es hier Hunderte gibt. Diese Zeitschriften werden nur von wenigen Menschen gelesen, sie werden vom Fernsehen, Radio und der großen Presse, also eben vom ‘mainstream’, ignoriert. Auf dieses Verschweigen durch die offiziellen Massenmedien antwortet die unabhängige Strömung mit Verachtung und Opposition. Wie das meistens in solchen Situationen der Fall ist, sind beide Seiten mit ihrer Haltung zufrieden und betrachten sie als die einzig Richtige.”

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Philadelphia 1988. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.218/219.

08/15

23/08/2015 (16:53) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Konsum 1

“Der Kölner Dom: ergreifend. … Das Innere: völlig leer … Es kommt fast niemand hierher. Manchmal betritt eine Gruppe den Dom, um einen Blick auf den Altar zu werfen, auf die Figuren, auf die Glasfenster. …

Auf dem Platz vor dem Dom: Vier Personen stehen bewegungslos mit dem Rücken zueinander und halten einander an den Händen. Sie sehen aus wie ein Denkmal, wie ein Denkmal-Happening, wie ein Block, der plötzlich erstarrte. Auf der Brust tragen sie Tafeln mit Aufschriften. Sie protestieren gegen etwas, kämpfen für eine Sache. …

Hundert Meter weiter beginnt der Wahnsinn, eine farbenfrohe Zeremonie, das große Mysterium! Die Hohestraße, die größte Einkaufsstraße der Stadt. … Wir tauchen ein in die Menge. Denn durch die Hohestraße strömen Massen, unzählbar, unüberschaubar, ameisengleich. Wälzt sich eine Prozession – ein Strom. … Diese Prozession dringt nie vor bis zum Dom, obwohl der Dom gleich nebenan steht. Doch diese Prozession findet zu Ehren anderer Götter statt, deren weitläufiger und reicher Pantheon von Neonlichtern, Scheinwerfern, Spiegeln, Messing und Nickel blitzt und glänzt. Seine Tempel erstrecken sich über eine ganze Straßenfront. … [Hier] … finden wir … Drängen, Fieber, eine innere Erregung der Menschen, die sich voll und ganz dem Einkaufskult hingeben, an nichts anderes denken können …

Erst hier kann man sagen, was die Menschen zur wirkungsvollen Arbeit antreibt, zur Anstrengung, zur Teilnahme an dem Wettlauf, mehr, besser, effektiver zu arbeiten: der Anblick der Waren. …

Die Menschen verabreden sich: Gehen wir zusammen einkaufen – das hat etwas vom Klima eines östlichen Marktes an sich, eines persischen oder arabischen Suks, also von Orten, die gleichzeitig Tempel des Warenangebotes und Tempel der Kultur sind. Das Erlangen der Ware wird hier nicht zum Ziel an sich und findet nicht in einer Atmosphäre des Kampfes, des Konflikts und der Aggression statt, sondern, im Gegenteil – es geht hier um Kontakte, um das Einandernäherkommen, um die Gemeinsamkeit. …

Der Kult der samstäglichen Einkäufe dauert ein paar Stunden. Nachmittags leert sich die Hohestraße. Die Prozession verschwindet. Die Verkäuferinnen schließen die Warenhäuser, die Besitzer machen ihre Läden dicht. … Köln hört auf zu existieren. … Es ist der Markt, der die Stadt ausmacht.”

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Köln 1984. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.96-100.

Abb.: Klaus Staeck: Am Anfang war das Geld, 1973, Edition Staeck, im Internet.

08/15

23/08/2015 (14:51) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

hintersichlassen

“Meine alten Bekannten verlassen mich auf zwei Arten: die einen verschwinden auf dem Friedhof, für immer, die anderen bleiben am Leben, doch ich verliere den geistigen Kontakt zu ihnen. Manche erwecken den Eindruck, sie seien nicht älter geworden, hätten keine Erfahrungen gesammelt. Sie sprechen noch dieselbe Sprache wie vor 20-30 Jahren und denken in denselben starren Bahnen. Ich weiß nicht, was ich ihnen antworten soll. Das Bewußtsein dieser Menschen erinnert mich an das Objektiv eines Fotoapparates, in dem nur einmal die Blende geöffnet wurde. Der Film notiert ein gewisses Bild der Welt, dann schließt sich die Blende, und so bleibt es.”

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Warschau 1984. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.93.

Abb.: Mounir Fatmi: Already Dead 1, 2021, im Internet.

08/15

23/08/2015 (13:55) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Denken 2

“Wer … meint, er denke unabhängig, weil er die von den Massenmedien dargestellten Inhalte kritisch betrachtet, der irrt. Selbstständiges Denken ist die Kunst, selber über Themen nachzudenken, die man aus eigenem Antrieb, aufgrund eigener Beobachtung und Erfahrung, ausgewählt hat, unter Mißachtung der Themen, die uns die Massenmedien aufzuzwingen versuchen.”

aus: Ryszard Kapuscinski: Aus Warschau 1982. In: ders.: Lapidarium. Frankfurt/Main: Eichborn 1992, S.55.

Abb.: Foto Universiteit Gent, 11.24.

08/15

23/08/2015 (12:22) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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