MALTE WOYDT

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Achtundsechziger 1

Jaaa, die über Dreißigjährigen. Sind das nicht die, von denen es einmal hieß, man solle ihnen nicht trauen? Natürlich hat Achim Schmollen in Vielem Recht, wenn er sich in der ZEIT (“Wir sind besser als die Alten”, 7.3.1997) über die Achtundsechziger beklagt. Aber ist er denn so anders? Er scheint zumindest eines mit ihnen gemeinsam zu haben: Man selbst gehört immer per definitionem der jüngstmöglichen Generation an.

Aber kurz noch ein Wort zu den Achtundsechzigern: Mir sind sie ja in zweierlei Form begegnet. Zunächst einmal als Lehrer in der Schule. Die hatten es in meiner Popper-dominierten Umgebung in den Achtzigern ziemlich schwer. Weniger, weil sie ihre Ideale unter den Schülern nicht wiederfanden. Vielmehr, weil sie nicht einsehen wollten, daß sie älter geworden waren, und uns inzwischen mit Notengewalt gegenüberstanden. Es ist unheimlich schwer, einem Über-Vierzigjährigen zu erklären, daß er “der Jugend” nicht mehr angehört, mag er nun noch so sehr “Vertrauenslehrer” sein, und soviele coole Sprüche draufhaben, wie er will.

Der zweite Kontakt zu Achtundsechzigern stellt sich unweigerlich ein, wenn man beginnt, sich politisch zu engagieren. Ich nehme ihnen ja nicht übel, daß sie von den alten Zeiten schwärmen wie Kriegsteilnehmer oder Spanienkämpfer vor ihnen. Ich denke, das wird jede Generation tun.

Da ist es schon nerviger, wenn Ältere ständig an uns Jüngeren herummäkeln, uns fehle der richtige Drive. Eine gewisse Zeit habe ich das ja sogar geglaubt. Inzwischen glaube ich eher, die politisch Engagierten waren immer eine kleine Minderheit und werden es auch bleiben. Wenn heute die große Mehrzahl der Studenten Studiengebühren etcetera ruhig hinnimmt, sollte man dabei allerdings nicht vergessen, daß immer noch mehr Leute protestieren, als damals überhaupt zur Uni gehen durften.

Damit wären wir dann auch schon bei dem, was mich am meisten an den “Achtundsechzigern” ärgert. Schließlich haben sie ja erst den massiven Ausbau der Universitäten bewirkt. Das ewige Gejammere über Angepaßtheiten, über den mißlungenen Marsch durch die Institutionen, über die offenbar unendliche Zahl von Niederlagen liegt wie dichter Nebel über der Geschichte. Erst historische Studien helfen einem aus meiner Generation zu verstehen, was “68” bewirkt hat. Die frühen 60er Jahre sind für uns ähnlich weit entfernt wie die Kaiserzeit. Genausowenig, wie wir uns kaisertreuen Hurrahpatriotismus vorstellen können, können wir uns die dumpfe Spießigkeit eines Deutschlands der 50er und 60er Jahre vorstellen.

Mein persönlicher Eindruck von den 68ern ist, daß sie Westdeutschland den Anschluß an den Westen verschafft haben. Dieses Land, daß seine “Kultur” immer als Gegensatz zur westlichen “Zivilisation” verstand, dieses Land hat sich in den siebziger Jahren in unglaublicher Weise modernisiert. “Mitteleuropa” ist für heutige Jugendliche aus Westdeutschland völlig unfaßbar. Wenn überhaupt, dann ist das ein Begriff, den Polen, Tschechen und Ungarn für sich benutzen.

Auch die nachfolgenden “Sozialen Bewegungen” haben dieses Land geprägt. In meiner Abiturklasse mußten sich die angehenden Wehrdienstleistenden rechtfertigen, warum sie diesen Drückebergerjob bei der Bundeswehr machten. Schließlich war allen klar, daß Arbeit mit Behinderten oder Körperpflege bei alten Damen einen mehr mitnehmen als in einer Kaserne Skat zu kloppen. Die einzig akzeptable Begründung war, daß es auf die Weise halt schneller ‘rum sei. Daß das vor der Friedensbewegung anders war, konnte man in den Leitfäden für Kriegsdienstverweigerer nachlesen, die allesamt in den engagierten Siebzigern geschrieben worden waren.

