MALTE WOYDT

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Völkerrecht

“… Regimewechsel aus Nachbarländern heraus sind inzwischen afrikanische Normalität. Aus Tansania heraus operierte schon in den 70er-Jahren die Befreiungsbewegung Mosambiks, aus Mosambik heraus die Simbabwes. Der heutige Herrscher des Tschad startete seine gewaltsame Machtergreifung im Sudan, der neue Putschist in der Zentralafrikanischen Republik im Tschad. Aus Ruanda und Uganda heraus wurde Zaires Diktator Mobutu gestürzt, in der heutigen Demokratischen Republik Kongo tummeln sich fremde Armeen. In Liberia, Sierra Leone, Guinea, Elfenbeinküste und Burkina Faso bestimmt eine Wechselwirkung von grenzüberschreitenden Rebellionen und Militärinterventionen die Politik.

All das geschieht jenseits des Völkerrechts oder überhaupt irgendeiner Form von Legalität. Und es ist den Völkerrechtswächtern der Welt größtenteils egal. Die UNO gibt manchmal Mandate, wenn ein Eingreifer sich Friedenstruppe nennt, meistens aber nicht. Genozid an hunderttausenden in Ruanda oder ein blutiger Staatszerfall im Kongo stören die internationale Diplomatie weniger als die Möglichkeit, dass die US-Armee Saddam Hussein entmachtet.

… Aus afrikanischer Sicht ist der Streit, wie viele UN-Resolutionen für einen Krieg gegen den Irak nötig sind, ähnlich absurd wie der mittelalterliche Theologendisput, wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen. In Afrikas Konfliktgebieten sind sämtliche Grundsätze des Völkerrechts, des regulären Umgangs zwischen souveränen Staaten, schon lange über den Haufen geschmissen worden. Aber erst eine US-Militäraktion gegen den Irak bereitet den Diplomaten in New York schlaflose Nächte und treibt die Schüler Deutschlands auf die Straße.

Institutionen und Rechtssysteme, die für sich selbst Universalität beanspruchen, können nicht glaubwürdig bleiben, wenn sie Vorgänge in einem Teil der Welt komplett aus ihrer Selbstreflexion ausblenden. Die Universalisten, die vom Weltrechtsprinzip träumen, sollten zumindest die Welt in ihrer Gesamtheit ernst nehmen. Oder sie müssen die Konsequenz ziehen und anerkennen, dass die angeblich universalen Grundsätze des Völkerrechts nie universal gewesen sind. Dann aber ist die Frage, was an einem per Krieg herbeigeführten Regimewechsel im Irak falsch ist, nicht mehr unter Hinweis auf abstrakte Rechtsgrundsätze zu beantworten. Es muss stattdessen eine Güterabwägung erfolgen: Wem nützen der Krieg und der Regimewechsel, und wem nützt seine Verhinderung?

Hier kann die Welt von Afrika lernen. Es sind die Diktatoren Afrikas, die bis heute verzweifelt am Prinzip der Nichteinmischung, der Unverletzlichkeit der Grenzen festhalten, während Demokraten von jeher das Recht auf Einmischung fordern. Ohne dieses wären die Entkolonisierung und die Idee einer panafrikanischen Bewegung zur Befreiung des Kontinents undenkbar gewesen. Die UNO griff in Afrika nie ein, um Kolonialregime zu stürzen oder Kolonialkriege wie in Algerien zu beenden, sondern erst gegen Afrikas einflussreichsten Entkolonisierer Patrice Lumumba im Kongo.

Die heute oft zu hörende Aussage, es gebe keinen gerechten Krieg, ist eine Verhöhnung der Opfer des 20. Jahrhunderts, die auf Kriege angewiesen waren, um Unrecht ein Ende zu setzen – in Nazideutschland und den von ihm besetzten Ländern, in allen Kolonialgebieten der Welt, in den Reichen Idi Amins, Pol Pots und eben Saddam Husseins.”

aus: Dominic Johnson: Das Völkerrecht gilt nicht. In: Taz. 25.3.2003, im Internet.

Abb.: Elisabetta Benassi: Ships and still more ships, 2017, im Internet. Thematisiert die Gründung von Liberia.

03/03

09/10/2007 (9:52) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Verteidigungsbereitschaft

“Laßt üs abermal betta
Für üsra Stadt und Flecka,
Für üsre Küh und Geißa,
Für üsre Wittwa und Waisa,
Für üsre Roß und Rinder,
Für üsre Weib und Kinder,
Für üsre Henna und Hahna,
Für üsre Kessel und Pfanna,
Für üsre Gäns und Enta,
Für üsre Oberst und Regenta,
An insonderheit für üsre liebi Schwitz;
Wenn der blutig Krieg wett ko,
Wett alls nä, so wetten wir üs treuli wehra
Und ihn niena dura loh,
Au den Find gar z’Tod schloh
Und dann singa:
‘Eia Viktoria! der Find ischt ko, hett alles gno,
Hett Fenster igschlaga, hetts Blie drus graba,
Hett Kugla drus goßa und d’Baura erschossa;
Eia Viktoria! nu ischt’s us, geht wiedri na Hus.'”

Schweizerisch Kriegsgebet, aus: Des Knaben Wunderhorn, altdeutsche Lieder, gesammelt von L. Achim von Arnim und Clemens Bretano, 3.Teil, München: dtv, 1963, S.92.

09/10/2007 (9:51) Schlagworte: CH,DE,Lesebuch ::

Vergeltung

“Vergessen wir für einen Moment die nicht-deutschen Kriegsopfer, die Polen, Juden, Russen, Zigeuner usw. Dies waren ‘Untermenschen’, deren Schicksal den deutschen Kleinbürger nicht um den ruhigen Schlaf bringen muß. Aber er könnte sich wenigstens darüber aufregen, was die Nazis ihm und seinem Nächsten angetan haben. In den Jahren 1937 bis 1944 wurden vom Volksgerichtshof über fünftausend Todesurteile verhängt. Welche ‘Verbrechen’ zur Anklage, Urteil und Justizmord führten, ist inzwischen bekannt. Die zahlreichen Sondergerichte, die bereits 1933 eingerichtet worden waren, und die aufgrund der Reichtagsbrandverordnung und des Heimtückegesetzes urteilten, verhängten ebenfalls einige tausend Todesurteile. … Zwanzig- bis dreißigtausend Deutsche sind … dem legalen Terror … zum Opfer gefallen, die in den KZs ermordeten Politischen und Homosexuellen und die Euthanasie-Opfer nicht mitgezählt. …

Was ich nicht verstehe: zigtausend Ermordete haben Väter, Mütter, Söhne, Töchter, Frauen und Männer gehabt, die unmöglich auf Seiten des mordenden Regimes gestanden haben können. Einige zehntausend Menschen müssen ein ehrenwertes Motiv gehabt haben, es dem Richter oder dem Staatsanwalt oder dem Blockwart, der ein Denunziant gewesen war, für den Tod des Nächsten heimzuzahlen. Und die Schuldigen waren ja nicht vom Erdboden verschwunden. … Sie haben sich nicht verstecken müssen, so sicher waren sie, daß ihnen niemand etwas antun würde. Warum? Diese Frage ist bis heute in Deutschland nicht beantwortet worden.”

aus: Henryk M. Broder: Das richtige Stück für das falsche Publikum. In: Joshua Sobol: Ghetto. Schauspiel in drei Akten. Hg. von Harro Schweizer. Berlin:Quadriga-Verlag Severin 1984: 224-226.

Henryk M. Broder hat eine eigene Homepage mit vielen beißenden Artikeln: www.henryk-broder.de

Abb.: Emil Wachter: Kapitel 1 und 11 des Hebräerbriefes, Fenster der Konviktskirche, Freiburg/Breisgau, 1974/75, Detail.

09/10/2007 (9:51) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Vergangenheit

“Vergangenheit sind die im gegenwärtigen Sein irgendwie aufbewahrten Dinge. … Der Mensch ‘behält’ im eigentlichen Sinn. Darum ist … sein Sein geschichtlich. Das Tier behält auch noch; aber es ‘hat’ nicht Vergangenheit wie der Mensch, also auch nicht Geschichte wie der Mensch, sondern nur in einem niederen Grade. In der Pflanze ist die Vergangenheit objektiv noch zu sehen, ist aber nicht mehr subjektiv behalten. Die reine Materie ist an sich ohne Vergangenheit, es macht für die Lage und für das innere Wesen eines Steines nichts aus, was vorher mit ihm geschehen ist. Sein jetziger Zustand kann ohne Bezug auf Vergangenheit erkannt werden. … Die Zukunft ist die erwartete Realität der kommenden Wirklichkeiten. Sie hat also für die einzelnen Seinsstufen denselben analogen Charakter wie die Vergangenheit. Nur wer wesentlich Vergangenheit hat, und insoweit er sie hat, hat auch Zukunft.” S.152/53

aus: August Brunner: Die Grundfragen der Philosophie. Ein systematischer Aufbau. Freiburg im Breisgau: Herder 1933, S.152/153