An die Achtundsechziger habe ich somit eigentlich nur eine Bitte: Vergleicht Eure Erfolge nicht immer nur mit Euren Zielen. Die habt Ihr sicherlich nicht erreicht. Vergleicht sie einfach mit den Zuständen, von denen Ihr ausgegangen seid. Dann waren die Erfolge gar nicht so klein, und ihr könnt das Jammern ein für alle Mal lassen. …

Malte Woydt, Replik auf einen ZEIT-Artikel

03/97

09/10/2007 (9:58) Schlagworte: DE,Notizbuch ::

Zuhören

“Was die kleine Momo konnte, wie kein anderer, das war: Zuhören. Das ist doch nichts Besonders, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder.

Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig.

Momo konnte so zuhören, daß dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchtem, von denen er nie geahnt hatte, daß sie in ihm steckten.

Sie konnte so zuhören, daß ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wußten, was sie wollten. Oder das Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder das Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, daß er sich grundsätzlich irrte, daß es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab, und daß er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.

So konnte Momo zuhören!”

aus: Michael Ende: Momo. Stuttgart 1973, S.15-16.

Abb.: Foto von einer Filmpremiere in den USA, 2015, im Internet.

03/92

09/10/2007 (9:58) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Zerstörungssucht

“Von der Zerstörungssucht der Masse ist oft die Rede, es ist das erste an ihr, was ins Auge fällt, und es ist unleugbar, daß sie sich überall findet, in den verschiedensten Ländern und Kulturen. … Am liebsten zerstört die Masse Häuser und Gegenstände

Da es sich oft um Zerbrechliches handelt, wie Scheiben, Spiegel, Töpfe, Bilder, Geschirr, neigt man dazu zu glauben, daß es eben diese Zerbrechlichkeit von Gegenständen sei, die die Masse zur Zerstörung anreizt. Es ist nun gewiß richtig, daß der Lärm der Zerstörung, das Zerbrechen von Geschirr, das Klirren von Scheiben zur Freude daran ein Beträchtliches beiträgt: Es sind die kräftigen Lebenslaute eines neuen Geschöpfes, die Schreie eines Neugeborenen. Daß es so leicht ist, sie hervorzurufen, steigert ihre Beliebtheit, alles schreit mit einem und den anderen mit, und das Klirren ist der Beifall der Dinge. Ein besonderes Bedürfnis nach dieser Art von Lärm scheint zu Beginn der Ereignisse zu bestehen, da man sich noch nicht aus allzu vielen zusammensetzt und wenig oder gar nichts geschehen ist. Der Lärm verheißt die Verstärkung, auf die man hofft, und er ist ein glückliches Omen für die kommenden Taten.

Aber es wäre irrig zu glauben, daß die Leichtigkeit des Zerbrechens das Entscheidende daran ist. Man hat sich an Skulpturen aus hartem Stein herangemacht, und nicht geruht, bis sie verstümmelt und unkenntlich waren. … Die Zerstörung von Bildwerken, die etwas vorstellen, ist die Zerstörung der Hierarchie, die man nicht mehr anerkennt. Man vergreift sich an den allgemein etablierten Distanzen, die für alle sichtbar sind und überall gelten. Ihre Härte war der Ausdruck für ihre Permanenz … nun sind sie gestürzt und in Trümmer geschlagen. …

Die Zerstörung gewöhnlicher Art, von der Anfangs die Rede war, ist nichts als ein Angriff auf alle Grenzen. Scheiben und Türen gehören zu den Häusern, sie sind der empfindlichste Teil ihrer Abgrenzung gegen außen. … In diesen Häusern stecken aber gewöhnlich, so glaubt man, die Menschen, die sich von der Masse auszuschließen suchen, ihre Feinde. Nun ist, was sie abtrennt, zerstört. … Sie können heraus und sich ihr anschließen. Man kann sie holen.