09/10/2007 (9:50) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Vereine

“‘… Kommt der Alte frühmorgens um elf mit hochrotem Kopf in die Registratur gepoltert und brüllt: ‘Warum legen Sie die Korrespondenz mit Vohwinkel unter F – machen Sie doch die Augen auf!’ – dann klebt er noch emsiger Papier an Papier und beugt den Kopf. Aber in ihm jubiliert eine innere göttliche Stimme: ‘Du Ochse – du kannst ja nicht einmal eine Ganzsache von einer einfachen Marke unterscheiden! Ignorant! Tropf! Laie! Komm mal in meinen Verein – da wärst du so klein…’ – ‘Sagten Sie was?’ ruft der Chef herüber. ‘Ich? nein, Herr Edler! Ich dachte nur…’

So hat der moderne Mensch, Preis ihm!, das fahrbare Paradies erfunden – eines, das man immer bei sich führen kann. Es verleiht inneren Halt und ein bißchen äußern auch. Es stärkt. Es ermutigt. Es reckt grade. Es ist ein inneres Gegengewicht gegen die Tücken des Alltags. …

Der Referendar ist gar kein Referendar, sondern ein bekannter Theosoph; der Bürovorstehener tut nur so, glaubt ihm nicht! – er hält den Rekord im Stabspringen; der Briefträger ist ein Radiofachmann; der Hotelportier Langstreckenschwimmer; der Rechtsanwaltsschreiber Motorradsportler. So ist jeder Mensch zweifach vorhanden…”

aus: Kurt Tucholski, Zwei Welten. In: ders.: Republik wider Willen. Gesammelte Werke. Ergänzungsband 2.

01/04

09/10/2007 (9:50) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Urlaub

“Im Grunde hatte es eine merkwürdige Bewandtnis mit diesem Sicheinleben am fremden Orte, dieser – sei es auch mühseligen – Anpassung und Umgewöhnung, welcher man sich beinahe um ihrer selbst willen und in der bestimmten Absicht unterzieht, sie kaum, daß sie vollendet ist oder doch bald danach, wieder aufzugeben und zum vorigen Zustande zurückzukehren.

Man schaltet dergleichen als Unterbrechung und Zwischenspiel in den Hauptzusammenhang des Lebens ein, und zwar zum Zweck der ‘Erholung’, das heißt: der erneuernden, umwälzenden Übung des Organismus, welcher Gefahr lief und schon im Begriffe war, im ungegliederten Einerlei der Lebensführung sich so zu verwöhnen, zu erschlaffen und abzustumpfen.

Worauf beruht dann aber diese Erschlaffung und Abstumpfung bei zu langer nicht aufgehobener Regel? Es ist nicht so sehr körperlich-geistige Ermüdung und Abnutzung durch die Anforderungen des Lebens, worauf die beruht (denn für diese wäre ja einfache Ruhe das wiederherstellende Heilmittel); es ist vielmehr etwas Seelisches, es ist das Erlebnis der Zeit, – welches, bei ununterbrochenem Gleichmaß abhanden zu kommen droht und mit dem Lebensgefühle selbst so nahe verwandt und verbunden ist, daß das eine nicht geschwächt werden kann, ohne daß auch das andere eine kümmerliche Beeinträchtigung erführe.

Über das Wesen der Langeweile sind vielfach irrige Vorstellungen verbreitet. Man glaubt im Ganzen, daß Interessantheit und Neuheit des Gehaltes die Zeit ‘vertreibe’, das heißt: verkürze, während Monotonie und Leere ihren Gang beschwere und hemme. Das ist nicht unbedingt zutreffend. Leere und Monotonie mögen zwar den Augenblick und die Stunde dehnen und ‘langweilig’ machen, aber die großen und größten Zeitmassen verkürzen und verflüchtigen sie sogar bis zur Nichtigkeit. Umgekehrt ist ein reicher und interessanter Gehalt wohl imstande, die Stunde und selbst noch den Tag zu verkürzen und zu beschwingen, ins Große gerechnet jedoch verleiht er dem Zeitgange Breite, Gewicht und Solidität, so daß ereignisreiche Jahre viel langsamer vergehen als jene armen, leeren, leichten, die der Wind vor sich her bläst und die verfliegen.

Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen; wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein. Gewöhnung ist ein Einschlafen oder doch ein Mattwerden des Zeitsinns, und wenn die Jugendjahre langsam erlebt werden, das spätere Leben aber immer hurtiger abläuft und hineilt, so muß das auf Gewöhnung beruhen.

Wir wissen wohl, daß die Einschaltung von Um- und Neugewöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unseren Zeitsinn aufzufrischen, eine Verjüngung, Verstärkung, Verlangsamung unseres Zeiterlebnisses und damit die Erneuerung unseres Lebensgefühls überhaupt zu erzielen. Das ist der Zweck des Orts- und Luftwechsels, der Badereise, die Erholsamkeit der Abwechslung und der Episode.

Die ersten Tage an einem neuen Aufenthalt haben jugendlichen, das heißt starken und breiten Gang, – es sind etwa sechs bis acht. Dann, in dem Maße, wie man ‘sich einlebt’, macht sich allmähliche Verkürzung bemerkbar: wer am Leben hängt, oder besser gesagt, sich ans Leben hängen möchte, mag mit Grauen gewahren, wie die Tage wieder leicht zu werden und zu huschen beginnen; und die letzte Woche, etwa von vieren, hat unheimliche Rapidität und Flüchtigkeit.

Freilich wirkt die Erfrischung des Zeitsinnes dann über die Einschaltung hinaus, macht sich, wenn man zur Regel zurückgekehrt ist, aufs neue geltend: die ersten Tage zu Hause werden ebenfalls, nach der Abwechslung, wieder neu, breit und jugendlich erlebt, aber nur einige wenige: denn in der Regel lebt man sich rascher wieder ein als in ihre Aufhebung, und wenn der Zeitsinn durch Alter schon müde ist oder – ein Zeichen von ursprünglicher Lebensschwäche – nie stark entwickelt war, so schläft er sehr rasch wieder ein, und schon nach vierundzwanzig Stunden ist es, als sei man nie weg gewesen und als sei die Reise der Traum einer Nacht.”

aus: Thomas Mann: Der Zauberberg. Dünndruckausgabe Berlin 1926, S.139/140.

Abb.: Maurice Francelio, [Titel mir unbekannt], Musée d’Art Brut, Montpellier.

08/93

09/10/2007 (9:49) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Unwirtlichkeit

“Die hochgradig integrierte alte Stadt hat sich funktionell entmischt. Die Unwirtlichkeit, die sich über diesen neuen Stadtregionen ausbreitet, ist niederdrückend. …

Kann man in … [den Städten], die keine von Bäumen bestandenen Boulevards mehr haben, keine Bänke, die sich zum Ausruhen im faszinierenden Kaleidoskop der Stadt anbieten – kann man in ihnen mit Lust verweilen, zu Hause sein? …

Wer an einem Herbsttag durch Amsterdam oder im Dezember durch Arles oder Venedig wandert, spürt das Unverwechselbare dieser Gebilde. Ob jemand hingegen die Wohnsilos von Ludwigshafen oder Dortmund vor sich hat, weiß er nur, weil er da- oder dorthin gefahren ist. Die gestaltete Stadt kann ‘Heimat‘ werden, die bloß agglomerierte nicht, denn Heimat verlangt Markierungen der Identität eines Ortes. …

Was wir zuließen, war die Egalisierung der deutschen Städte … Die Einebnung so verschiedener Stadtgestalten wie Nürnberg oder Dresden, Hamburg oder München ist leicht zu vollbringen … Nach dem Krieg fand sich keine Bürgerschaft, die sich ihrer Stadt mit einem Blick auf die Zukunft angenommen hätte … der Zerfall des stadtbürgerlichen Charakters war dem der Städte vorausgegangen. … Es ist eine ausgesprochene Denkfaulheit, zu erwarten, die Stadt von morgen werde ganz selbstverständlich ihre zunächst unbeabsichtigte, aber von Generation zu Generation langsam verwirklichte Funktion weiter erfüllen: der Ort der Selbstbefreiung des Menschen zu sein. …