Es ist aber noch mehr daran. Der einzelne Mensch selbst hat das Gefühl, daß er in der Masse die Grenzen seiner Person überschreitet. Er fühlt sich erleichtert, … [er] fühlt … sich frei. … Alles, was Distanzen hält, bedroht ihn und ist ihm unerträglich. …

Die Masse, die Feuer legt, hält sich für unwiderstehlich. … Es ist … das kräftigste Symbol, daß es für die Masse gibt. Nach aller Zerstörung muß es wie sie erlöschen.”

aus: Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt(Main): Fischer 1980 [1960], S.14.-16.

09/10/2007 (9:57) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Zeit

Die “Fähigkeit zu generationenübergreifendem Lernen, zur Weitergabe von Erfahrungen der einen Generation an die nächste in der Form von Wissen, ist die Grundlage für die allmähliche Verbesserung und Erweiterung der menschlichen Orientierungsmittel im Laufe der Jahrhunderte. Was man heute als ‘Zeit’ begreift und erlebt, ist eben dies: ein Orientierungsmittel. Als ein solches mußte der Zeitbegriff durch Erfahrung in einem langen, generationenübergreifenden Lernprozeß entwickelt werden. …

In den hochurbanisierten und -industrialisierten Gesellschaften der Gegenwart wird der Zusammenhang zwischen dem Wechsel der Kalendereinheiten und dem Wechsel der Jahreszeiten, ohne ganz verlorenzugehen, indirekter und lockerer, und in manchen Fällen, wie etwa der Beziehung zwischen Monat und Mondbewegung, ist er mehr oder weniger verschwunden. Menschen leben in viel größerem Ausmaß in einer Welt von Symbolen, die sie selbst geschaffen haben. …

Man sollte hinzufügen, daß die Entwicklung in diese Richtung alles andere als irreversibel ist und durchaus nicht geradlinig verläuft; es gibt darin viele Rückschritte, Umwege und Zickzackbewegungen. …

Das Wort ‘Zeit’, so könnte man sagen, ist ein Symbol für eine Beziehung, die eine Menschengruppe, also eine Gruppe von Lebewesen mit der biologisch gegebenen Fähigkeit zur Erinnerung und zur Synthese, zwischen zwei oder mehreren Geschehensabläufen herstellt, von denen sie einen als Bezugsrahmen oder Maßstab für den oder die anderen standardisiert. …”

aus: Norbert Elias: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Frankfurt (Main): Suhrkamp 1984, S.1-12.

Abb.: Amin Taasha: Melting Through Time, 2018, indoartnow, im Internet.

09/10/2007 (9:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Worte 1

“… Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen.

Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte “Geist”, “Seele” oder “Körper” nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urtheil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.

Es begegnete mir, daß ich meiner vierjährigen Tochter Catarina Pompilia eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hatte, verweisen und sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hinführen wollte, und dabei die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen, daß ich, den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ, die Tür hinter mir zuschlug und mich erst zu Pferde, auf der einsamen Hutweide einen guten Galopp nehmend, wieder einigermaßen herstellte. Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost.

Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urtheile, die leichthin und mit schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, daß ich aufhören mußte, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen. Mit einem unerklärlichen Zorn, den ich nur mit Mühe notdürftig verbarg, erfüllte es mich, dergleichen zu hören wie: diese Sache ist für den oder jenen gut oder schlecht ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern, seine Söhne sind Verschwender; ein anderer ist zu beneiden, weil seine Töchter haushälterisch sind; eine Familie kommt in die Höhe, eine andere ist am Hinabsinken. Dies alles erschien mir so unbeweisbar, so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Brachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und Handlungen.

Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.

Ich machte einen Versuch, mich aus diesem Zustand in die geistige Welt der Alten hinüberzuretten. Platon vermied ich, denn mir graute vor der Gefährlichkeit seines bildlichen Fluges. Am meisten gedachte ich mich an Seneca und Cicero zu halten. An dieser Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe hoffte ich zu gesunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen hinüber. Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben und sehen wie sie zueinander spielten; aber sie hatten es nur miteinander zu tun und das Tiefste, das persönliche meines Denkens blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen.