Tausenderlei … Beispiele zeigen den Unsinn der Entmischung der Stadtfunktionen, die trotzdem weiter gefördert wird. Am wenigsten scheint diese Stadtzerstörung dem kritischen Verstand der Städtebewohner zu bekommen. Das ist es: die Stadt dieser Art wird zur Provinz, der citoyen, der Stadtmensch, zum bloßen Bewohner einer wenig rühmenswerten Gegend. … Wäre … das Dorf nicht so stickig, die Provinzstadt nicht so provinziell langweilig gewesen, so hätte dieser Zug in die großen Metropolen nie stattgefunden. Stadtluft hat ja tatsächlich zunächst einmal frei gemacht. …

Wir hatten Anlaß, die Zerstörung unserer Städte zu beklagen – und dann die Formen ihres Wiederaufbaus; wir haben gegenwärtig Anlaß, die Zerstörung der an die Städte grenzenden Landschaften zu beklagen – und haben wenig Hoffnung, daß diese Schäden wieder gutzumachen sind. Nur weil die Gewohnheit abstumpft, wenn Bäume fallen und Baukräne aufwachsen, wenn Gärten asphaltiert werden, ertragen wir das alles so gleichmütig. …

Durchstreift man diese oft reichen Einfamilienweiden, so ist man überwältigt von dem Komfortgreuel, den unsere technischen Mittel hervorzubringen erlauben. …

Das Vorort-Einfamilienhaus … ist der Begriff städtischer Verantwortungslosigkeit: Dem Bauherrn ist gestattet, seine Wunschträume mit seiner Identität zu verwechseln. … [vom] Wüstenrot- und Leonberghaus, … [und der] Bimsblock-Tristesse, die sich um jedes einigermaßen stadtnahe Dorf legt, bis zu den geplanten Slums, die man gemeinhin sozialen Wohnungsbau nennt und die einem in ihrer Monotonie an den Ausfallstraßen der Großstädte die Lektion erteilen, daß alles noch viel schlimmer ist, als man es sich einreden möchte. …

Mit jedem Grundstück, das am Stadtrand parcelliert und zu schwindelhaften Bodenpreisen veräußert wird, schiebt sich der Horizont des Städters, an dem die Landschaft beginnt, weiter hinaus, wird Land der Allgemeinheit irreparabel entzogen. … dem Wachsen der Vorstädte [korrespondiert] die Langeweile …, die Langeweile der Monotonie. Von Kontrasterfahrung der Natur ist der Einfamilienhausbewohner für gewöhnlich so weit entfernt wie das Huhn des Hühnerhofs von der freien Flugbahn. … dies Parcellierung der Natur [wird] nicht das bringen …, was der von idealisierten Hoffnungen geschwellte Erbauer eines solchen Einfamilienhauses sich erträumt hatte. …

Da das historische Gedächtnis so kurz ist, kann man unbesorgt als eine der Grundfesten der freien Gesellschaft ausgeben, daß das Privateigentum auch dort heilig sei, wo es die Lebensform dieser Gesellschaft ernstlich beeinträchtigt. Dabei waren in großen Zeiten städtischen Lebens die stadtbürgerlichen Obligationen eindeutig dem Eigennutzen vorgeordnet gewesen. …

Es ist wenigstens tröstlich zu wissen: die neuen Häuser sind so windig entworfen, so schludrig gebaut, der Aufbau im alten Eigentumszuschnitt hat eine so ideenlose Monotonie entstehen lassen, daß es kein Kulturfrevel sein wird, dies alles besseren Konzepten zuliebe wo nötig abzureißen.”

etwas umsortierte Zitate aus: Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1965, S.9-143

Abb.: Lilly Lulay: Mindscapes nr. 96, 2012, im Internet.