Es überkam mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war zumuth wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre …”

aus: Hugo von Hofmannsthal: Brief des Lord Chandos (1902), zit. nach https://www.gutenberg.aol.de/hofmanns/prosa/chandos.ph

Abb.: Bandu Darmawan: Pernyataan-Tidak-Tertulis (Unwritten Statement), art-jog-11, 2018, oumagz.com, im Internet.

 

09/10/2007 (9:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Widerstand

“‘Wer hält stand?’ fragte einer, der für seinen Widerstand zu Tode kam. Nicht die ‘Vernünftigen‘, die in ‘bester Absicht und naiver Verkennung der Wirklichkeit das aus den Fugen geratene Gebälk mit etwas Vernunft wieder zusammenbiegen zu können meinen’. Am Ende ‘treten sie resigniert zur Seite oder verfallen haltlos dem Stärkeren’. Auch die Reinheit eines ethischen Prinzips hilft nicht; wer sie vertritt, ‘geht dem Klügeren in die Falle’. Der ‘Mann des Gewissens‘, der sich einsam wehrt, schafft nichts angesichts ‘der Übermacht der Entscheidung fordernden Zwangslagen’. Das Ausmass der Konflikte, in denen er zu wählen hat, zerreisst ihn’. Wer den scheinbar sicheren Weg der Pflicht wählt, ‘wird schließlich auch noch dem Teufel gegenüber seine Pflicht erfüllen müssen’. ‘Wer es aber unternimmt, in eigener Freiheit in der Welt seinen Mann zu stehen, … wird in das Schlimme willigen, um das Schlimmere zu verhüten’, das doch das Bessere sein könnte. Auch die ‘Freistatt einer privaten Tugendhaftigkeit’ führt nicht weiter. ‘Bei allem, was er tut, wird ihn das, was er unterlässt, nicht zur Ruhe kommen lassen.’

‘Wer hält stand? Allein der, dem nicht seine Vernunft, sein Prinzip, sein Gewissen, seine Freiheit, seine Tugend der letzte Massstab ist, sondern der dies alles zu opfern bereit ist, wenn er im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen ist, der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf.'”

aus: Dietrich Bonhöffer, zitiert bei Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. München: Beck 2006, S.127/128.

11/06

09/10/2007 (9:55) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Wessis

“War es in den 50er- und 60er-Jahren die entwurzelte nationale Rechte, die sich verzweifelt dagegen wehrte, nach dem politischen und militärischen Zusammenbruch auch die moralische Niederlage zu akzeptieren, wozu dann auch der Kampf gegen die ‘6-Millionen-Lüge’ gehörte, so ist es heute die obdachlose Linke, der im wahrsten Sinne des Wortes das Haus über dem Kopf zusammengekracht ist, und die nun in den Trümmern nach irgendwelchen vorzeigbaren und wiederverwendbaren Bruchstücken ihrer verlorenen Identität sucht. …

Warum tun sich Teile der linken Intelligenz in der Bundesrepublik so schwer mit dem Abschied von der DDR? …

Für Westler war die DDR eine Art Abenteuerspielplatz. … Man konnte den thrill genießen, weil man ihm nicht wirklich ausgesetzt war. …

Die deutschen Intellektuellen haben schon immer unter einem Mangel an Anerkennung gelitten. … Ganz anders dagegen die Lage der Intellektuellen, vor allem der Schriftsteller, in der alten DDR. Egal ob sie verfolgt oder gefördert, verboten oder veröffentlicht wurden, sie wurden in jedem Fall ernst genommen. … Kein Wunder, daß die West-Poeten neidisch zu den Kollegen im Osten rüberschauten und auf Abhilfe sannen, um den Standortnachteil auszugleichen. Ganz in die DDR zu ziehen, wäre nicht kommod gewesen, statt dessen wurden … joint venture Projekte mit dem Schriftstellerverband der DDR organisiert. … So wurde die deutsch-deutsche Annäherung zum bevorzugten hang out vieler Wichtigtuer, die sich nun optimal selbst verwirklichen konnten. …”

aus: Henryk M. Broder: Mit dem Hintern hier, mit dem Herzen dort oder Was war an der DDR so sexy?, SWF 2, 28.3.92, 20:30 Uhr.