09/10/2007 (9:49) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Trivial Pursuit

“Auf die zwei Zuhörer, die für einen Moment gegeneinanderstehen und danach zu trachten haben, der eine schneller zu antworten als der andere, trifft nun die folgende Frage: ‘Worauf warten Wladimir und Estragon?’ Die Kandidaten zögern lange, der Moderator wiederholt die Frage, aber ganz offenbar lösen die Namen kein Wiedererkennen in denen aus, die gefragt worden sind. Zuletzt jedoch, unsicher, und selber halb fragend, sagt der eine: ‘Godot’. Richtig. Er hat es getroffen, den anderen ausgestochen und bekommt jetzt die nächste Frage vorgesprochen, die ihn diesmal nach einer Automarke suchen läßt. …

Gewitzt allein in der Technik jener Art Fragen, das weniger Bekannte in das Geläufige zu mischen, kürzt er die exotischen Namen, die ihm so hörbar wenig sagen, und behält als Rohform in Händen: ‘Worauf warten…’. Dies in der Normalform ‘warten auf’ verbindet sich ihm selbsttätig mit Godot, reflexhaft, und so weiß der Medienteilnehmer etwas, das er nicht kennt, und kennt etwas, wovon er nichts weiß. …

An dem Titel von Beckets Stück hat sich insofern aber etwas vollzogen, wovon es selber handelt. … Wladimir und Estragon führen eben das trivial pursuit vor, zu dem sich die Welt inzwischen offen bekannt hat und zu dem die beiden noch einmal geworden sind. … Das was den Stücken Beckets das Etikett absurd eingetragen hat, ist nur der genaueste Reflex einer Wirklichkeit, die an Unwahrscheinlichkeit und Phrasenhaftigkeit in ihrer gängigen Realität ein Stück wie den Godot unablässig übertrifft. …

Das Quiz setzt voraus die Verwandlung der Welt in Daten. In ihnen aber, so gut sie zum bloßen Sammeln sich eignen, sammelt sich keine Wirklichkeit. … Jedes Faktum ist als solches gleich wert dem andern. Jedes ist gleich abfragbar. Für die Daten bedarf es keines Gedächtnisses, sondern des Speichers. Kein Zusammenhang von Erfahrung, keiner von Bildung ist Voraussetzung des Quiz, selbst wenn es die Bildungsfragen stellt, sondern die Masse der bits, zu denen die Welt zerlegt ist. … nicht Erfahrung, sondern Informiertheit. Wer auf dem Markt sich behaupten will, bedarf notwendig ihrer und der richtigen Reflexe …

All diese Informationen aus einer Welt sind im Nebeneinander und in sich gleichgültig. … Deswegen [kann Becket die in sich gleichgültigen Bestandteile von Welt in seinen Stücken weglassen].”

aus: Eske Bockelmann: Quiz. In: Nationaltheater Mannheim, Programmheft zu: Samuel Becket: Warten auf Godot, Mannheim 1991..

12/91

09/10/2007 (9:48) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Touristes et anti-touristes

“En accédant au loisir les ouvriers frustraient la classe bourgeoise de ce qui était bien plus encore qu’un privilège: un critère de distinction. … Entre l’élite et la multitude, ce n’était plus les plages de sable fin qui faisaient la différence, c’était la manière de s’y asseoir et de s’y comporter. …

L’autre, l’inférieur, l’amorphe, la règle, dont je suis l’exception, c’est maintenant le touriste. … S’il n’avait pas les touristes, ces lourds animaux grégaires, que saurais-je de ma propre singularité, quel prestige pourrais-je tirer de mes voyages? Pas d’aventurier possible sans imbécile heureux en bermuda à fleurs. …

Mais Monsieur Tout-le-Monde n’existe pas; cette histoire de ‘campeur aliéné’ est un mythe élitaire: si les gens vont à Saint-Tropez retrouver annuellement le chaos, la cohue et l’odeur de friture, c’est qu’ils ont choisi ce dépaysement extrême: la ville moins les murs, une cité horizontale, brouillonne, grouillante, une vie urbaine à nouveau douée d’urbanité. … Le chez-soi estival est un domicile sans cloison, un intérieur précaire et paradoxal puisqu’il sépare à peine le monde intime de l’extériorité. …

Le Robinson écolo fait la leçon au campeur ordinaire, et pourtant … c’est sous couleur de fuir les trépidations urbaines faire oeuvre le locataire modèle, et intérioriser jusqu’au délire l’injonction moderne du chacun-chez-soi. … les maisons contemporaines sont conçues dans la pensée d’éviter toute occasion de rencontre entre foyers contigus. … Les adeptes de la solitude estivale sont tellement bien dressés à la discipline de l’hygiène que la promiscuité pour eux ne peut jamais être un choix. Tel est cependant le cas de ces vacances anti-intimes où réapparaissent des actes, des manières de sentir, toute une pratique oubliée du voisinage.”

aus: Bruckner, Pascal / Finkielkraut, Alain: Au coin de la rue, l’aventure. Paris: Seuil 1979, S.38-41.

Abb.: Edgar Calel: Me venden, Teil einer Serie, 2016, im Internet.

10/04

09/10/2007 (9:48) Schlagworte: FR,Lesebuch ::

Totalitarismen 1

“Gemeinschaft, ein Führer und verklärende Romantik der Sprache einerseits, die Partei, die Hoffnung auf das Paradies auf Erden und die Aura des Religiösen andererseits – das waren die Versuchungen der Unfreiheit im 20. Jahrhundert. Bindung, Führung und Verklärung waren die Merkmale des Faschismus; Bindung, Hoffnung und Verklärung die des Kommunismus. …

Faschismus und Kommunismus sind zwei in mancher Hinsicht durchaus unterschiedliche Versionen totaler Herrschaft. Beide indes haben dies gemeinsam, dass sie nicht dauern können. … Der Nationalsozialismus war von vorneherein eine auf Untergang gestellte Herrschaftsform. Der Krieg war – viele haben das früh erkannt – in das Regime als notwendige Kulmination von Anfang an eingebaut. Da es sich zudem um einen Krieg ohne Ordnungsidee handelte, steckte auch die totale Niederlage schon in seiner Konstruktion. Der unentbehrliche Bezug auf einen einzigen Führer verstärkte noch die selbstmörderische Tendenz des Regimes. …

Im Fall des Kommunismus ist das systemimmanente Scheitern nicht so leicht zu erkennen. Stärker noch als der Faschismus ist der Bolschewismus ein Phänomen der verspäteten Modernisierung, eben “Elektrizität plus Sowjetmacht” in der von Lenin gerne verwendeten Formulierung. Erst unter Stalin nahm der sowjetische Kommunismus wirklich totalitäre Züge an. Auch Stalin brauchte (wie später Mao) innere und oft künstliche Krisen zur Totalisierung seiner Herrschaft. In gewisser Weise brauchte auch er den Krieg. Immerhin waren da Elemente einer Ordnungsidee, selbst wenn diese bei ihrer Übertragung auf die höher entwickelten Osteuropäischen Staaten keine Wurzeln schlug. Das von Stalin beherrschte System überlebte den Tod des Diktators, weil es sich imstande zeigte, totalitäre Mobilisierung bis zu einem gewissen Grade durch autoritäre Herrschaft zu ersetzen oder doch zu ergänzen.

Autoritär – zum Unterschied von totalitär – ist ein Regime, in dem eine wohlorganisierte politische Führungsgruppe ihre Herrschaft auf das Schweigen der Mehrheit gründet. Die … nomenklatura … braucht die ständige Mobilisierung aller nicht, solange die Vielen stillhalten … Tun sie das allerdings nicht, dann werden sie verfolgt, zum Schweigen gebracht …”

“Fundamentalistische Versuchungen finden sich in allen Religionen und in zahlreichen Pseudoreligionen auch.” “Bei alledem handelt es sich um die Suche nach … einer Art von Gemeinschaft, die den Menschen die Qual der Wahl abnimmt. Menschen, die dank der aufklärerischen Geschichte der letzten Jahrhunderte ihre individuelle Identität gefunden haben, wollen diese nun wieder aufgeben. Sie haben Angst vor der Freiheit.” … “Es bliebe … zu zeigen, dass der islamische Fundamentalismus ein alternatives Bild der Zukunft anzubieten hat, das … eine Alternative zur liberalen Ordnung liefert. Solange das nicht geschieht, bleibt das Projekt jihad eine lästige Episode, nicht eine Gefährdung der Freiheit.”

aus: Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. München: Beck 2006, S. 39, 203, 204, 213, 215. Letzter Absatz von mir anders zusammengestellt als im Original.

11/06

09/10/2007 (9:47) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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