Henryk M. Broder hat eine eigene Homepage mit vielen beißenden Artikeln: www.henryk-broder.de

03/92

09/10/2007 (9:55) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Werbung

(FR)

“Ein Werbefritze ist ein Mistkerl der Scheiße an die Armen verkauft in dem er sie für dumm verkauft und nennt das kreativ sein.”

aus: Jan Bucquoy: Camping Cosmos, zitiert bei Claude Semal: Pour en finir avec. Bruxelles: Luc Pire 1997, S.51, (meine Übersetzung).

05/06

09/10/2007 (9:54) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Publicitaires

(DE)

“Un publicitaire, c’est un salaud qui vend de la merde aux pauvres en les prenant pour des cons et qui appelle ça être créatif.”

aus: Jan Bucquoy: Camping Cosmos, zitiert bei Claude Semal: Pour en finir avec. Bruxelles: Luc Pire 1997, S.51.

05/06

09/10/2007 (9:53) Schlagworte: FR,Lesebuch ::

Wahrheit 1

“Wer die Suche nach Wahrheit zu seiner Lebensaufgabe machen will, geht nicht in die Politik, sondern in die Wissenschaft. Je länger jemand in der Wissenschaft geforscht, nach Wahrheit gesucht hat, desto weniger ist er für die Politik brauchbar. … in der Politik [geht] es nicht um die Wahrheit …, sondern um die richtige Entscheidung. … Ob der Tunnel gebaut werden soll, ist eine Frage der Wertung. … Der Tunnel ist nicht wahr oder unwahr, sondern richtig oder falsch. …”

“Politik ist für Wahrheit nicht zuständig. Was wahr ist, läßt sich nicht beschließen, und schon gar nicht von Politikern … Beschließen läßt sich, was geschehen soll.”

“Das Kennzeichen politischen Redens ist nicht die Lüge, sondern das von Interessen und vom Willen gesteuerte Teilbild der Wirklichkeit. Man könnte es auch Teilwahrheit nennen. …

Wo Interessen im Spiel sind, ist das Gegeneinander unterschiedlicher, von Interessen geleiteter Bilder der Wirklichkeit üblich. … So arbeitet die Demokratie. Sie handelt mit Teilwahrheiten. Und sie darf dies tun, solange die Beteiligten es wissen.

Daß diese Form der Diskussion trotzdem auf Argwohn und den Vorwurf der Lüge stößt, hat mehr als einen Grund. Sicher spielt da die Sehnsucht nach Harmonie mit, nach dem einen, verläßlichen Bild der Wirklichkeit, der verordneten Wahrheit, wie sie Diktaturen anzubieten haben. … Aber es läßt sich nicht bestreiten, daß … jede Teilwahrheit immer in Gefahr ist, zur Lüge zu werden. Das beginnt schon da, wo sie mit einem Pathos der Wahrheit vorgetragen wird, das ihr nicht zukommt. …

Politiker haben das Recht und die Pflicht, ihre Entscheidungen und die Wertungen, die dazu geführt haben, mit ihrem Bild der Wirklichkeit zu begründen. Sie haben auch das Recht, den anderen Aspekt stillschweigend ihren Gegnern zu überlassen. … Aber wenn sie meinen, sie könnten mit entgegengesetzten Wertungen spielen, nach Bedarf immer wieder eine neue Version aus der Schublade ziehen, einmal das Pro, ein andermal das Kontra, dann ist der Vorwurf der Lüge unvermeidlich, auch wenn er im strengen Sinn des Wortes nicht zutrifft. …”

aus: Erhard Eppler: Privatisierung der politischen Moral? Frankfurt(Main): Suhrkamp 2000, S.33-42, etwas umsortiert.

Abb.: Obey Giant: Defend Truth, 2023, im Internet.

01/03

09/10/2007 (9:52) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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